Rohmilchkäse: Kampf der Kulturen
Bakterien geben dem Rohmilchkäse seinen besonderen Geschmack – aber sie können auch krank machen. Deshalb streiten weltweit Gourmets und Hygiene-Bürokraten.
Für die Regierung der USA ist sie eine gefährliche Substanz und deshalb verboten. In der Europäischen Union unterliegt sie strengen Hygienevorschriften und wird in schönster Bürokratensprache als „das unveränderte Gemelk von Nutztieren“ bezeichnet. Für viele ist sie einfach eine Delikatesse, aus der sich wunderbarer Käse herstellen lässt: die Rohmilch. Frisch gemolken, von der Kuh, der Ziege oder vom Schaf.
Sie wird nicht erhitzt wie die pasteurisierte Milch, sondern unbehandelt, so wie sie aus dem Euter des Tieres kommt, zu Rohmilchkäse weiterverarbeitet. „Dieser Käse“, sagt Patrick Valiente mit französischem Akzent, „ist etwas ganz Besonderes.“
Valiente, 45 Jahre alt, trägt ein weißes Hemd und eine schwarze Schürze. Er steht hinter einer Theke aus Chrom in der Gourmet-Abteilung des Kaufhauses Galeries Lafayette in Berlin. Valiente ist Franzose und Leiter der Käseabteilung. Vor ihm in der Auslage liegen 200 verschiedene Sorten, die meisten von ihnen hergestellt aus Rohmilch: Camembert de Normandie, Brie de Meaux, Comté, Roquefort…
Manche schmecken würzig, manche ganz mild. Mal sind sie feurig, mal frisch. Einige sind so reif, dass sie fast auslaufen, wenn man sie anschneidet. Andere haben in der Mitte noch eine leicht körnige Schicht und dunkle Stellen an der weißen Rinde. Sie lassen sich schneiden wie Butter oder mit Kraft abhobeln. Einige kann man lutschen, um mehr Nuancen herauszuschmecken. Andere legt man einfach auf die Zunge, wo sie dann schmelzen wie eine Schneeflocke.
Kaum zu glauben, dass sich um diesen Rohmilchkäse ein Streit entfacht hat. Und dass über eine Gefahr gestritten wird, die mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen ist: Bakterien.
Für den Geschmack eines Rohmilchkäses sind diese enorm wichtig. „Weil die Rohmilch nicht erhitzt wird, bleiben die Bakterienkulturen erhalten“, sagt Valiente. Sie setzen die Reifung des Käses in Gang und sind für die Aromenvielfalt zuständig. Doch genau darin sehen die Kritiker des Rohmilchkäses das Problem.
Denn das Risiko, dass sich gefährliche Bakterien einschleichen, die für den Menschen lebensbedrohlich sein können, ist nie ganz auszuschließen; es sei denn, die Milch wird vorher pasteurisiert. Nur durch die Erhitzung auf 73 Grad werden unerwünschte Keime abgetötet. Abgetötet werden allerdings auch jene Bakterien, die für den Geschmack so wichtig sind.
Für einen Franzosen ist pasteurisierter Käse ein Frevel. „Es ist wie auf einer Beerdigung“, sagt Philippe Causse, Inhaber des Berliner Käsefachgeschäfts Maître Philippe. „Die Bakterien sind gestorben, der Käse ist gestorben, er kann sich nicht mehr entwickeln, er schmeckt nur noch nach Wasser und Fett.“
In den USA ist Rohmilch verboten. Trotz Androhung hoher Geld- und Haftstrafen wollen sich viele Amerikaner aber nicht den Appetit verderben lassen. So hat sich eine absurde Subkultur entwickelt: Rohmilchfans müssen sich heimlich, wie Drogenabhängige, auf irgendwelchen Parkplätzen treffen, um an ihren Stoff zu kommen. Das Geschäft ist lukrativ, fünf Dollar für den Liter Milch werden ohne Wimpernzucken gezahlt.
In Deutschland liegt Rohmilchkäse in jeder gut sortierten Käsetheke. Allerdings gelten strenge Hygienevorschriften der Europäischen Union: Die Produkte müssen als Rohmilchprodukte gekennzeichnet sein. Die Milch muss unmittelbar nach dem Melken zu Käse verarbeitet werden. Produktion und Bauernhöfe werden von den Behörden regelmäßig kontrolliert.
Dennoch sind im vergangenen Jahr 356 Menschen an Listeriose erkrankt, ausgelöst durch Bakterien, die auch in Rohmilchprodukten vorkommen können. Sie rufen grippeähnliche Symptome hervor, können aber zu Blutvergiftungen und Hirnhautentzündungen führen. Gefährdet sind Menschen mit schwachem Immunsystem. Schwangere, alte Menschen und Kinder sollten auf Rohmilch verzichten.
Auch Urlauber müssen bei Rohmilchprodukten aufpassen. In Griechenland und in Bosnien sind in den vergangenen Wochen mehrere Menschen am sogenannten Mittelmeerfieber erkrankt. Dabei handelt es sich ebenfalls um Bakterien, im schlimmsten Fall drohen Herzrhythmusstörungen und ein Ausfall von Gehirnfunktionen.
