Klaus Kordon im Interview: „Ich zweifle mich vorwärts“
Als Kind lauschte er besoffenen Trümmerfrauen in der Eckkneipe seiner Mutter. Klaus Kordon über seine Stasihaft – und wie er im Café Achteck Geschichte erlebte.
Klaus Kordon zählt zu den wichtigsten Autoren von Jugendbüchern, wie etwa „Krokodil im Nacken“. Es sind so viele, dass er längst den Überblick verloren hat. Er stammt aus Prenzlauer Berg, Thema seiner Romane ist fast immer Berlin und seine wechselhafte Geschichte. Kommenden Samstag wird er 70 Jahre alt.
Herr Kordon, auf Ihrem Schreibtisch sieht es aber ordentlich aus…
Das ist nicht echt. Normalerweise liegen da 1000 Zettel: Ich bin in der Endphase eines Romans.
Die Rente ist nichts für Sie?
Ich kann nicht frühstücken und dann zwei Stunden Zeitung lesen. Nichts mehr mit mir und meinem Verstand tun, mit meiner Fantasie, das geht nicht.
Hat ein Vielschreiber wie Sie Angst, irgendwann leergeschrieben zu sein?
Das Wort „Vielschreiber“ mag ich nicht. Ich habe die ersten 30 Jahre so viel erlebt, dass ich die nächsten 30 darüber schreiben konnte. Ich bin ein Kind der deutschen Geschichte. Mein Großvater fiel im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten, ich bin aufgewachsen in den Trümmern Berlins, mein Bruder starb, da war ich sieben, meine Mutter, da war ich 13. Kinderheim, Mauerbau, Mauerfall. All diese Themen mit Fleisch zu füllen, ist das Talent, das mir der liebe Gott geschenkt hat.
Sie verbinden Geschichte mit Freundschaft, Liebe, Familie. Begreifen wir Geschichte nur emotional?
Wenn ich einem Jugendlichen heute sage, unter Hitler sind sechs Millionen Juden ermordet worden, sind das Zahlen, die kann er nicht begreifen. Wenn er eine einzige Geschichte wie die von Anne Frank erfährt, berührt ihn das.
Halten Sie nichts vom Geschichtsunterricht?
Ich muss die Lehrer verteidigen, sie haben nicht die Chance, so wie ich an die Sache ranzugehen. Sie müssen in einem Schuljahr 1918 bis 1945 durchnehmen. Da bleibt keine Zeit für die Filme, die die Leute gesehen haben, für die Farbe der Schals …
Wie recherchieren Sie solche Details?
Ab 1918 aufwärts konnte ich noch Zeitzeugen befragen. Im Wedding gab es in den 80ern noch viele Erzählcafés, wo sich alte Leute unterhielten. Die freuten sich, wenn man nachfragte. Kam man das zweite Mal, haben sie Kuchen gebacken. Für die Zeit davor, für mein Buch „1848“ beispielsweise, gibt’s Berichte. Ein Handwerker schildert, wie er sich beim Barrikadenkampf ’48 auf das Dach des Köllnischen Rathauses geflüchtet hat und unter ihm auf dem Dachboden Flüchtlinge waren, die das Militär mit dem Säbel niedergemacht hat. Anderswo steht, dass es genau um 11 Uhr zu regnen begann, als die toten Barrikadenkämpfer vor dem Schloss aufgebahrt wurden.
Die meisten Ihrer Romane spielen in Berliner Straßen. Wählen Sie die gezielt aus?
Ja. Und dabei suche ich mir oft Hausnummern aus, die es nicht gibt. Zum Beispiel Ackerstraße 37, wo meine Trilogie der Wendepunkte spielt, ist ein Friedhof. Das ist symbolisch gemeint. Die, die damals gelebt haben, liegen da jetzt.
Was er in der Kneipe übers Leben lernte
Warum schreiben Sie immer über die kleinen Leute?
