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Hubertus Kraut.
© David Heerde

Brandenburgs Forstdirektor: „Ich empfinde mich als Waldmensch“

Wenn der Keiler kommt, langsam rückwärtsgehen, rät Förster Hubertus Kraut. Ein Gespräch über Blaubeeren, Holzpreise und das Wesen der märkischen Kiefer.

Hubertus Kraut, 50, ist als leitender Forstdirektor Brandenburgs verantwortlich für 270 000 Hektar Wald. Der Sohn eines Revierförsters studierte im Erzgebirge. Stationen seiner Laufbahn sind Cottbus, Finsterwalde und Doberlug-Kirchhain.
Kraut ist verwitwet, Vater eines Sohnes und lebt am Schwielowsee.

Herr Kraut, es ist jetzt kurz nach zehn Uhr, waren Sie heute schon im Wald?

Ja, um 5 Uhr 30, mit meinen beiden Beagles.

Das sind doch Jagdhunde, Sie waren auf der Pirsch?

Das war privat. Als Direktor eines Betriebes mit knapp 2000 Beschäftigten sitzen Sie zu 90 Prozent im Büro. Der Beruf ist sehr viel unromantischer, als Sie sich das vorstellen. Idealisten sind wir trotzdem, von unserer Arbeit haben erst kommende Generationen etwas.

Es dauert lange, bis Sie einen Baum fällen können.

Bei der Eiche sind das 150 bis 200 Jahre, bei der Kiefer die Hälfte, je nach Bodengüte. Die Bewirtschaftung spielt auch eine Rolle. Halte ich die Bäume dicht, wachsen die langsam, dafür haben sie festes Holz. Kriegen sie schnell mehr Licht, wächst die Krone, und sie werden schneller dick.

Was ist mit Goethe: „Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du – kaum einen Hauch.“ Ist in Ihrem Wald gar kein Platz für Poesie?

Wenn im Frühjahr die Nachtigall loslegt, daran erfreue ich mich schon. Es hängt von der Stimmungslage ab. Manchmal sehe ich den Wald gar nicht, sondern habe meinen Tagesablauf vor Augen.

Und wenn Sie vor einem dicken Baum stehen, denken Sie, den fäll’ ich, oder spüren sie wie Theodor Fontane Ergriffenheit angesichts so eines Methusalems?

Ich erinnere mich an die Eichen von Ivenack in Mecklenburg. Die zählen mit 1000 Jahren zu den ältesten in Europa. Da fragt sich wohl jeder, was die alles erlebt haben. Aber ich war als Student zuletzt da. Diese Momente der Besinnung habe ich eher, wenn ich auf der Jagd bin. Ich sitze dann auf dem Hochstand und die Gedanken schweifen.

Der Griff in den Waffenschrank

Hubertus Kraut.
Hubertus Kraut.
© David Heerde

Wann haben Sie das letzte Mal in Ihren Waffenschrank gegriffen?

Vorige Woche, heute Abend tue ich es wieder.

Warum Hochstand und nicht Pirsch?

Auf dem Hochstand kann man das Wild näher rankommen lassen und sicherer schießen. Das Tier soll ja nicht leiden, sondern schmerzfrei sterben.

Aber sterben soll es schon. Haben Sie kein Mitleid?

Ich bin das Kind eines Försters. Ich kann jedoch nachvollziehen, wenn jemand Probleme damit hat. Die meisten Leute sind es gewohnt, sich beim Metzger ein Schnitzel zu kaufen, ohne daran zu denken, dass dieser Klumpen Muskelmasse mal ein Tier war.

Wer Fleisch isst, muss auch töten können.

Muss er nicht. Aber er muss verstehen, was er vor sich hat. Dann wäre er vielleicht bewusster im Umgang mit Fleisch und würde es nicht zehnmal in der Woche essen. Jedes Tier im Wald stirbt besser als eines, das durch halb Europa zum Schlachthof gekarrt wird. Das Wild hat ein artgerechtes Leben gehabt. Ob das bei jedem Stallvieh garantiert werden kann, muss bezweifelt werden.

Was machen wir denn, wenn wir beim Joggen vor einem Keiler stehen, der mit den Hufen scharrt?

Sie sollten langsam rückwärtsgehen. Wenn Ihnen so ein Wildschwein mit seinen Zähnen mitten im Wald die Beinarterie öffnet, kann es passieren, dass Sie verbluten. Aber in der Regel wird die Wildsau flüchten. Das heißt, im November steckt der paarungsbereite Keiler voll Testosteron, das macht ihn mutig. Dann ist Rückzug angesagt. Und wenn im Frühjahr die Muttersau mit ihren Frischlingen unterwegs ist, besser auch.

Und wenn plötzlich ein Wolf vor mir auftaucht?

Den kriegen Sie nicht zu sehen. Obwohl es hier inzwischen schätzungsweise 100 Wölfe gibt, eine ansehnliche Population. Brandenburg hat hohe Wildbestände, die finden genug Nahrung.

