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Der afghanische Bundeswehrübersetzer mit Familie in Niedersachsen.
© Georg Moritz

Afghanischer Bundeswehrübersetzer: Im Stich gelassen

Ahmed Halil war eine begehrte Fachkraft: Zwölf Jahre lang hat er in Afghanistan deutschen Soldaten geholfen. Für die Taliban machte ihn das zum Ziel. Heute sieht er sich in Deutschland zum Bittsteller degradiert.

Die Geschichte von Ahmed Halils* Reise nach Deutschland beginnt an einem kalten Dezembernachmittag 2013 in Kabul. Halils Sohn Salman* und dessen Onkel Sulfan* sind auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als drei maskierte Männer sich mitten auf der Straße auf Salman stürzen und versuchen, ihm Säure ins Gesicht zu schütten.

Sulfan wirft sich auf die Männer, er tritt und boxt, damit sie von seinem Neffen ablassen. Dabei bekommt er selbst so viel Säure ins Gesicht, dass er erblindet. Salman wird nur leicht verletzt.

Die beiden Männer schleppen sich nach Hause. Halils Frau ruft sofort ihren Mann an, der wie an jedem Nachmittag mit deutschen Polizisten unterwegs ist.

Halil rast im Auto nach Hause und ruft einen deutschen Kollegen hinzu. Gemeinsam bringen sie Salman und Sulfan ins Bundeswehrkrankenhaus. „Ich wusste, dass meine Arbeit uns alle in Gefahr bringen kann“, sagt Halil. „Ich habe dafür gebetet, dass uns nichts passiert.“

Ahmed Halil stammt aus Afghanistan. Zwölf Jahre hat er für die deutsche Bundeswehr und die deutsche Polizei in Afghanistan gedolmetscht.

Hilfe für Zoll und Minister

Der 50-Jährige hat dafür gesorgt, dass alle Papiere korrekt auf Farsi ausgefüllt waren, wenn die Bundeswehr ihre Fahrzeuge durch den afghanischen Zoll brachte. Er hat bei der Ausbildung afghanischer Polizisten übersetzt und als der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière seine Truppen besuchte.

Er hat deutsche Polizisten und Soldaten auf ihren Patrouillenfahrten begleitet, ihnen beigebracht, wie man einen afghanischen Bürgermeister korrekt auf Farsi begrüßt. Das Verhältnis zwischen Halil und den Deutschen war gut.

Soldaten aus 50 Ländern

Die Einsatzkräfte waren Teil der sogenannten ISAF-Mission – International Security Assistance Force. Eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission unter Führung der Nato, die dem Land nach dem Afghanistankrieg helfen sollte. Von 2001 bis Ende 2014 waren Truppen aus 50 Ländern daran beteiligt, zu Spitzenzeiten mit fast 130 000 Menschen.

Von den Taliban wurde die Zusammenarbeit zwischen den internationalen Kräften und den Afghanen mit Missfallen betrachtet. Immer wieder verübten sie Anschläge auf die beteiligten Einsatzkräfte. Ahmed Halil ist sich sicher, dass auch hinter dem Attentat auf seine Familie die Taliban stecken.

Kabul wird zu gefährlich

„Ihr könnt nicht zurück in euer Haus“, sagen Halils deutsche Kollegen sofort nach dem Anschlag. „Wer weiß, wann die Taliban wiederkommen.“

Die Nacht verbringt er mit seiner Frau und den fünf Kindern bei seiner Schwester am anderen Ende von Kabul. Schon am nächsten Morgen schlagen die deutschen Kollegen vor, dass die Familie eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland beantragt. Afghanistan sei zu gefährlich für sie geworden.

Die Reise nach Deutschland

Der afghanische Bundeswehrübersetzer mit Familie in Niedersachsen.
Der afghanische Bundeswehrübersetzer mit Familie in Niedersachsen.
© Georg Moritz

Der Einsatz der ISAF-Truppe endet 2014. Die internationalen Truppen kehren nach und nach in ihre Heimat zurück. Die Gefahr für die bisherigen Ortskräfte, Opfer eines Anschlags zu werden, steigt noch einmal an. Sie könnten zu einer Art vogelfreiem Abschussziel werden. Die deutsche Bundesregierung bietet ihren Mitarbeitern deshalb an, sie und ihre Familien bei großer Gefährdung in der Bundesrepublik aufzunehmen.

1500 Menschen haben diese Genehmigung nach Angaben des Innenministeriums bis heute beantragt. Rund 600 haben eine Zusage bekommen. Der Großteil ist bereits mit Familie nach Deutschland eingereist.

Nach sieben Jahren unbefristet

Zwei Jahre dürfen die Afghanen zunächst bleiben. Ihre Aufenthaltsgenehmigung wird verlängert, wenn die Rückkehr auch danach noch gefährlich wäre.