Um eine Zeit deutlich zu machen, ist es besser, man geht zu denen, die ums Überleben kämpfen mussten: Ackerstraße, jeden Tag kam der Leichenwagen mehrmals, um Kinder abzuholen, die an der Hungergrippe gestorben sind. Reiche Leute in Dahlem bringen es bei mir nur zu Kurzgeschichten.
In mehreren Romanen erzählen Sie die Geschichte Ihrer Familie. Haben Sie ein Elefantengedächtnis?
Ich kann mich an 1946 erinnern, da war ich drei. Ich bin ja in Prenzlauer Berg aufgewachsen, am heutigen Fröbelplatz. Da haben die Leute nach dem Krieg bis '47 Tomaten und Kürbisse angebaut, ich seh noch die kleinen Parzellen vor mir, abgetrennt mit rostigen Bettgestellen.
Die Kneipe Ihrer Mutter hieß „Zum ersten Ehestandsschoppen“, sie lag in der Nähe des Standesamtes. Was haben Sie da über das Leben gelernt?
Ich saß oft mit Malzbier im Zigarettenqualm zwischen Trümmerfrauen und Müllfahrern. Den Gedanken, dass Erwachsene klüger sind, habe ich schnell nicht mehr gehabt. Mein Lehrer hat geweint, als unser Genosse Stalin gestorben ist. Am Stammtisch sagten sie: „Endlich ist der Hund verreckt.“ Der jüdische Schneidermeister lachte neben einem, der früher Nazi gewesen ist, über denselben Witz. Der eine hat sein Leid verdrängt, der andere seine Verbrechen. Abends tanzten Frauen auf dem Tisch und sangen: „Schieb’n rein, schieb’n langsam rein, aber schieb’n immer rein.“ Ich dachte, was soll da wo reingeschoben werden?
In „Das Karussell“ erzählen Sie, wie Ihre Mutter vom Leben Ihres Vaters berichtete.
Sie wusste auch nur Eckdaten. Ich zögerte daher lange, ob ich über meinen Vater schreiben darf – ich habe nur ein einziges Foto von ihm. Niemand außer meiner Mutter konnte mir was erzählen. Beim Schreiben hab’ ich immer gedacht, der steht hinter mir und sagt: Alles Quatsch. Er hatte so ein furchtbares Pechvogelleben: als uneheliches Kind 1908 von einem Dienstmädchen geboren, ins Waisenhaus gesteckt, die Mutter hat ihm die Schuld gegeben, dass ihr Leben kaputt ist. Er hatte nie ’ne eigene Wohnung, immer zur Untermiete, bisschen Glück, als er meine Mutter traf, dann Krieg und mit 35 Jahren ist alles vorbei. Ich war in der Dienststelle für die Benachrichtigung von gefallenen Wehrmachtsangehörigen, in Reinickendorf. Als sie die Karteikarte meines Vaters rauszogen, sind mir die Tränen gekommen.
Helfen Ihnen die vielen schlimmen Erlebnisse beim Schreiben?
Es gab keine bessere politische Schulung, als in den 50ern in Berlin Kind gewesen zu sein. Ich habe an der Grenze zum Wedding beide Systeme kennen gelernt und mit der Muttermilch aufgesogen, was Politik heißt. Ich erinnere historische Momente so: Als Kinder haben wir im Café Achteck – Pissoir – die Kondome aus dem Automaten gezogen. Die konnte man größer aufblasen als Luftballons. Auf einmal hat das 50-Pfennig-Stück nicht mehr reingepasst. Warum? Währungsreform.
Fühlen Sie sich fremd, wenn Sie heute durch Prenzlauer Berg gehen?
Natürlich ist das ein bisschen Disneyland geworden. Die Bevölkerung wurde ausgetauscht. Ist hart, man kann’s aber nicht ändern. Ich hätte nie gedacht, dass da so schöne Häuser stehen. In meiner Kindheit waren die grau und verfallen. Ein Haus allerdings sieht heute noch so aus: das, in dem ich aufgewachsen bin, Ecke Raumerstraße und Prenzlauer Allee. Am linken Kellereingang hatte damals jemand eingeritzt: „Klaus ist doof“. Steht da, glaube ich, immer noch.
