Skiurlaub in Tirol: In den Spuren der Schmuggler
Fleisch gegen Strumpfhosen: Nach dem Krieg führte eine Ski-Schmugglerroute von Samnaun nach Ischgl. Drei Pisten machen die Geschichte erfahrbar.
Ischgl schweigt. Einsam und dunkel ruht die schmale Dorfstraße mit ihren Bars und Boutiquen. Die Go-go-Girls mit ihren knappen Dirndln, die in der Nacht auf den Tresen des „Schatzi“ tanzten, sind schlafen gegangen, und selbst die trinkfestesten Après-Ski-Gladiatoren haben kapituliert. Nur ein tiefgefrorenes Glas Wodka-Red-Bull am Wegesrand zeugt noch vom Exzess der vergangenen Nacht, als Emil Zangerl auf dem Parkplatz vor der Silvretta-Seilbahn seinen Dienst antritt.
Langsam schält er sich in seiner Winterjacke aus dem Auto, streift die dicken Handschuhe über und nimmt seine Kelle. Es ist fünf vor sieben. Zangerl ist 83 Jahre alt und pünktlich. Wie jeden Morgen. Seit nunmehr 17 Jahren. Außer montags.
Auch in dieser Skisaison, die vergangene Woche begonnen hat, wird er wieder tausenden Touristen Parkplätze zuweisen. Keine unwichtige Aufgabe. „Immer in fünf, besser noch sechs Reihen. Sonst bricht hier das Chaos aus.“ Die Augen in seinem scharf geschnittenen Gesicht gucken pflichtbewusst. Doch auch in dieser Saison werden wohl wieder tausende Touristen keine Ahnung haben, dass sie einem wandelnden Heimatkundemuseum des österreichischen Wintersportortes begegnet sind, der ihnen zu jedem Hügel, jedem Lift und jeder Abfahrt eine Geschichte erzählen könnte. Nur den Aufmerksamsten wird später vielleicht die Ähnlichkeit zu dem Mann auf dem alten Foto auffallen, das so manchen Pistenplan in der Silvretta-Arena ziert.
Bevor Zangerl – zehn Enkel, zwei Bypässe, ein Herzschrittmacher – Parkplatzeinweiser wurde, war er Skilehrer, Bergführer, Wilderer, Gründungsmitglied der Silvrettaseilbahn AG, Hüttenwirt und Schafzüchter. Doch vor allem, und dafür ist er in Ischgl weltberühmt, war er Schmuggler.
Im Sommer zu Fuß, im Winter auf Skiern
Der Schmuggel und die Geschichte des Wintersportortes, der nicht ganz unverschuldet den Ruf als Ballermann der Alpen genießt, sind untrennbar miteinander verzahnt. Seit dieser Saison kann man die Schmuggelhistorie auch auf drei neuen Rundtouren selbst erfahren. Einfach immer den Fotos von Emil Zangerl hinterher.
Wie das mit dem Schmuggeln angefangen hat? „Nach dem Krieg gab es hier in Ischgl nichts“, erzählt Zangerl. Er meint: Hungern mussten die damals knapp 800 Einwohner nicht, doch ohne Kaffee, Zigaretten und Süßstoff fehlte etwas.
Diese Waren gab es jedoch auf der anderen Seite des Bergs im schweizerischen Samnaun. Also packten die Männer des Dorfes regelmäßig ihre Rucksäcke bis zu 40 Kilo voll mit Butter, Käse oder Fleisch und schlichen sich über die Grenze.
„Um zwei Uhr nachts ging es los“, sagt Zangerl. Im Sommer zu Fuß, im Winter auf Skiern. Für einen Weg brauchte er vier bis fünf Stunden. Wenn die Zöllner auftauchten, auch mal länger.
Das Wagnis zahlte sich aus. Emils Mädchen bekam statt Wollsocken Seidenstrumpfhosen mit schwarzen Fersen und Naht, damals eine Sensation, und das Dorf 1952 seinen ersten Skilift – finanziert mit Gewinnen aus den illegalen Tauschgeschäften.