Wer nach sieben Jahren ausreichend Deutsch spricht und genügend Geld verdient, um sich selbst zu versorgen, kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis beantragen. Ein Jahr später können die ehemaligen Ortskräfte die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben.

Ahmed Halil grübelt, als seine Kollegen ihn drängen, nach Deutschland zu ziehen. Als junger Mann, vor mehr als 30 Jahren, hat er dem afghanischen Militär gedient und war zu DDR-Zeiten drei Jahre auf der Ostseeinsel Rügen stationiert. Dort hat er Deutsch gelernt.

Angst um die Familie

Außer ihm spricht niemand in der Familie die Sprache. Was wird aus seinen Söhnen, die schon Anfang und Mitte 20 sind und dadurch – anders als seine drei minderjährigen Töchter – nicht automatisch mit der Familie nach Deutschland reisen dürften, sondern eine eigene Aufenthaltserlaubnis brauchen? Wird seine Frau, die noch nie eine Schule besucht hat, sich zurechtfinden und die neue Sprache erlernen?

Nächtelang diskutiert er mit seiner Frau und den beiden erwachsenen Söhnen. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und der Angst vor dem Unbekannten. „Tief im Innern war mir aber klar, dass wir weg müssen“, sagt Halil.

Die Bundeswehrkollegen helfen Halil, die Anträge für eine Aufenthaltserlaubnis auszufüllen. Er lässt die Pässe seiner Familie übersetzen. Nach vier Wochen kommt die Zusage vom deutschen Innenministerium. Halils erwachsene Söhne dürfen mit. „Allah sei Dank“, sagt er.

Ticket von der Abfindung

Anfang Februar 2014 steigt Halil mit seiner Frau, seinen Söhnen, der Ehefrau seines ältesten Sohnes, seinen fünf-, zwölf- und 16-jährigen Töchtern in ein Flugzeug. Die Flüge zahlt er von der Abfindung der Bundeswehr.

Zuerst geht es nach Dubai, von dort nach Istanbul und dann nach Deutschland. 32 Stunden dauert ihre Reise in ein neues Leben. An einem norddeutschen Flughafen holen zwei Mitarbeiter des Sozialamtes die achtköpfige Familie mit einem Transporter und einem Wäschekorb voller Obst, Gemüse und Brot ab. Sie bringen die Familie in eine Kleinstadt in der Nähe von Magdeburg – so hat es die deutsche Regierung für sie entschieden.

In einem Wohnblock am Rand der Stadt, in dem viele Flüchtlinge leben, bekommt die Familie eine kleine Wohnung. „Es gab nicht viel Platz, aber wir waren sicher“, erzählt Halil.

Die nüchterne Ankunft in der Realität

Der afghanische Bundeswehrübersetzer mit Familie in Niedersachsen.
Der afghanische Bundeswehrübersetzer mit Familie in Niedersachsen.
© Georg Moritz

Schon wenige Tage später setzt Deutschland die Integrationsmaschine in Gang: Die großen Mädchen kommen in die Schule, die Kleine in den Kindergarten, die Söhne in einen Sprachkurs. Halil versucht, Arbeit zu finden. Seine Frau sitzt zu Hause: Die Sprachkurse für Analphabeten sind voll.

Anfangs ist alles aufregend. Die Straßen sind sauber, die Autofahrer halten sich an Regeln. Lebensmittel liegen sortiert in Regalen, auf der Post stehen die Menschen in einer geordneten Schlange.

Mit dem Schlagstock verprügelt

Doch dann gibt es erste Risse in der langen und guten Beziehung zwischen Halil und Deutschland: Hasina*, seine zwölfjährige Tochter, wird in der Schule von einem gleichaltrigen Mädchen mit einem Schlagstock verprügelt. „Sie sagte, ich sei keine Deutsche“, erzählt Hasina.

In der Schule müssen die Mädchen sofort am Unterricht teilnehmen, obwohl sie keinen Sprachkurs besucht haben. Sie müssen sich allein durch Matheaufgaben, Geschichte und Kunst auf Deutsch quälen.

„Ohne Sprache gibt es keine Integration“, sagt Halil und versammelt seine Familie jeden Nachmittag um den Wohnzimmertisch. Eine Stunde üben sie. Erst Wörter, dann Sätze, dann kurze Texte.

Seine Karriere nützt ihm nicht

Halil findet trotz Dutzender Bewerbungen keine Arbeit. In Afghanistan waren seine Deutschkenntnisse gefragt. In Sachsen-Anhalt braucht niemand einen Farsi- Dolmetscher.

