Interview mit Sahra Wagenknecht: „Ich würde Goethe gerne eine Frage stellen“
Mit zehn las Sahra Wagenknecht tapfer Spinoza, einen eReader lehnt sie ab. Ein Gespräch mit der Linken-Politikerin zur Leipziger Buchmesse über Amazon, Angela Merkel und Monopoly.
Frau Wagenknecht – oh Verzeihung, eigentlich müssen wir jetzt Frau Dr. Wagenknecht sagen …
Der Titel ist mir nicht als Selbstzweck wichtig.
Sie haben doch genug um die Ohren. Warum haben Sie auch noch eine Dissertation geschrieben?
Weil ich als Linke und als Frau doppelt im Verdacht stand, von Ökonomie keine Ahnung zu haben … Die Kompetenz kommt natürlich nicht vom Titel, ein solcher Abschluss dokumentiert aber, dass man sich in die Materie gründlich eingearbeitet hat.
Das Thema Ihrer Doktorarbeit lautet: „Die Grenzen der Wahl. Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse in entwickelten Ländern.“ Damit sind Sie deutlich überqualifiziert für die meisten Talkshows.
Die Erkenntnis, dass eine privatisierte Rente nie funktionieren kann, weil ein Großteil der Bevölkerung schlicht keine Möglichkeit hat zu sparen, passt sehr gut in eine Talkshow.
Ihr früherer Parteichef Lothar Bisky nannte Sie "Njet-Maschine". Heute sind Sie beliebter als Ihre Partei. Mit welchem Gefühl beobachten Sie diesen Wandel?
Ich freue mich natürlich über gute Resonanz und habe das Gefühl, dass meine Kritik tatsächlich von vielen geteilt wird. Wer will denn im Ernst in einer Gesellschaft leben, in der die einen zum Klub der glücklichen Spermien gehören, in dem die Millionenvermögen von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Und andere arbeiten 50 und mehr Stunden in der Woche und kommen trotzdem auf keinen grünen Zweig. Das Problem ist, dass sich solche Stimmungen bisher kaum in Wahlergebnissen niederschlagen.
Winston Churchill sagte: „Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 40 Kommunist ist, keinen Verstand.“ Sind Sie noch Kommunistin?
Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Für Karl Marx war der Kommunismus eine humane Utopie. Der Sozialismus dagegen war für ihn die konkrete Alternative zum Kapitalismus – jeder wird nach dem entlohnt, was er für die Allgemeinheit leistet. Leider wird Kommunismus heute meist mit dem Gesellschaftsmodell der Sowjetunion oder der DDR identifiziert und nicht mit der Tradition Rosa Luxemburgs, der Gründerin der Kommunistischen Partei in Deutschland.
Ein viel beschriebenes Klischee: Sahra Wagenknecht und Rosa Luxemburg – schon äußerlich Ihr Vorbild …
Absurd. Sie unterschätzen mich, wenn Sie glauben, ich würde Menschen, die ich verehre, kopieren. Wäre ich ein Mann, würde ich mir sicher auch keinen Vollbart wachsen lassen.
Von klein auf waren Sie eher Einzelgängerin. Wären Sie in der DDR weniger glücklich geworden, als Sie es heute sind?
Die große Liebe meines Lebens hätte ich ohne die Vereinigung sicher nicht kennengelernt. Auch mein erster Mann war ein Westdeutscher. Es ist völlig spekulativ, wie mein Leben in der DDR verlaufen wäre. Ich weiß nicht mal, ob und wann ich hätte studieren können.
Sie waren kurz vor dem Umbruch auf dem direkten Weg in die Illegalität, ja, Asozialität … Sie lachen.
Ja, so hieß das damals. Man konnte in der DDR eigentlich nicht einfach zu Hause bleiben, es gab da einen Strafrechtsparagrafen, aber der wurde faktisch nicht mehr angewandt.
Sie haben Ihren Sekretariats-Job an der Humboldt-Uni wegen Langeweile aufgeben. Hatten Sie keine Angst vor den Konsequenzen?
