Essen & Trinken: Kochen im Seniorenheim
Heim-Essen gilt als fad und matschig. Das will Sternekoch Tim Raue ändern.
In einem hellen Saal, große Fenster, Blick auf das Teichrondell, speisen mehr als 100 alte Menschen. Zu viert oder sechst sitzen sie an gedeckten Tischen, in Hemd und Hose oder Kostüm, Broschen am Knopfloch, die grauen und weißen Haare sorgfältig gelegt. Ein lautes Murmeln verteilt sich im Raum. Das Essen steht in Silberschüsseln auf den Tischen. Jeder nimmt, wie ihm beliebt. In der Mitte des Raumes gibt es zwei Salatbars, um die sich Schlangen bilden. Wer nicht mehr gehen kann, den bedient das Personal.
Zwölf Uhr, Mittagessen in der Seniorenwohnanlage Rosenhof in Zehlendorf.
Zur gleichen Zeit sitzen in einem Altenheim auf der anderen Seite Berlins, dessen Namen hier nicht genannt werden soll, alte Menschen ohne Kostüm und Brosche an Tischen ohne Decken. Die meisten schweigen, im Hintergrund laufen deutsche Schlager. Auf den Tellern liegen Kartoffeln, die außen wie Gummi und innen schleimig sind. Kräuterquark daneben gepatscht, bei dem die Mayonnaise alles dominiert. Dazu gibt es Leinöl in einer klebrigen Flasche und ein Stück Butter. Der Nachtisch, „hausgemachter Früchtequark“, schmeckt nach Sahne mit Geschmacksverstärker. Mittagessen in einem Altenheim in Mariendorf, ein Extremfall sicher, eine Ausnahme nur vielleicht.
Um zwölf stehen alle vor der Tür und kratzen
„Essen ist Sex im Alter“, sagt Klaus Herbst. Der große Mann, der selbst gern isst, hat schon viele Heime von innen gesehen, sie verwaltet, beraten und umstrukturiert. Zur Zeit leitet er das Seniorenheim St. Richard in Berlin-Neukölln, ein Heim, das sich mit seinem Service zwischen dem Rosenhof und dem anonymen Heim bewegt. „Bei uns gibt’s Mittag von zwölf bis halb zwei. Jeder kann kommen, wann er will. Und trotzdem stehen alle um zwölf vor der Tür und kratzen. Manche sogar um elf.“
Weil das Essen im Alter so wichtig wird, lassen Heime, die es sich leisten können, ihre Menüs von Sterneköchen gestalten. So macht es das Tertianum: Das Luxusheim in Berlin, München und Konstanz hat sich Tim Raue geholt. Zusammen mit seinem Sous-Chef Steve Karlsch erstellte er ein Konzept für eine Brasserie, ein unabhängiges Restaurant im Gebäude des Heims, eigener Eingang. Im Speisesaal selbst gibt es von Karlsch kreierte deutsche Hausmannskost, während das „Colette“ in München klassische französische Küche bietet. Es ist ein Zusatzangebot für die Bewohner. In München läuft es seit Dezember 2015, in Berlin wird es nächsten Freitag eröffnet.
Zum Nachtisch gibt's Blutorangengelee
Ob Zehlendorf oder Neukölln, fünf Sterne oder keiner – alle Heimleiter reden darüber, wie wichtig das Essen für alte Menschen ist. Es ist aber eine sensible Sache: Die einen wollen Sauerbraten, die anderen Hering, manche brauchen Schonkost, einige können nicht mehr alleine essen. Im Rosenhof stehen „Schollenfilets in Eihülle gebraten, Sauce Béarnaise, Dampfkartoffeln“ auf der Karte. Zum Nachtisch gibt es Blutorangengelee mit Sahne oder Vanillejoghurt mit Johannisbeeren. Menschen mit Beschwerden wählen zwischen „Leichter Vollkost“ und dem „Vitalmenü“. In den meisten Heimen können die Bewohner nur zwischen zwei Gerichten entscheiden. Die einfache Küche ist oft schwer, fettig und süß.
Früher war "allet Gulaschkanone"
„Gesund ist das nicht“, sagt Marek Janiszewski, Koch des St. Richard-Heims, „aber das können wir ihnen nicht wegnehmen.“ Es sind die Wünsche der Bewohner. Sie wollen Puffer, Milchreis und Grießbrei, verlangen nach Schnitzel, Kartoffeln und Königsberger Klopsen. Deutsche Küche, die Speisen aus der Kindheit.
Till Kral sitzt zwischen Marylin Monroe und einer Swingkapelle, gemalt von ihm und seinem Bruder, auf seinem Gehwagen in einem Zimmer der Casa Reha in Neukölln. Im Fernsehen läuft Sport, auf der Fensterbank stehen Pinsel und Farben und Krals Briefmarkensammlung. Daneben ein Tisch. Hier isst Till Kral seine Stullen, sein Mittag, sein Abendbrot. Kral, 1940 geboren, war das Hungern gewöhnt, in der Schule die Suppen, „allet Gulaschkanone“, wie er sagt. Als Bauhandwerker gab es „wat uff die Hand“, und noch heute isst er am liebsten deftig. Nudeln, Kartoffeln und viel Fleisch. Ihm schmeckt das Essen der „Casa Reha“ gut. Was ihm zu fade ist, würzt er nach, Pfeffer, Salz und Senf stehen stets auf seinem Tisch. Einzige Kritik: Er hätte das Huhn gern am Knochen oder Eisbein. Hier komme das nur als „Matsche-Klatsche“. Und Kral isst in seinem Zimmer, da habe er nicht „dit Rumjesabber und Rumjespritze“.
