Charles Aznavour: „Ich rede hier von Liebe, von tiefer Liebe“
Der große Chansonnier erzählte, wie viele Kinder er wirklich hat, warum er in jeden Schwulenclub kam und warum er gern Angela Merkel getroffen hätte.
An diesem Montag ist Charles Aznavour im Alter von 94 Jahren gestorben. Wir veröffentlichen an dieser Stelle ein Interview, das er dem Tagesspiegel anlässlich seines 90. Geburtstag am 22. Mai 2014 gegeben hat.
Herr Aznavour, am 22. Mai werden Sie ...
Was?
Der 22. Mai ist Ihr ...
Bitte?
Sie haben …
Wie? Moment, ich muss die Batterien wechseln. (Fünf Minuten vergehen, während Charles Aznavour sein Hörgerät in Gang bringt.) So, jetzt geht’s. Ich bin der Einzige in diesem Business, der zugibt, dass er taub ist! Die anderen schämen sich alle.
Am 22. Mai werden Sie 90 Jahre alt. Ausgerechnet an diesem Tag treten Sie in Berlin auf. Haben Sie nichts Besseres zu tun an Ihrem Geburtstag?
Ich schere mich nicht um meine Geburtstage. 89 oder 90, was ist der Unterschied? Der Veranstaltungsort war an diesem Tag frei, also habe ich zugesagt.
Werden Sie auf der Bühne feiern?
Nein, weder auf der Bühne noch vorher oder hinterher. Warum sollte ich feiern, dass ich schon wieder ein Jahr verliere? Geburtstagspartys sind was für 18-Jährige.
Sie geben mehr als 30 Konzerte dieses Jahr, außerdem arbeiten Sie an einem neuen Album und einer neuen Bühnenshow ...
Nicht nur an einer neuen Show, sondern an dreien! Eine in Frankreich, die zweite in New York, Nummer drei in Toronto.
Ganz schön viel Stress. Andere Leute sitzen mit 90 im Garten und schneiden Rosen.
Ich habe einen sehr schönen Garten – aber da will ich doch nicht jeden Tag rumsitzen.
Sie möchten es nicht mal ein bisschen ruhiger angehen lassen?
Es ist doch schon viel ruhiger! Früher habe ich 20 Konzerte im Monat gegeben, jetzt sind es nur noch zwei oder drei. Die Leute staunen immer, dass ich überhaupt noch auftrete. Als ich vor ein paar Jahren angekündigt habe, dass ich nicht mehr auf Tournee gehe, hat irgendeine schlaue Zeitung daraus gemacht, dass ich mich von der Welt zurückziehe. Das könnte denen so passen!
Hat Ihre Zählebigkeit etwas mit Ihrer Herkunft zu tun? In Armenien, dem kaukasischen Land, aus dem Ihre Eltern stammen, werden die Menschen angeblich unglaublich alt.
Es gibt sogar Witze darüber.
Erzählen Sie einen!
Eine Frau sieht in einem armenischen Dorf einen weinenden Greis vor seinem Haus sitzen. Er schluchzt: Mein Vater hat mich geschlagen! Staunend betritt die Frau das Haus und trifft dort einen noch älteren Greis. Wieso schlägst du deinen Sohn, fragt sie, der ist doch ein alter Mann. Darauf der zweite Greis: Was soll ich tun, er hat meinen Vater beleidigt! Tatsächlich sitzt auf der Ofenbank ein noch älterer Mann, mindestens 130 Jahre alt. Die Frau läuft völlig baff aus dem Haus und trifft vor der Tür einen alten Priester, dem sie die Geschichte staunend erzählt. Ach, sagt der Priester, die drei kenne ich gut – die habe ich alle getauft!
Zwei Kinder, die gar nicht existieren
Sie selbst sind Vater von sechs Kindern ...
Vier. Das ist auch so eine Zeitungslegende. Die beiden anderen habe ich nie gezeugt! Vier Kinder, drei Enkelkinder. Urenkel habe ich leider immer noch nicht – keine Ahnung, wieso meine Enkel so lange brauchen.