Ich wollte keine Zeit verlieren, wollte Hegel und Kant lesen, statt Texte an der Schreibmaschine abzutippen. Da ich zunächst nicht an die Universität konnte, habe ich eben zu Hause studiert. Doch wenn man nur in den eigenen vier Wänden sitzt und Bücher verschlingt, ist das natürlich kein glückliches Leben.
Sehen Sie sich heute als glücklichen Menschen?
Privat ja. Politisch natürlich nicht. Ich mache mir sehr große Sorgen, wie es in Europa und auch in Deutschland weitergeht. Wir haben in Griechenland nicht nur eine starke Linke, sondern auch erstarkende Faschisten, braune Schlägertruppen übelster Art. Wenn jeder zweite junge Mensch keine Arbeit hat, muss man sich fürchten, dass das irgendwann nach rechts geht. Das gilt nicht nur für Griechenland.
Frau Wagenknecht, Sie haben Ihre beiden Westmänner angesprochen. Verstehen Sie eigentlich West- oder Ostdeutsche besser?
Der Unterschied spielt für mich eigentlich gar keine Rolle mehr. Den Großteil meines bewussten Lebens habe ich sowieso in der Bundesrepublik verbracht. Den Ost-West-Gegensatz, wie er in der politischen Debatte hochgespielt wird, finde ich völlig konstruiert.
Und wo fühlen Sie sich zu Hause?
Mein Zuhause ist heute das Saarland. Ich fühle mich dort sehr wohl – vielleicht auch, weil der Saargau landschaftlich Thüringen ähnelt, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Letztlich hat man sein Zuhause da, wo man glücklich ist, wo Menschen leben, die man gern hat. Und da, wo wir wohnen, gibt es oft nicht mal Funknetz, herrlich.
Auf der Homepage Ihres Wohnorts steht: „Merzig, die Heimat des Viez, des saarländischen Apfelweins – mit seiner so ganz besonderen Mischung aus deutscher Gründlichkeit, französischem Charme und luxemburgischer Gemütlichkeit.“
Die französische Lebensart habe ich gern. Wir wohnen so nah an der Grenze, dass man mit dem Fahrrad in fünf Minuten in Frankreich ist. Wenn wir morgens ein Baguette wollen, holen wir es dort. Wenn man mit Europa etwas Positives verknüpft, dann ist es ja gerade dieses Lebensgefühl, Grenzen nicht mehr zu spüren. Schuldengipfel oder Brüsseler Bürokratie, das macht Europa eher kaputt.
Sie sind eine leidenschaftliche Leserin. Haben Sie jetzt zwei Bibliotheken – eine in Karlshorst, eine in Merzig?
Ich trag die Bücher hin und her. Oft ist genau das Buch, in dem ich etwas nachlesen will, gerade dort, wo ich nicht bin.
Kaufen Sie sich doch einen eReader.
Nee, ich weiß nicht, wie Menschen eBooks lesen können. Für mich muss ein Buch aus Papier sein, das ich in der Hand halte. Ich will Seiten umschlagen, will reinschreiben können. Ich unterstreiche, ich kommentiere.
Mit vier haben Sie lesen gelernt. Wer hat es Ihnen beigebracht?
Meine Oma. Sie wollte mir lieber vorlesen, aber sie hat halbtags gearbeitet. Also wollte ich selber lesen können.
„Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt“ oder „Alfons Zitterbacke“?
„Die Schneekönigin“! Das war mein Lieblingsmärchen. Die Kälte, das gefrorene Herz …, und wie der Junge am Ende doch wieder er selbst wird, weil das Mädchen ihn liebt. Ich ging immer in eine Kinderbibliothek und holte mir neue Bücher. Meist so viele, dass ich sie in der Leihfrist von vier Wochen gar nicht lesen konnte.
"Spinoza habe ich nicht verstanden, aber ich las standhaft weiter."
