Die Wohnküche der DDR-Bohème: Konspirative Küchen-Bohème
In der DDR traf man sich nicht in Cafés oder Kneipen, sondern in der Wohnküche. Sie war Bühne für Künstler aller Art – und lebt in einem Film nun wieder auf.
Sie geht die Dorfstraße von Ahrenshoop entlang, es ist nun alles bald ein Vierteljahrhundert her, und sie hat sich noch immer nicht daran gewöhnt: dass die meisten Menschen sich im Café treffen oder in der Kneipe statt an ihren Küchentischen.
In der Weltgegend, die sie vor 25 Jahren und noch danach „den Westen“ nannte, war das schon immer so, da ist sich Annekatrin Hendel sicher. Ihr Mann kommt aus München, beide haben bemerkt, dass sie vollkommen anders „sozialisiert worden“ sind, wie der Oberseminarton des Lebens formuliert. Sie hat alle grundlegende Selbst- und Welterfahrung in der Küche erworben, er nicht.
Der Vorteil der Café- und Kneipenvariante liegt auf der Hand: Ich kann gehen, wann ich will; in meiner Küche dagegen muss ich warten, bis meine Gäste selber auf die Idee kommen zu gehen. Und vielleicht kommen sie auch gar nicht darauf.
„Gast“ ist wohl ohnehin das falsche Wort, es schwingt zu viel Distanz darin. Wer an meinem Küchentisch sitzt, mit dem teile ich eine Welt! Woraus für viele DDR-Geborene noch heute die Frage folgt: Wie soll ich einen Menschen wirklich kennenlernen, wenn ich noch nie in seiner Küche war? Und doch haben die meisten irgendwann aufgehört, diesen Raum zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. Liegt es am Alter?
Annekatrin Hendel hat den Dokumentarfilm „Anderson“ gedreht, der am 2. Oktober ins Kino kommt, über den Mann, dessen Namen Wolf Biermann 1991 noch einen dritten eingefügt hat, zwischen Vor- und Nachnamen: Sascha Arschloch Anderson. Seitdem gilt der frühere Spiritus Rector der Prenzlauer-Berg-Szene, der Mitarbeiter der Stasi war, als Prototyp des Verräters.
Wo dieser Film spielen musste, war Annekatrin Hendel gleich klar: in der Küche von Ekkehard Maaß. Schon weil das Leben selbst dort ins Exil ging, nach 1976, nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns.
Maaß, Pfarrhaus-Kind, relegierter Philosophiestudent, Kleindarsteller, Vortragender der Lieder des russischen Melancholikers Bulat Okudschawa, kaufte vor jedem seiner legendären Salon-Abende vier Tüten Spirelli, die er sorgfältig mit Büchsenware, Äpfeln, Knoblauch und Kräutern mischte. Das war der Maaß’sche Nudelsalat. Dazu gab es Rotwein, vorzugsweise „Cabernet“ für sechs Mark, der war den meisten DDR-Bürgern zu sauer, weshalb Maaß ihn fast immer bekam. Er stellte die Flaschen in den Bauch seines Harmoniums. Nur er wusste, wie das aufging.
Es kamen viele in die Schönfließer Straße 21, auch Allen Ginsberg, Tschingis Aitmatow und Bulat Okudschawa. Andere gingen bald in den Westen – die Nachkriegskinder der DDR, die dichten, denken und singen und von ihrem Land nichts mehr wissen wollten, gingen zuerst in die Schönfließer Straße 21.
Da ist nirgends ein freier Platz
Annekatrin Hendel hat zur Zeit ein Künstlerstipendium in Ahrenshoop. Künstler sind primär Eigenweltbewohner, deshalb gibt es in dem schönen Haus an der Dorfstraße Gemeinschaftsküchen, um die freiwillig Isolierten aus ihren Denkgehäusen zu locken. Es ist später Nachmittag, die Filmemacherin kocht grünen Tee, dazu gibt’s Käse und Brot. Aber etwas passt nicht.
Die Küche! Eine Jetztzeiteinbauküche, Grundton grau, streng funktional, kein Detail, das nicht seinen Zweck hätte.
Hier sollst du dich konzentrieren, und zwar aufs Kochen und Essen, hierher passen keine Lesungen, hier wird keine Musik gemacht. Eine moderne Küche ist kein Imaginationsraum. Um den Küchentisch stehen stumm sechs schwarze Stühle, in denen sich nicht flegeln lässt. Undenkbar in der Maaß’schen Küche.
In die kann mit „Anderson“ jetzt jeder schauen. Sie hat sich über mehr als ein Vierteljahrhundert kaum verändert. In der Mitte der große Eichentisch von Maaß’ Urgroßeltern, drumherum Kirchenbänke aus dem Naumburger Dom. An den Wänden hängen Bilder von Cornelia Schleime oder Ralf Kerbach, diesen DDR-Endzeit-Malern, deren Namen damals zu leuchten begannen. Wie ihre Bilder. Vom bürgerlichen Standpunkt aus müsste man sagen: welche Werte! Nicht ohne Irritation sieht man schräg unter ihnen den Herd stehen. Was für Ölfilme mögen sich in den Jahrzehnten auf die Ölfarben gelegt haben!