Sind Sie der Großvater-Typ, der ständig Geschichten über die alten Zeiten erzählt?
Überhaupt nicht.
Aber Ihre Enkel stellen Ihnen sicher lauter neugierige Fragen über Ihre Liebesaffären.
Es würde meiner Frau nicht gefallen, wenn ich von meinen verflossenen Liebschaften erzähle.
In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, wirklich geliebt hätten Sie in Ihrem Leben „nur vier oder fünf Frauen“. Finden Sie das wenig?
Für jemanden im Showbusiness ist es wenig. Für mich ist es genug. Man darf Liebe nicht mit Affären verwechseln. Klar, manchmal trifft man ein schönes Mädchen, sie ist witzig, sie ist intelligent, sie hat Sex-Appeal, du verbringst ein paar Tage mit ihr – das passiert. Aber ich rede hier von Liebe, von tiefer Liebe. Die habe ich nur für vier oder fünf Frauen empfunden.
Wer ist die fünfte, bei der Sie sich nicht sicher sind?
Na gut – es waren fünf.
Ihr Verhältnis zu Edith Piaf haben Sie einmal als „Amitié amoureuse“ bezeichnet – ein Ausdruck, den es wahrscheinlich nur auf Französisch gibt.
Aber er ist leicht zu übersetzen: „Amitié amoureuse“ ist mehr als Freundschaft, aber weniger als Liebe. Solche Verhältnisse gab es viele in meinem Leben. Meine Ehefrau stört das nicht, viele dieser Frauen sind Freunde der Familie geworden.
Was bedeutete diese freundschaftliche Verliebtheit im Fall von Edith Piaf?
Dass wir uns immer nahe standen, dass wir Komplizen waren, ohne dass es zwischen uns je einen Akt der Liebe gegeben hätte.
Kennengelernt haben Sie Edith Piaf in den 40er Jahren ...
... bei einer Aufzeichnung für eine Radioshow. Sie saß im Publikum, ich stand mit einem Pianisten auf der Bühne, sie hörte mich singen. Danach kam sie spontan auf mich zu und fragte: Was machst du heute Abend? Nichts, sagte ich. Sie klatschte in die Hände und rief: Dann komm mit! So fing es an.
Danach war Edith Piaf jahrelang Ihre Mentorin. Was verband Sie beide?
Wir hatten vieles gemeinsam. Als Migrantenkinder sind wir beide auf den Straßen von Paris groß geworden, anders als die französischen Kinder, die unter strengerer Aufsicht ihrer Eltern aufwuchsen.
Was haben Sie von ihr gelernt?
Ich sah sie jahrelang jede Nacht singen, das war eine großartige Schule. Und sie half mir, frei zu sein. Acht Jahre lang lebte ich in ihrem Haus und hatte ein leichtes Leben. Edith hat mir nie etwas beigebracht in dem Sinne, dass sie gesagt hätte: Tu dies, lass jenes bleiben. Das brauchte ich auch nicht – ich war damals schon der, der ich heute bin. Was ich von ihr gelernt habe, ist die Liebe zum Publikum. Und die Ehrlichkeit auf der Bühne.
Die Boshaftigkeiten der Edith Piaf
Edith Piaf galt als schwierige Persönlichkeit.
Wer das sagt, ist vielleicht selbst ein bisschen schwierig. Nein, sie war eine großartige Frau. Mit vielen kleinen Boshaftigkeiten, aber auch mit viel Humor, sie war unglaublich witzig. Und sehr hilfsbereit. Verschiedene Meinungen hatten wir manchmal zu Shows, zu Filmen, aber sonst zu nichts. Darüber allerdings konnten wir wirklich streiten.
Mit Fäusten?
Zum Glück nur mit Worten – selbst wenn wir betrunken waren.
Viele waren skeptisch, als Sie in den 50er Jahren aus Piafs Schatten traten und Ihre Solokarriere begannen. Es hieß, Sie seien zu klein, Sie hätten keine Stimme, kein Charisma, Ihr Gesicht sehe aus wie das eines traurigen Clowns.