Seitdem ist Ischgl gewachsen und gewachsen. Auf 1596 Einwohner kommen inzwischen 1200 Schneekanonen und 11 640 Betten. Viele Gäste sehen diese aber nur kurz, wie schon der gänzlich unironisch gemeinte Slogan der Partnerstadt von Schengen verrät: „Relax, if you can …“
Ischgl ist nicht billig
Doch wer kommt schon zum Entspannen nach Ischgl? „Die wenigsten“, gibt Andreas Steibl, Geschäftsführer des Tourismusverbandes Paznaun-Ischgl und für alle nur „der Andi“ am Abend beim Essen unumwunden zu Protokoll. Wie zum Beweis wummern vom „Kuhstall“ leise die Bässe herüber. Ischgl startet in die Nacht.
Die meisten Touristen seien nicht die Jungen, sondern die Junggebliebenen. Zwar versuchte man jüngst, den nächtlichen Lärm etwas zu dämpfen, indem man ein mit 25 Euro geahndetes Skischuhverbot zwischen 20 und 6 Uhr verhängte, aber alles in allem hat Ischgl Frieden geschlossen mit seiner Zielgruppe. Und die sei nicht die schlechteste, findet Steibl. „Die habe schließlich die Kohle.“ Die braucht man auch. Ischgl ist nicht billig. Ein Weizen beim Après-Ski kostet gerne mal sechs, ein Gin-Tonic im „Pacha“ 13,50 Euro. Für den Drei-Tage-Skipass sind 153 Euro fällig.
„Wir sind nicht die besten, aber wir sind einzigartig“, bringt Steibl das Selbstverständnis auf den Punkt. Man wolle gar nicht den Spitzensport, man biete Entertainment. Und deshalb gibt es auch in dieser Saison nicht nur Konzerte in 2300 Meter Höhe und den neuen „Skyfly“, eine Stahlseilrutsche, mittels derer man 50 Meter über dem Felsboden und Skiern auf dem Rücken mit 85 Kilometern pro Stunde zur Talstation brettern kann, sondern eben auch besagte „Schmugglerrunden“ von Ischgl nach Samnaun und retour.
"Eine gute Jause gab es immer"
Je nach Können kann man auf der Bronze-Runde über ausschließlich blaue 19,8 Pistenkilometer in die Schweiz rüberwechseln, die 24,7 Kilometer lange Silber-Runde ausprobieren oder sich an die 35,7 Pistenkilometer lange Gold-Runde wagen. Wer will, darf sich auch noch die App dazu aufs Handy laden, etwas über die Geschichte lesen und seinen Weg per GPS tracken. Gewinnspiel inklusive.
Doch selbst auf der längsten Route, die einen gern einen halben Tag beschäftigt, braucht man, um in die Schweiz zu gelangen, nicht mehr die vier Stunden, die Zangerl früher veranschlagte, „als die Leute noch zu Fuß gehen konnten“, wie er sagt.
Die kürzeste Verbindung führt von Ischgl aus mit der Pardatschgratbahn rauf auf den Berg. Dann eine Abfahrt vorbei an der Idalp, dem großen Skilift-Verteilerkreuz, runter zum Höllbodenlift, rüber zum Höllkar und rauf zum 2864 Meter hohen Palinkopf. Aussicht genießen und dann die rote, den ganzen Morgen in Sonnenlicht getauchte Abfahrt runter nach Samnaun-Dorf nehmen.
1000 Höhenmeter geht es abwärts. Der Weg führt durch eine beeindruckende Schlucht. Links und rechts ragen schroffe Hänge in den Himmel, bis man nach mehreren sich windenden Schleifen vor Samnaun abbremst. Nicht mal 45 Minuten zeigt die Stoppuhr an.
Für Emil Zangerl war die Ankunft bei den Nachbarn damals stets eine Freude. Die Schmuggler wurden gut bewirtet. Kundenbindung. „Da warst du der König“, erzählt er. „Eine gute Jause gab es immer.“ Und Tabak. Und Schnaps!
800 Einwohner und 50 Duty Free-Shops
Den gibt es immer noch. In Hülle und Fülle, und wer will, kann das mit den Schmugglerrunden deshalb nicht nur historisch verstehen, sondern sie buchstäblich als solche benutzen. Samnaun hat zwar nur 800 Einwohner, aber 50 Duty Free-Shops. Das kommt so: 1892 wurde dem Ort aufgrund einer fehlenden Zufahrtsstraße die Zollfreiheit gewährt. Die Straße gibt es zwar inzwischen längst, aber die Regelung wurde trotzdem nie mehr kassiert. Und so prangt nun an jeder zweiten Wand Werbung für Luxuschronographen.