Das erste Buch für Erwachsene, wann haben Sie das gelesen?
Viel zu früh, so mit zehn, holte ich mir Freud und Spinoza aus dem Bücherregal meiner Mutter. Ich habe nichts verstanden, las aber trotzdem standhaft weiter.
Eine komische Eigenschaft, weiterzulesen, obwohl man nichts versteht.
Zumindest ist das eine Eigenschaft von mir. Später war sie mir bei der Hegel’schen Logik von Nutzen. Am Anfang weiß man nicht, wovon der Mann redet, aber irgendwann erschließt sich, dass das keine Rabulistik ist, sondern sehr tiefe Gedanken.
Wegen Hegel sind Sie zum ersten Mal nach West-Berlin gefahren, den fehlenden Band gab es nur in der Stabi. Ein halbes Jahr lang blieben Sie in Karlshorst, obwohl die Mauer schon gefallen war.
Ich hatte weder Verwandte im Westen noch Westgeld. Es ist doch müßig, durch eine Stadt zu streifen, in der man sich noch nicht mal einen Kaffee kaufen kann.
Was war mit Ihrem Begrüßungsgeld?
Wollte ich nicht abholen, fand ich demütigend.
Stellen Sie sich vor, die 19-jährige Sahra Wagenknecht würde sich hier im Bundestagsbüro bei Ihnen als Praktikantin bewerben …
… ich weiß nicht, ob ich sie nehmen würde. Ich war damals nicht gerade kommunikativ. Ich hätte auf Anhieb beantworten können, was Goethe im „Eckermann“ zu diesem oder jenem Thema gesagt hat, aber vom politischen Personal der Bundesrepublik kannte ich gerade mal den Bundeskanzler.
Sie kämpften sich also durch die Hegel’sche Logik – ist Durchhaltevermögen auch bei Belletristik eine entscheidende Gabe?
Nein, gute Literatur muss von der ersten Seite an fesseln, wie Thomas Manns „Dr. Faustus“.
Welcher ist heute Ihr Lieblingsplatz zum Lesen?
Ein richtig schöner Lesesessel, in dem ich auch zwölf Stunden sitzen kann, ohne dass mir der Rücken wehtut.
Über welchem Buch sind Sie zuletzt eingeschlafen?
Eigentlich nie. Wenn ich abends lese, muss ich mir schon die Uhr hinstellen und mir sagen: Jetzt hör’ auf. Sonst lese ich bis vier Uhr oder länger.
Leihen Sie sich immer noch Bücher aus?
Kaum noch. Ich hatte mit Bibliotheken immer Ärger, weil ich Spuren hinterließ – meine Notizen hatte ich so gut es geht ausradiert, aber irgendwas bleibt immer.
Ein starkes Argument für das Privateigentum!
Bei Büchern bin ich dafür. Sie müssen aber dann auch preiswert angeboten werden.
Können Sie uns ein Antiquariat empfehlen?
Oh-oh …
Sie kaufen also alles bei Amazon?
Früher ja, aus Bequemlichkeit. Amazon ist ein scheußlicher Konzern, aber dort findet man in wenigen Minuten jedes Buch, weil die Antiquariate ihr Angebot einstellen … Inzwischen habe ich einen Link zu einem freien Zusammenschluss von Antiquariaten gefunden, der Ähnliches bietet.
Sie müssen in Ihrem Alltag viele komplizierte Drucksachen und Anträge lesen. In dem Papier „Bodenschutz europaweit stärken“ heißt es zum Beispiel unter Punkt 6: „… einheitliche Regelung von Grenzwerten für Schadstoffgehalte in Böden, die auch synergistische und antagonistische Effekte berücksichtigen sowie Festlegung von allgemein gültigen Untersuchungsstandards hinsichtlich Methodik, Umfang, Raster und Frequenz …“
Oh je, oh je…
Das haben Sie auch unterschrieben.