Das hat mich nur angespornt, den Leuten zu beweisen, dass sie sich irren. Und sie haben sich alle geirrt. Viele von denen schämten sich später richtig, wenn sie mir auf der Straße begegneten.
Hat Sie das gefreut?
Nein, mein Ziel war einfach, es zu schaffen. Ein Mann, der Ärger in sich trägt, wird niemals glücklich sein. Ich bin ein glücklicher Mann und will das auch bis zum Ende bleiben.
Wie wird man ein glücklicher Mann?
Man muss den richtigen Menschen zuhören, nicht den falschen. Es gibt immer jede Menge Leute, die alles großartig finden, was du machst. Ich ziehe die vor, die offen sagen: Heute Abend warst du nicht so toll. Wichtig ist, an das zu glauben, was man tut. Ängste zu bekämpfen, ihnen entgegenzutreten. Und vor allem: Optimist sein.
Ihre Lieder sind doch überhaupt nicht optimistisch.
Ein paar lustige Stücke gibt es schon in meinem Repertoire, die sind bloß nicht so bekannt, man will von mir eher die melancholischen Sachen hören. Grundsätzlich haben Sie aber recht: Glückliche Lieder sind nicht meine Stärke. Dafür braucht man eine ganz bestimmte Art von Talent, das zum Beispiel Charles Trenet hatte. Ich habe es nicht.
Wie sieht ein typischer Tag im Leben des Charles Aznavour aus?
Ich wache morgens sehr früh auf, zwischen sechs und sieben. Dann nehme ich ein Bad, ich habe so eine tolle Thalasso-Wanne zu Hause, mit 190 Düsen drin. Danach zwölf Minuten Rückengymnastik. Sobald ich rasiert und einigermaßen vorzeigbar bin, frühstücke ich mit meiner Frau. Und dann fange ich an zu arbeiten.
Arbeiten, das bedeutet ...
Schreiben. Jeden Tag. Wobei ich das meiste später wegschmeiße. Die Stellen, die einem beim Schreiben am tollsten vorkommen, stellen sich beim späteren Lesen leider oft als die schrecklichsten heraus. Das wandert dann alles in den Schredder und wird gründlich zerstört, damit keine Beweise zurückbleiben.
Sie haben mehr als 1000 Chansons geschrieben.
Die wenigsten davon haben Verkaufsrekorde gebrochen, aber das war auch nie mein Ziel. Ich schreibe keine Hits, sondern Lieder für die Bühne, Lieder, die lange bleiben. Nehmen Sie „Comme ils disent“ ...
... ein Chanson von 1972, in dem es um Homosexualität geht.
Das Lied war nie ein Riesenhit, aber es wird bis heute in Clubs in der ganzen Welt gesungen, von Männern und von Frauen, in Amerika, in Deutschland, in Italien, Frankreich, England. Wo immer auf der Welt ich einen Schwulenclub betrete, wird mir sofort ein Tisch freigeräumt, bis heute. Wegen eines einzigen Lieds, das ich vor drei Jahrzehnten geschrieben habe. Das macht mich glücklicher als jede Chart-Platzierung.
Über Ihren Plattenverlag haben Sie die Rechte am Gesamtwerk vieler Ihrer verstorbenen Kollegen aufgekauft: Edith Piaf, Charles Trenet, Yves Montand. Sie sind der Oligarch des französischen Chansons!
Ich bin nicht so reich, wie immer alle glauben. Es ist gut, Geld zu haben, aber man kann es nicht mit ins Grab nehmen, lieber gebe ich es sinnvoll aus. Mein Engagement für Armenien zum Beispiel kostet mich einiges, das sind nicht mal eben zehn Euro hier und 20 dort, damit baut man keine 47 Schulen.
Das Schöne am Älterwerden
Sie haben sich lange für die internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern eingesetzt. 2015 jährt sich die Tragödie zum 100. Mal. Hoffen Sie noch darauf, dass sich die Türkei ihrer Geschichte stellt?
Das Auftreten von Angela Merkel gegenüber Recep Tayyip Erdogan finde ich fantastisch. Wir brauchen diese Art von Willen, die Dinge auszusprechen. Es bringt Merkel keinen Nutzen und keinen Vorteil, aber sie tut es trotzdem. Ich hoffe, sie eines Tages treffen zu können, um ihr zu danken.