Seine Karriere beim afghanischen Militär, die ihn bis zum Oberfeldwebel gebracht hat, nützt ihm nichts. Sogar als Fahrer oder Sicherheitsmann will ihn niemand beschäftigen. Statt von den Deutschen gebraucht zu werden, wie er es aus Afghanistan kennt, ist es nun Halil, der die Hilfe der Deutschen bräuchte.

Die Bundeswehr und die Polizei sind nicht dafür zuständig, ehemalige Ortskräfte bei der Jobsuche zu unterstützen. „Wie oft habe ich den Deutschen bei Dingen geholfen, für die ich nicht zuständig war?“, fragt Halil.

Zum Bittsteller geworden

Er ist enttäuscht, dass ihm niemand hilft, und frustriert darüber, dass er von einer gefragten Fachkraft zum Bittsteller geworden ist.

Neben dem fehlenden Job ist es vor allem das Geld, das Halil bald zu schaffen macht. Bis zu 1200 Euro haben die Deutschen ihm zuletzt in Kabul gezahlt, ein sehr gutes Gehalt für Afghanistan. Halil konnte seiner Familie ein großes Haus in einem anständigen Viertel bieten. Es war selbstverständlich, dass es immer genug zu essen gab.

Plötzlich zehren Lebensmittel, Kleidung und Schulbücher die Sozialhilfe der Familie auf. Halil hatte davon gehört. Damit zu leben, ist etwas ganz anderes. Sein Selbstbewusstsein schwindet. Er schämt sich, seiner Familie kein besseres Leben bieten zu können.

Ein Deutscher hilft

Erst im Mai 2014 keimt Hoffnung auf. Ein ehemaliger deutscher Kollege aus Afghanistan meldet sich bei ihm. Er arbeitet inzwischen als Polizeichef in einer niedersächsischen Stadt und bietet Halil und seiner Familie an, in seine Gegend zu ziehen. Angesichts von Halils Arbeitslosigkeit ein unmögliches Vorhaben.

Doch der Mann verspricht, beim Umzug zu helfen und einen Teil der Kosten zu übernehmen. Wenige Wochen später zieht Halils Familie in ein rotes Backsteinhaus in Niedersachsen.

Halil ist erleichtert. Es gibt drei Schlafzimmer und zwei Badezimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und sogar einen Garten. Die achtköpfige Familie muss nun nicht mehr in einem Raum schlafen. Hier gäbe es auch mehr Arbeit als in Sachsen-Anhalt, sagt der ehemalige Kollege.

Erfolgloser Elternabend

Kurz nach dem Einzug klingelt Halil bei einem Nachbarn und will wissen, wofür die verschiedenfarbigen Mülltonnen sind. Der Mann schlägt ihm ohne eine Antwort die Tür zu.

Auf den Elternabenden in den Schulen seiner Töchter versucht Halil, mit anderen Eltern zu reden. Erfolglos. Es gibt Kinder, die nicht mit seinen Töchtern spielen dürfen. Ihre Eltern verbieten es.

Mehr als ein Jahr lebt die Familie heute in Niedersachsen. Halil ist noch immer auf Jobsuche. Seine Frau hat noch immer keinen Platz in einem Deutschkurs.

In Afghanistan war sie es gewohnt, einen Teil des Tages mit den Frauen aus der Nachbarschaft zu verbringen. Hier hat sie außerhalb ihrer Familie zu niemandem Kontakt. „Sie ist sehr traurig“, sagt Halil.

Soziale gläserne Decke

Er will nicht jammern über seine Situation. Noch überwiegt die Erleichterung darüber, mit seiner Familie in Sicherheit zu sein. Er glaubt fest daran, eines Tages Arbeit zu finden. Solange der deutsche Staat seiner Frau keinen Platz in einem Sprachkurs stellt, bringt er ihr jeden Tag drei neue Sätze bei.

Was ihm zu schaffen macht, ist die gläserne soziale Decke, an die er und seine Familie stoßen. „Ihr gehört nicht dazu“ lautet die Botschaft, die ihnen in der Nachbarschaft, in der Schule und bei der Jobsuche vermittelt wird.

Halil, der zwölf Jahre lang jedem deutschen Polizisten und jedem Soldaten in Afghanistan ein Stück Heimat bieten wollte, fühlt sich in Deutschland nicht willkommen.

Zurück kann die Familie nicht. „Zu gefährlich“, sagt Halil. „Erst müssen die Taliban gehen.“ Dass das vorerst nicht passieren wird, ist der Familie klar. Sie baut darauf, dass es sich eines Tages wieder einstellt: das gute Verhältnis zwischen Ahmed Halil und den Deutschen, dass seine Familie sich irgendwann hier zu Hause fühlt. Vielleicht, so hofft Halil, brauchen sie einfach noch etwas Geduld.

*Namen geändert

Catalina Schröder

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