Klaus Kordon über seine Berliner Kindheit
Was vermissen Sie aus dem Berlin Ihrer Kindheit?
Es gab so viele kleine Geschäfte, beim Bäcker hab’ ich zwei Salzstangen bestellt, beim Fleischer nie bezahlt, der wusste, irgendwann kommt die Mutter. Der Schneider hat mich reingerufen, als meine Mutter schon gestorben war. Ich hab’ auf dem großen Bügeltisch gesessen, und er hat mir Mut gemacht. Das war so ein urbanes, menschliches Leben. Jetzt kommt das wieder, aber anders, Spielzeugläden für betuchte Leute, Kunstgegenstände.
Verstehen Sie den weltweiten Berlin-Hype?
Ja - nach der Ausreise haben wir 15 Jahre wegen der Kinder in Hessen gelebt. Da habe ich Berlin vermisst. Plötzlich hat es mich gefreut, wenn jemand im Fernsehen berlinert hat, plötzlich war es wichtig, wie Hertha spielt, plötzlich kaufte ich mir Schallplatten mit Berliner Liedern. Mein Traum war, in einem wiedervereinigten Berlin in einer Altbauwohnung zu leben. Ich sage immer: Bis 30 müsste man in Friedrichshain wohnen, ab 30 im Prenzlauer Berg, ab 50 in Steglitz. Wir wohnen seit 20 Jahren in einer Altbauwohnung am Stadtpark Steglitz.
Nervt Sie eigentlich die Ostalgie?
Gegen Ampelmännchen habe ich nichts, aber eine Zeit lang war's im Fernsehen furchtbar. Katarina Witt im FDJ-Hemd. Man kann sich ja über den ABV, den Abschnittsbevollmächtigten der Polizei, lustig machen. Aber nicht über den Knast in Hohenschönhausen. Probleme habe ich, wenn es drum geht: War die DDR ein Unrechtsstaat oder keiner? Günter Grass sprach von der „kommoden Diktatur“. Das kann nur einer sagen, der da nicht gelebt hat. Leute, die ihre Meinung sagen wollten, hatten nicht das Gefühl, in einer kommoden Diktatur zu leben. Wer da im Knast gesessen hat, weiß die Antwort.
Sie saßen 1973 ein Jahr in Hohenschönhausen. Warum haben Sie fast 30 Jahre gewartet, bis Sie diese Geschichte in „Krokodil im Nacken“ aufschrieben?
Ich wollte ein faires Buch schreiben, das man auch nach 20 Jahren noch lesen kann, ohne sich zu schämen. Hätte ich das sofort geschrieben, wäre es eine bitterböse Abrechnung geworden. Ende der 80er Jahre habe ich mich so weit gefühlt, dann fiel die Mauer, alles war wieder frisch.
1972 hatten Sie versucht, aus der DDR zu fliehen.
Ich kam im Berufsleben nicht weiter, weil ich nicht in die Partei eintreten wollte, ich hatte immer politisch Ärger, und ich wollte schreiben. Wären wir geblieben, wäre ich wahrscheinlich in den Alkohol abgeglitten.
Sie wollten ihn zum Zellenspitzel machen
In Bulgarien hat man Sie und Ihre Frau dann festgenommen. Die Kinder kamen ins Heim. Was war die perfideste Methode Ihrer Vernehmer?
Einmal haben sie mich spät abends geholt, da saß nicht nur mein Vernehmer, sondern noch so ein anderer Typ. Ich habe ihn in meinem Buch „Bruder Fischherz“ genannt. Die beiden waren scheißfreundlich, boten mir Zigaretten an, fragten mich, was ich davon halten würde, Wiedergutmachung zu leisten. Würde das Strafmaß reduzieren. Die wollten mich zum Zellenspitzel machen, ich sollte andere aushorchen. Ich hab’ geschmunzelt: Ich bin ja charakterlich verkommen, aber so sehr doch noch nicht. Sie haben Ehepaare gegeneinander ausgespielt. Uns wollten sie weismachen, wir wären ehebrüchig geworden.
Hat Sie das verunsichert?