Der Völkermord war es, der Ihre Eltern zur Flucht aus ihrer Heimat trieb.
Sie gelangten über Thessaloniki nach Marseille, von wo sie eigentlich weiterwollten nach Amerika. Das klappte nicht, und so landeten sie am Ende in Paris. Worüber ich sehr froh bin. Der französischen Kultur wegen. Ich liebe Amerika, aber la culture américaine ist nicht meine Kultur.
Ihr Vater war Sänger, Ihre Mutter Schauspielerin. Beide mussten ihre Berufe aufgeben, um als Einwanderer ihre Kinder durchzubringen.
Meine Mutter spielte in Paris gelegentlich noch mit anderen armenischen Schauspielern Theater, mein Vater sang ab und zu bei Bällen, auf Armenisch und auf Russisch. Abgesehen davon mussten sie mit anderen Berufen überleben. Mein Vater unterhielt in Paris ein russisches Restaurant. Es gab Borschtsch, Kiewer Koteletts und so weiter – ich weiß noch, wie lecker es war.
Haben es Einwanderer heute in Frankreich schwerer als damals? In den Pariser Vorstädten kommt es immer wieder zu Unruhen.
Damals war es für Einwanderer auf jeden Fall leichter, Arbeit zu finden. Der Druck war auch größer, weil man kein Arbeitslosengeld bekam. Ich erinnere mich, als ich als Kind in Paris die Theaterschule „École des Enfants des Spectacles“ besuchte, da bekam ich schon nach drei Tagen einen Vertrag für meine erste Nebenrolle im Theater. Das war übrigens ein deutsches Stück namens „Emil und die Detektive“, kennen Sie das?
Natürlich, das kennt jeder in Deutschland. Viele Ihrer Lieder haben Sie später auch auf Deutsch gesungen, zu einer Zeit, als die Erinnerung an den Krieg noch frisch war. Hatten Sie keine Angst, dass man Ihnen das in Frankreich übelnehmen würde?
Bedenken dieser Art gab es eher bei manchen meiner Filmrollen. Ich erinnere mich, als ich Ende der 50er Jahre das Drehbuch zu „Jenseits des Rheins“ von André Cayatte in die Hände bekam, da wurde ich gewarnt, der Film sei zu versöhnlerisch. Der Produzent war ein rumänischstämmiger Jude, der wollte das Projekt unbedingt machen, weil er fand, die Zeit sei reif für eine Aussöhnung zwischen uns und den Deutschen. Er sagte zu mir: Mach dir keine Sorgen – wenn der Film ein Erfolg wird, werden sie alle vergessen, wovor sie dich gewarnt haben. Genau so kam es dann auch.
Deutschland war für Sie ein Land wie alle anderen?
Nicht ganz. Wir drehten „Jenseits des Rheins“ in Baden-Baden. Natürlich hatten uns alle vor dem Essen gewarnt: nichts als Kartoffeln. Stimmte nicht. Das Essen war schwerer als das französische, aber gut. Auch das deutsche Familienleben mochte ich. Außerdem gab es wunderbare Pferde in Baden-Baden – ich war damals ein großer Pferdenarr. Bloß waren diese deutschen Tiere so riesig, dass ich nicht ganz so elegant in den Sattel springen konnte wie bei meinen eigenen Pferden daheim ...
Von der Statur her werden Sie gerne mit Napoleon verglichen, dem anderen großen kleinen Franzosen ...
... dem seine Körpergröße auch nie geschadet hat. Übrigens ist das Reiten das, was mir im Alter am meisten fehlt. Diese Leichtigkeit der Bewegung.
Und was ist das Schönste am Älterwerden?
Am Leben zu sein.
Sie haben gesagt, auf Ihrem Grabstein solle stehen: Hier ruht der älteste Mann des ganzen Friedhofs.
Das wünsche ich mir immer noch. Nur eine Sache würde ich gerne ergänzen.
Nämlich?
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