Und tatsächlich kann sich der Ausflug lohnen. Wer nicht den beschriebenen „Duty Free Run“ vom Palinkopf nach Samnaun nimmt, sondern auf der anderen Seite die etwas schmale, aber gemütliche Abfahrt nach Samnaun-Laret, kann dort die Wartezeit auf den Bus im „Astro“ überbrücken. In dem Duty-Free-Laden mit angeschlossenem Café reihen sich meterweise Parfüm, Kosmetik und Zigarettenstangen in den Regalen. Besonders stolz aber ist Inhaber Christian Heis, der jeden Besucher herzlich begrüßt, auch wenn der ihm den Boden mit tropfenden Skistiefeln versaut, auf seine Whisky-Auswahl. „Rund 300 Flaschen sind das“, sagt er. Eine der teuersten: der Macallan Rare Cask Black. 319 Schweizer Franken, umgerechnet rund 300 Euro, soll er kosten. Jenseits der Grenze zahlt man dafür Minimum 400.
Die Kundschaft? Manch einer besorge hier spontan Weihnachtsgeschenke, sagt Heis, manch einen reize aber wohl tatsächlich der Nervenkitzel.
Emil Zangerl wurde nie erwischt
Nur erwischen lassen sollte man sich bei der Rückfahrt nicht. So nachsichtig wie zu Emil Zangerls Zeiten, als die Zöllner einem in der Regel die Sachen abnahmen und es dabei beließen, sind sie heute nicht mehr. Wie viele Beamte wann im Grenzgebiet patrouillieren, will der Österreichische Zoll nicht verraten, doch nach allem, was man so hört, wird gelegentlich schon die ein oder andere Rolex konfisziert und entsprechendes Bußgeld verhängt.
Früher, berichtet Zangerl fröhlich, hatte die Schmuggelei etwas von einer freundschaftlichen Rivalität. „Die Zöllner hatten ja selbst nichts“, sagt er. „Und wenn sie wissen wollten, wer neue Strümpfe hatte, mussten sie nur sonntags in der Kirche auftauchen.“ Geben und nehmen. Als er nach 17 Jahren als Wirt auf der Heidelberger Hütte in Rente ging, schenkten ihm die Zöllner sogar eine Schweizer Uhr. Nur einmal sei ein Dorfbewohner wirklich zu Schaden gekommen. Ein verirrter Warnschuss. Der Schmuggler starb, der Zöllner wurde versetzt.
Emil Zangerl rühmt sich, nie erwischt worden zu sein. Auch später, in den 1960er Jahren nicht, als er längst nicht mehr aus Not, sondern nur noch aus Abenteuerlust schmuggelte. „Das ist halt eine Sucht“, sagt er. Im Sommer war er das letzte Mal drüben. Ob er auf dem Rückweg was im Rucksack hatte? „Ach ...“ Er grinst nur.
Dann packt er seine Sachen. Elf Uhr. Feierabend. Von irgendwo bumpert Musik. Ischgl räkelt sich.
Reisetipps für Ischgl
ANREISE
Mit der Deutschen Bahn geht es von Berlin über München nach Innsbruck und dann mit dem Regionalzug weiter bis Landeck-Zams.
Von dort sind es mit Taxi oder Shuttle 30 Minuten nach Ischgl. Vom Flughafen Innsbruck aus dauert die Autofahrt rund 90 Minuten.
ÜBERNACHTEN
Das Vier-Sterne-Hotel Alpina (DZ ab 90 Euro) liegt angenehm abseits des großen Partyrummels und trotzdem in direkter Nähe zur Gondel. Aus der Sauna hat man einen entspannenden Blick auf Dorf und Berge: www.alpina-ischgl.at
ESSEN
Wer die Nase voll hat von Käsespätzle und Wiener Schnitzel, bekommt im „Stüva“ vielfach ausgezeichnetes, modernes Fine Dining geboten (4-Gänge-Menü 82 Euro): www.yscla.at