Überhaupt nicht. Ich kannte ja meine Frau.
Wie haben Sie die fünf Monate Einzelhaft ausgehalten?
Ich hab’ im Kopf Romane geschrieben. Sich selbst ’ne Geschichte erzählen, ’ne Welt ausdenken, die mit der Zelle nichts zu tun hat… Später habe ich Bücher bekommen. Die hat man dann mehrmals durchgelesen, auch wenn es nur das „Liebesleben der Insekten in der Taiga“ war. Mit dem Fingernagel unterstrich ich Wörter wie Freiheit oder Selbstbestimmung. Als die Wachleute das gemerkt haben, gab’s gar nichts mehr zu lesen. Kurz sind mir die Tränen gekommen, ich haute mit dem Kopf gegen die Wand. Dann dachte ich, so bekommen sie dich nicht klein. Mich hat überrascht, dass ich mich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte. Hätte ich mir gar nicht zugetraut.
Sie waren zwei Jahre von den Kindern getrennt. Haben die Ihnen einen Vorwurf gemacht?
Die Kinder waren sechs und neun bei der Trennung. Als der Westen uns Eltern längst freigekauft hatte, hat die DDR die Kinder noch ein weiteres Jahr behalten. Im Kinderheim hat man ihnen gesagt, dass die Eltern was Böses getan haben. Haben sie nicht geglaubt. Als sie dann bei uns waren, haben sie nicht gefremdelt – nur gestritten, wer bei uns im Bett schlafen darf. Meine Tochter hat Strichliste geführt. Verstanden haben sie uns zuerst nicht. War doch alles gut gewesen in der DDR. Wir haben sonntags Eis gegessen und sind im Sommer an die Ostsee gefahren. Später, als sie älter wurden, haben sie es kapiert. Mein Sohn kam von einer Klassenfahrt aus Dresden und sagte: „Wenn ihr dort nicht im Gefängnis gesessen hättet, hätte ich da sitzen müssen.“
Ist die Wut heute weg?
Ja. Mich ärgert weniger, dass es Diktatoren gibt. Mich ärgert, dass immer ein Haufen Leute mitmacht. Oft sind die sogar intelligent. So wie mein Vernehmer bei der Stasi. Ich war 29, er vielleicht 28. Der weiß doch genau, dachte ich, dass deine Frau und du keine Gangster sind. Meint der, dass die Moral auf seiner Seite ist? Dann sehe ich jetzt, wie in Moskau und anderswo Demonstrationen niedergewalzt werden. Wieder machen viele mit.
Wir lernen nicht aus der Geschichte?
Kästner sagte: „Immer wieder kommen neue Maler, die die Wände neu anstreichen. Es ist immer ’ne andere Farbe, aber immer dieselbe Wand.“ Ich würde es nicht so hart sagen, es gibt ja Fortschritte. Siehe Südafrika.
Schreiben Sie deshalb?
Ich glaube nicht, dass man mit Büchern die Welt verändern kann, sonst hätte es nach dem Ersten Weltkrieg keinen Zweiten gegeben. Ich glaube aber, dass ich in den Köpfen der einzelnen Leser was bewegen kann.
Thomas Mann hat sich gequält beim Schreiben. Wie ist das bei Ihnen?
Ich zweifle mich vorwärts. Das „Krokodil“ habe ich zehnmal überarbeitet, nach dem achten Mal hab’ ich’s meinem Lektor gegeben, der sagte: Lieber Klaus, alles gut, aber 1000 Seiten sind zu viel. Ich habe gekürzt und es auf 800 gebracht. Weniger wären nicht gegangen.
Weshalb Jugendliche die besseren Leser sind
1000 Seiten, und dann auch noch mit der Hand?
Ich schreibe mit einem Fineliner auf Karopapier, meine Frau tippt ab. Sie druckt es aus, ich gehe mit der Hand drüber, mache kaputt, was sie geschrieben hat, bis ich immer weniger kaputtzumachen habe. Die Schreibmaschine stört mich, da drücke ich mich anders aus, fasse mich kürzer. Ich will mich ja lang fassen!