Sie hätte gern mal wieder was zum beißen
Das stört seine Heimmitbewohnerin Ingrid Gülzow nicht. Die 77-Jährige hält sich viel im Speisesaal auf, isst aber wenig. Es schmeckt ihr nicht. Sie isst, weil sie muss. „Den Fisch“, findet sie „machen die ganz anständig, aber das meiste ist klein gemacht und durchgedreht“. Sie hätte gern mal wieder was zum beißen.
Dass alte Menschen den Appetit verlieren wie Frau Gülzow, passiert häufig. „Im hohen Lebensalter ist die größere Gefahr der Gewichtsverlust“, sagt Rupert Püllen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Bis zu 60 Prozent aller Alten in Heimen gelten als unterernährt. Grund seien eine Fehl- oder Mangelernährung wie etwa vegetarische Küche. Vor allem aber hätten Alte weniger Appetit. Püllen nennt dafür Übelkeit als Nebenwirkung von vielen Medikamenten auf einmal, psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Demenz, ein schlechtes Gebiss und den abnehmenden Geschmacks- und Geruchssinn. Deshalb „sollte der Anbieter das Essen ruhig kräftig würzen“, und ein bisschen Zucker oder ein Stück Torte schadeten nicht, so Püllen, denn alte Menschen brauchen viel Eiweiß und Kalorien. Fleisch, Zucker und Sahne sind also gar nicht verkehrt.
Jürgen E. fotografierte sein unansehnliches Essen
Aber auch wie das Essen präsentiert wird, sei ein wichtiger Aspekt. Im vergangenen Jahr ging der Fall von Jürgen E. durch die Medien. E. kam als Frührentner in ein Heim in Nürnberg. Wegen Zahnproblemen konnte er nicht mehr kauen, sein Essen kam püriert, „grundsätzlich nicht appetitlich“, wie er „Spiegel Online“ verriet. Deshalb veröffentlichte er Fotos davon im Internet. Auf der Seite „Wir fotografieren unser Essen – Residenz Seniorenheim/Krankenhaus“ posten noch heute Menschen Fotos von unansehnlichem Essen.
„Püree mit Püree brauchen wir für Leute, die nicht mehr richtig schlucken oder beißen können“, sagt Klaus Herbst, Leiter des St. Richard-Heims. Hier wird für alle das gleiche zubereitet. „Für Herrn Müller pürieren wir es dann, aber Frau Meier kriegt ihr vollwertiges Essen“, sagt Herbst. Die weiche Variante kommt auf einen dreigeteilten Teller, um zu vermeiden, dass am Ende „nur noch so 'n rosa Brei drinnen ist“.
Wenn er Messen zum Thema Alter besucht, sieht er „die tollsten Sachen“. Es gibt Förmchen, mit deren Hilfe Fleisch wieder in Fleischform gebracht wird. Bratwurst aus dem 3-D-Drucker kann er aber nicht anbieten – zu teuer. Je größer das Heim, desto günstiger das Essen. Je mehr Ware eingekauft wird, desto billiger wird sie. Und je weiter ausgelagert und zentral gesteuert die Küche, desto kleiner sind die Ausgaben. Wer sich eine hohe Rendite verspricht, spart vor allem beim Essen.
Bei 2,20 Euro wird vorgeschmiert
In einigen Heimen liegt der Satz bei 2,20 Euro pro Tag und Person. Aber darüber wollen die Anstalten nicht sprechen. Klaus Herbst stehen im St. Richard-Heim dank eines katholischen Trägers 5,80 Euro pro Tag und Person zur Verfügung. Der Durchschnitt liege bei 4 bis 4,50 Euro, sagt er. Bei 2,20 Euro, erzählt Herbst, „gibt’s keine Butter mehr, sondern nur noch Margarine, und es wird vorgeschmiert.“ Bei dem Modell geht der Koch mittags um halb zwei nach Hause, einen Nachmittagsdienst gibt es nicht. „Wissen Sie, wie die Stullen um 18 Uhr aussehen?“ Herbsts Hände zeichnen in der Luft einen Halbmond nach oben.
Mit niedrigen Sätzen kommt aus, wer sein Essen über die Systemküche bezieht. Dort werden jeden Morgen Tausende Portionen gekocht, abgepackt und an die Heime geliefert. Dort wird es später aufgewärmt.
Ein Restaurant im Haus wie das „Colette“ im Tertianum braucht Till Kral aus der Casa Reha nicht. Wenn er mal was anderes will, holt er sich „’ne Pizza oder ’n Döner“. Ingrid Gülzow, seine Heimmitbewohnerin, würde es sicher nutzen, denn „mal so Scampi oder Ente kross“ hätte sie gern. Dafür ist ihr Taschengeld aber zu knapp. Die 107 Euro gibt man im Colette schon für eine Mahlzeit zu zweit aus. So wird das Colette wohl eher ein Restaurant für die gehobene Klasse und ein Lockvogel für zukünftige Bewohner des Tertianum.
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