Allerdings ist die Gefahr, an Bakterien zu erkranken, nicht nur bei Rohmilchkäse gegeben. Werden die hygienischen Vorschriften nicht eingehalten und haben sich Keime in den Fugen oder Maschinen eines Betriebes eingenistet, dann ist auch pasteurisierter Käse vor einem Befall nicht gefeit.
Im Mutterland des Rohmilchkäses, in Frankreich, hat sich die Diskussion um gefährliche Erreger im vergangenen Jahr zu einem handfesten Streit ausgeweitet. Auf der einen Seite standen viele traditionelle Hersteller, vor allem kleine Käsereien, auf der anderen Seite ein Großkonzern. Die französische Presse erhob den Konflikt zum „guerre du camembert“, zum Camembert-Krieg.
Einer der weltweit größten Käseproduzenten, der französische Konzern Lactalis, hatte seine Käseproduktion auf pasteurisierte Milch umgestellt. Die Verbraucher sollten vor Gesundheitsrisiken geschützt werden. Auf das Qualitätssiegel AOC – Appellation d’Origine Controlée –, mit dem sich französische Käsemacher nun dann schmücken dürfen, wenn sie Camembert aus Rohmilch herstellen, wollte Lactalis aber nicht verzichten. Das führte zu heftigem Protest vieler Kleinbetriebe. Sie fürchteten, dass Kunden nicht mehr zwischen ihrem Rohmilchkäse und dem pasteurisiertem Industriekäse unterscheiden können.
Die zuständige Kommission entschied sich am Ende für die Argumente der Rohmilch-Verfechter. Lactalis verwendet das Siegel seitdem nicht mehr.
Für die Unternehmen hat die Pasteurisierung einen großen Vorteil, schreibt Wolfram Siebeck in der „Zeit“. Diese Käseprodukte „sind lange lagerfähig. Sie wurden aus pasteurisierter Milch hergestellt und enthalten keine Bakterien mehr, welche den Reifeprozess vorantreiben könnten. Schließlich ist es ja gar nicht erwünscht, dass sie in den Supermarktregalen noch weiter reifen. Sie sollen heute genauso aussehen und schmecken wie vor einer Woche und in zwei Wochen“.
Schmeckt Rohmilchkäse also immer gut und pasteurisierter Käse immer schlecht? „Nein“, sagt Ursula Heinzelmann. „Rohmilch allein macht noch keinen guten Käse.“ Die Autorin hat mehrere Bücher übers Kochen und Essen geschrieben („Erlebnis Kochen“). Im Nächsten wird es um Käse gehen. Deshalb hat Heinzelmann in den vergangenen vier Monaten Käsereien in ganz Deutschland besucht. Jetzt sitzt sie in ihrer Berliner Wohnung und erzählt von überraschenden Entdeckungen, die sie gemacht hat. „Ich habe banale Rohmilchkäse gegessen und sehr gute Käse aus pasteurisierter Milch.“ Es gebe halt viele Faktoren, die beim Käsemachen zählen. Die Frage nach der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit im Lagerraum zum Beispiel sei genauso wichtig wie die Frage nach der Rohmilch.
Auf ihrer Reise hat Heinzelmann auch einen Abstecher ins Allgäu gemacht, in die Käserei Zurwies von Anton Holzinger. Der gelernte Molkereifachmann stellt seit über 40 Jahren eigenen Käse her. Er sagt: „Wenn die Kühe das ganze Jahr im Stall stehen und nur Silofutter fressen, dann kann der Bauer aus der Milch zwar Rohmilchkäse machen, der schmeckt dann aber nicht.“ Voraussetzung für guten Käse sei gute Milch, also Milch von glücklichen Kühen, die auf der Alm stehen, die frisches Gras und Kräuter fressen, die auf Wiesen stehen, die nicht gedüngt werden.
Die Milch des Camembert de Normandie, einer der bekanntesten Rohmilchkäse, stammt von glücklichen Kühen, davon ist Patrick Valiente überzeugt. An seiner Käsetheke in den Galeries Lafayette bietet er fünf verschiedene Sorten an. „Es regnet sehr oft in der Normandie, die Weiden sind grün, die Kühe die schönsten und fettesten in ganz Frankreich.“
Seinen Camembert kauft er direkt von einem Kleinbauern, einem Hersteller, dessen Käserei sich in der Kleinstadt Camembert befindet. 5,90 Euro zahlt der Kunde für 250 Gramm. Das ist noch preiswert. Wer schon einmal Rohmilchkäse gekauft hat, weiß, dass es meistens teurer wird.
Valiente nimmt ein Messer und schneidet durch den butterweichen Laib. Der Käse klebt an den Fingern, zergeht auf der Zunge, der Gaumen zieht sich zusammen. Dieser Camembert schmeckt würzig und sehr cremig. Er hinterlässt einen leicht scharfen, einen intensiven Nachgeschmack.
Damit ein Rohmilchkäse sein richtiges Aroma entfalten kann, sollte er vor dem Essen aus dem Kühlschrank genommen und bei Zimmertemperatur gegessen werden. Zu seinem Glück fehlt dem Feinschmecker dann nichts mehr, oder? „Doch“, sagt Valiente, „frisches Baguette und ein guter Rotwein.“
Oliver Keppler
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