Begleiten Ihre Figuren Sie?
Wenn ich mit meiner Frau durch Berlin spaziere, sage ich manchmal: Auf dieser Brücke hat Helle mit Heiner gestanden, jetzt kommen wir gleich an dem Haus vorbei, in dem meine Jette gewohnt hat.
Ärgert es Sie, dass Sie als Jugendbuchautor gelten?
Für mich gibt es nur Kinderbücher und Bücher. Wenn einer 14 ist und gerne liest, kann er doch alles lesen. Ich habe in dem Alter Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ gelesen und konnte nicht alles verstehen, wollte aber wissen, ob Andrej die Natascha kriegt. Und als er gestorben ist, da habe ich die Welt einreißen mögen. Beltz verkauft mein „Krokodil“ als Jugendbuch, bei DTV gibt’s das für Erwachsene. Die kaufen es mehr.
Sind Jugendliche bessere Leser?
Ja, sie sehen die Welt mit neuen Augen, und manche wollen sie auch ändern. 16-Jährige fragen sich: Muss das so sein?
Sie haben mal die heutige Jugendliteratur als größtenteils unpolitisch kritisiert. Was halten Sie von Harry Potter?
Ich hab zehn Seiten lang reingeschaut, die Sprache, die Sache hat mir nicht gefallen. Ich hab schon in meiner Jugend nicht viel für Fantasy übrig gehabt. Jack London, Wolfsblut, das war Wirklichkeit, das war Leben, aber Alice im Wonderland, dafür hatte ich keine Ader. Fantasie ist nicht gleich Fantasy. Ich hab nix dagegen, dass es das gibt, nur, dass die Leute so sehr darauf abfahren. Der neue Harry Potter, das war wie „der neue Beaujolais ist da!“, eine tolle Marketingsache. Wenn man das als Autor sagt, klingt das nach Neid. Den empfinde ich gar nicht.
Müsste sich einer wie Sie mit seinen Büchern nicht viel mehr in aktuelle Themen einmischen? Flüchtlinge, Neonazis…
Das habe ich alles schon gemacht. Ich habe ein Buch geschrieben über einen jungen Türken, dessen Eltern zurück in die Türkei gehen und der nicht mit will, weil er hier aufgewachsen ist, ich habe über Drogen, über Alkoholiker, über die Dritte Welt geschrieben, irgendwann hat so ein Thema sich erschöpft. Auch mit der Historie ist jetzt Schluss.
Die Geschichte ist doch unendlich.
Weiter zurück bis ins Mittelalter? Interessiert mich nicht. Ich habe von 1806 bis heute immer wieder über historische Wendepunkte geschrieben. Jetzt schreib ich erstmal was für Kleinere, mit Tieren, die sprechen können und danach will ich etwas schreiben, das in der Gegenwart spielt.
Ihre Kinderbücher, über Lütt Luftballon und Paula Kussmaul, die schreiben Sie so zwischendurch?
Wenn ich einen historischen Roman geschrieben habe, mich anderthalb Jahre mit Krieg und Revolution beschäftigt, dann will ich nach dieser Beethoven-Symphonie ein bisschen was von Mozart. Was Leichteres, Heiteres, wo man beim Schreiben schmunzeln kann. Es muss aber auch in den realistischen Büchern Humor drin sein, sonst kann sie der Leser oft gar nicht ertragen. Es gab in den schlimmsten Phasen der Geschichte diesen Galgenhumor, mit dem die Menschen sich am Leben gehalten haben.
Woher wissen Sie, was Sie Kindern zumuten können und was nicht?
Aus dem Bauch. Man darf nichts verniedlichen. Wenn im „Ersten Frühling“ meine Änne mit dem Großvater nach dem Bombenangriff vom 3. Februar durch die Berliner Innenstadt geht und alles brennt und auf der Straße liegen Leichen, dann kann ich nicht so tun, als ob da nur ein paar Steine rumliegen. Das sollen ja auch Leute lesen, die Kontakt zu Neonazis haben und auf diese Weise erfahren, was dieses "Heil Hitler" mal bewirkt hat.