Dann habe ich es auf jeden Fall überflogen. Aber richtig einarbeiten kann man sich nur im eigenen Fachgebiet. Alles andere ist Illusion. Ich bin sowieso eher für kurze, einprägsame Anträge. Natürlich sind auch die kaum poetisch nobelpreisverdächtig. Man sollte aber selbst bei fachfremden zumindest im Groben verstehen, worum es geht.
Wenn Sie hier vor dem Bundestag in eine Zeitmaschine steigen könnten: Wohin würde es gehen?
In die Goethezeit, nach Weimar. Ein Gespräch mit Goethe würde mich faszinieren. Ich würde ihn gern fragen: Wie hat er sich sein ganzes Leben lang den Glauben an die Menschheit und eine menschliche Zukunft bewahrt? Goethe hat den Kapitalismus in all seiner Barbarei hinaufziehen sehen und hat prophetisch gesagt: Das wird’s nicht gewesen sein. Über diese Perspektive würde ich mich gern mit ihm unterhalten.
Frau Wagenknecht, manche Ihrer Genossen halten Sie für kühl.
Ich möchte bei Auftritten durch Argumente überzeugen. Meist ist man öffentlich auch in der Situation der Angegriffenen. Da verhält man sich anders als auf einer Grillparty unter Freunden. Ein Politikentwurf à la Claudia Roth, diese ständige zur Schau getragene Betroffenheit, das ist nicht meins. Ich halte das für künstlich und albern.
Als Sie das Gesicht der Kommunistischen Plattform wurden, waren Sie erst 25 und meist umringt von älteren Herren in grauen Anzügen. Was hat Ihre Mutter eigentlich dazu gesagt?
Sie fand, ich sollte mich lieber auf mein Studium konzentrieren. Die PDS war damals ein geächtetes Schmuddelkind. Inzwischen sieht sie das anders.
Sie haben Überzeugungsarbeit geleistet?
Unsinn. Ich würde nie meine Mutter indoktrinieren.
Waren Sie mittlerweile im Iran, der Heimat Ihres Vaters?
Nein. Solange die politischen Verhältnisse dort so sind, wie sie sind, wäre mir das zu schmerzhaft. Ich müsste mich verschleiern. Als Frau darf man im Iran mit einem Mann, mit dem man nicht verheiratet ist, nicht nebeneinander im Bus sitzen. Wenn es irgendwann, was ich mir sehr wünsche, eine progressive Regierung gibt, würde ich gern hinfahren.
Sie haben mal Farsi gelernt.
Als Jugendliche, aus Neugier. Ich habe bei einer Studentin Unterricht genommen. Da ich es nie praktiziert habe, ist es weitgehend verschüttet.
Würden Sie zum Schluss noch einige Sätze für uns vervollständigen? An Angela Merkel mag ich …
… wie sie sich in einer männerdominierten Partei nach oben gekämpft hat. Die Art, wie sie ihre Konkurrenten beiseitegeschafft hat, finde ich schon etwas grauenerregend.
Den Sozialismus in seinem Lauf …
… ich werde Ihnen jetzt nicht den Ochs und Esel bringen. Ich hoffe, dass der Sozialismus irgendwann wieder Lauf kriegt – ausdrücklich nicht der Sozialismus der Vergangenheit, sondern einer, der attraktiv ist und den Menschen eine bessere Perspektive bietet als der heutige Kapitalismus. Entscheidend ist, dass niemand mehr die Möglichkeit hat, sich an der Arbeit anderer zu bereichern. Dass die Unternehmen denen gehören, die in ihnen arbeiten.
Heiraten würde ich noch mal, wenn …
… ich Lust dazu habe.
Wenn ich Monopoly spiele …
… dann so, dass ich möglichst bald auf der Schlossallee sitze, damit ich gewinne.
Sahra Wagenknecht, 43, ist stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei und führte lange deren Kommunistische Plattform. Sie wuchs in Jena auf, studierte Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Volkswirtschaftslehre. Heute lebt sie mit ihrem Partner Oskar Lafontaine im Saarland und in Berlin.