Neben dem Herd steht ein großes schönes altes Buffet, auf dem 1000 Dinge versammelt sind, nützliche und nicht ganz so nützliche, viele Keramiken von Wilfriede Maaß. Ihre Töpferwerkstatt war gleich nebenan. Wilfriede Maaß wohnt längst nicht mehr hier. Sascha Anderson hatte irgendwann aus Maaß’ Frau seine Frau gemacht und zog mit ein; ein Schisma, welches bald zugemauerte Türen in der Wohnung dokumentierten.
Etwas beunruhigt an der Küche, je länger man sie anschaut. Da ist nirgends ein freier Platz, weder an der Wand noch auf dem Buffet! Hier fehlt die Utopie der Lücke, die Verheißung der Leere.
Annekatrin Hendel war in den 80ern ein paar Mal dort gewesen. Aber es war nicht ihre Welt. Sie wollte weder malen noch dichten, nicht singen und auch nicht töpfern. Es zog sie mehr zum Punk.
Natürlich gab es auch Punk-Wohnküchen in Prenzlauer Berg; in einer, in der Fehrbelliner Straße 7, probte ein Teil der Band, die bald als „Rammstein“ die Welt erschrecken würde. Annekatrin Hendels eigene Wohnküche war mehr eine Näh-Küche mit zwei Waschmaschinen.
Die DDR hatte ihr trotz guter Noten verweigert, das Abitur zu machen, weshalb sie eine Lehre als Theaterschuhmacherin begann. Pascal von Wroblewsky, bald als Jazz-Sängerin bekannt, lernte mit ihr. Die Sache hatte nur einen Fehler: Annekatrin Hendel sah morgens um 5.30 Uhr die erloschenen Gesichter in der S-Bahn, sie wusste, dass sie selbst ebenso aussah, und beschloss, ein anderes Leben zu führen. Irgendwann saß sie, nach einem genießerisch späten Frühstück, in ihrer Küche an der Nähmaschine, unter ihren Händen entstanden höchst eigenwillige Jacken, die ihre Träger nicht entstellten wie die Erzeugnisse der volkseigenen Konfektionsindustrie. Damit verdiente sie an einem Tag mehr als ihre Eltern im ganzen Monat.
"Sie holen deine Küche ab!"
Es war nicht dekoratives Interesse, das Annekatrin Hendel Maaß’ Küche ins Auge fassen ließ für ihr Anderson-Porträt. Sie wusste, wenn sie ihn an dem Ort aussetzen würde, den er seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen hatte, der Suggestivität seiner Bilder und Keramiken, er würde anders reden, viel ungeschützter. Wenn, dann hier.
Andererseits lag es ihr fern, Schicksal zu spielen. Sie wollte Anderson und Maaß nicht vor laufender Kamera an diesem Ort aufeinandertreffen lassen. Was also tun? Eines Tages sprach Annekatrin Hendel zu Ekkehard Maaß, ungefähr so:
„Ekkehard, da kommen übermorgen ein paar Leute, die nehmen deine Küche mit!“
„Was machen die?“
„Sie holen deine Küche ab!“
Und dann nahmen fremde Männer die Bilder von der Wand, rückten die Möbel ab, packten den kleinsten Gegenstand ein. Im größten Studio des Funkhauses an der Masurenallee bauten sie alles wieder auf, um es zwei Tage später zurückzubringen.
Viele Ostdeutsche glauben, dass das Prinzip Wohnküche etwas sehr Russisches ist, aber vielleicht entstehen solche Küchen überall, wo öffentliche Orte fehlen oder gemieden werden – so wie im West-Berlin der 68er. Im Film treten die Beteiligten in ihren Küchen auf, fanden diesen Gedanken sofort überzeugend.
Die Wohnküchen waren nicht zuletzt Protest gegen die Welt der Neubauten, wo alle eingeklemmt in den gleichen normierten Kochzellen mit den normierten Einbauschränken standen, in denen man nicht sitzen konnte, geschweige denn leben. Herd und Kühlschrank überall am gleichen Platz, während die Bewohner der Küche älteren Typs es genossen, öfter mal umzuräumen, die Flexibilität ihres Seins und ihrer Küche ausprobierend.
Irgendwann nach der Wende hat der Dichter Bert Papenfuß das „Kaffee Burger“ mitgegründet, diese öffentlich zugängliche Wohnküche ohne Wohnung, seit 2010 betreibt er die Kulturspelunke „Rumbalotte“. Vielleicht erkennt man daran auch das legitime Kind von Prenzlauer Berg: in der Gewohnheit, sich die eigene Welt selbst zu schaffen.
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