Was brauchen Kinder?
Alles. Märchen, Realität, Fantasy. Wenn ich lese, muss mein Kopf selbst Bilder entwerfen, die Fantasie, eine Art Muskel, wird geschult. Ein Buch ist zunächst nur ein Haufen Papier. Wenn man liest, beginnt es zu leben. Das kann kein anderes Medium leisten. Ich weiß von einem Jungen, der wollte nicht lesen. Die Mutter holte immer leichtere Bücher ran, nichts half. Da hat die Lehrerin zu der Mutter gesagt, geben Sie ihm mal die „Roten Matrosen“ von Kordon, das ist spannend. Er hat alle 500 Seiten gelesen. Was ich da mache, wird schon gebraucht. Ich bin ja froh, dass ich mit meiner Art zu schreiben Ende der 70er angefangen habe. Ich kenne einige junge AutorInnen von realistischen Büchern, die es auf dem heutigen Buchmarkt sehr schwer haben.
Haben Sie eigene Vorbilder?
Bulgakow, Meister und Margerita, habe ich zuletzt gern gelesen, Mark Twain oder Jack London immer schon. Huckleberry Finn ist heute noch eines meiner Lieblingsbücher. Kästners Gedichte konnte jeder lesen, von der Verkäuferin im Warenhaus bis hin zu Professoren, keiner hat sich unter- und keiner überfordert gefühlt. Fallada hat die einfachen Menschen immer so gut beschrieben. Wenn der geschildert hat, wie 'ne Briefträgerin die Treppe hochgeht, dann hat man die wirklich die Treppe hochgehen sehen.
Sie haben so viel vom Pech erzählt. Sie werden doch mal richtiges Glück gehabt haben .
Als ich meine Frau kennen lernte. Ich war damals ’ne ganz arme Sau, manchmal so knapp bei Kasse, dass ich abends vor den kleinen Geschäften die Milchflaschen für das Pfand geklaut habe. An diesem Tag – ich kam gerade von einer Nachtschicht beim Waggonentladen – hatte ich kein Geld für die Fahrt zum Faschingsfest. Als ich in die Dunckerstraße biege, liegt da ein Portemonnaie mit 100 Mark. Ich gestehe, ich habe es behalten.
Damit sind Sie dann zur Großgaststätte Plänterwald gefahren. Liebe auf den ersten Blick?
Ich habe sie nicht gesehen und gleich geliebt – aber sie hat mir sofort gefallen. Ich war immer schon mehr für die Dunkelhaarigen. Ich hab’ getanzt mit ihr und sie gefragt, wie sie heißt: „Fängt mit J an“, sagte sie, da sagte ich: „Justav“. Sie heißt Jutta. Ich hab’ sie dann gefragt, ob wir heiraten wollen. Da gab’s so ein Faschingsstandesamt, da durfte man das Mädchen nach der Hochzeit küssen – das konnte einem damals nicht schnell genug gehen. Ab dann hab’ ich die Tage gezählt, die wir miteinander gegangen sind. Fünf Wochen, acht Wochen, inzwischen sind es über 50 Jahre.
Wie schafft man das?
Wir wollten ein Nest bauen. Ich mit meinen Jugendheimerfahrungen, sie wollte weg von der Stiefmutter. Mit 19 habe ich geheiratet, mit 20 war ich Vater. Meinen Traum, Schauspieler zu werden, hab’ ich aufgegeben, ich wäre ja nicht gleich ans Deutsche Theater gekommen, sondern hätte erst mal in die Provinz gehen müssen. Hätte meine Frau ihren Beruf, Abteilungsleiterin, meinetwegen aufgeben sollen? Ich mag eh keine Frauen, die mit ihren Männern überall hinzuckeln. Eins muss ich unbedingt noch erzählen. Kaum hatten wir geheiratet, da habe ich genau dort, wo ich das Geld gefunden hatte, 100 Mark verloren. Da war mein Leben wie eine Szene aus einem Roman.
Julia Prosinger, Christoph Stollowsky
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