Warum er Bambi tötet

Hubertus Kraut.
Hubertus Kraut.
© David Heerde

Ist hoher Wildbestand gut oder schlecht?

Kommt darauf an, für wen. Die Jagd ist lukrativ und interessant, wer das will, den freut das vielleicht. Für den Wald ist es zu viel Wild.

Deshalb müssen Sie Bambi töten, was Ihnen sicher viele Leute übel nehmen.

Rehe sind sehr wählerisch, ausgerechnet Eichenknospen haben sie am liebsten. Deshalb müssen wir die jungen Bäume aufwendig mit Zäunen schützen.

Das Reh ist ein Schädling.

Es ist kein Schädling, wir haben nur zu viele. Ich registriere schon eine Entfremdung von der Natur. Vor solch einem Hintergrund entsteht das Bambi-Syndrom, also die Verniedlichung von natürlichen Prozessen. Wir haben keine Prädatoren oder nicht genug …

Prädatoren?

Raubtiere. Deshalb muss der Mensch das übernehmen, um wenigstens ein sekundäres Gleichgewicht herzustellen.

Hubertus ist der Schutzpatron der Jäger, war das der Wunsch Ihres Vaters, dass Sie so heißen?

Nein, das war meine Mutter. Bei uns hießen alle Fritz, Friederich oder Friederike, sie wollte mal was anderes. Allerdings ist der Name in Familien, in denen Eltern oder Großeltern mit der Forstwirtschaft zu tun haben, vergleichsweise verbreitet.

Sie sind in einem Forsthaus groß geworden.

Unser Haus war mitten im Wald. Da habe ich als Kind neun Jahre gelebt, das war toll. Obwohl wir nur Plumpsklo hatten und Wasser aus dem Brunnen. Wenn man es als Kind nicht anders kennt, vermisst man nichts. Erst 1971 sind wir nach Dresden gezogen, mein Vater ging dort an die TU.

Der Wald Ihrer Kindheit, war der licht oder düster?

Aus meiner Erinnerung heraus gab es um unser Forsthaus herum einen Bereich, der war Spielfeld, ein Stück weiter begann die düstere Zone, mit Dickicht und Unterholz. Da haben wir uns nicht so hingetraut. Es gab eine imaginäre Grenze.

Sie sind mit Rotkäppchen, Hänsel und Gretel aufgewachsen.

Das ganze Programm. Das heißt, die Hexe war bei uns nicht so ein Thema. Ich bin ja mit den russischen Baba-Jaga-Märchen groß geworden, da war die Frau im Wald nicht unbedingt böse.

Die Forstwirtschaft der DDR

Hubertus Kraut.
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© David Heerde

Wovor haben Sie sich dann gefürchtet?

Vor dem Unbekannten wahrscheinlich. Das hat sich im Lauf der Jahre dann verändert. Da war ja keine feste Grenze, eher so eine gefühlte Temperatur. Und der begehbare Bereich wurde von Jahr zu Jahr größer. Ich und mein größerer Bruder, wir haben da draußen Buden gebaut, Feuer gemacht, was natürlich streng verboten war. Es war auch vollkommen normal, dass wir mit Krügen rausgeschickt wurden, um Blaubeeren zu sammeln.

Ihr Vater hat nie gesagt, im Wald sind die Räuber?

Er hatte eher ein rationales Verhältnis zum Wald.

Die Forstwirtschaft der DDR war nicht immer so idyllisch wie in Ihren Erinnerungen. Es gab das Kahlschlagsystem nach dem Krieg, als der Holzbedarf groß war. Dann die Phase nachhaltiger Forstwirtschaft. In den 70ern wollte man wieder hohe Erträge.

Man nannte es die Höchstertragskonzeption, sah das damals als etwas Positives. Die DDR wollte von Importen unabhängig sein, dazu hatte der Wald seinen Teil zu leisten. Wir haben auch Harz produziert, sie kennen vielleicht noch die Einschnitte in den Bäumen. Das wurde nach der Wende sofort eingestellt, weil es vollkommen unwirtschaftlich war. Wenn man kein weltmarktfähiges Geld hat, macht man solche Dinge.

Wie sieht ein Wald aus, der an der Höchstertragskonzeption orientiert ist?

Das ist eine Kiefern- oder in den südlichen Bundesländern eine Fichtenplantage. Es gab Richtlinien, nach denen jede Baumart, die nicht Kiefer war, herausgeschnitten wurde.

Brandenburg ist berühmt für seine vielen Kiefern. Das ist gar nicht von der Natur so gewollt?

Auch in der DDR konnte man nur die Bäume ernten, die 80 bis 100 Jahre vorher gepflanzt wurden. Die Kiefer wird hier seit ungefähr 180 Jahren kultiviert. Schon im 19. Jahrhundert war Holznot. Nach Jahrhunderten, in denen Holz favorisierter Baustoff und einziger Energieträger war.

Für ein Kriegsschiff brauchte man 700 Eichen.

Ja, und das Holz wurde in Eisen- und Glashütten verfeuert. Dieses romantische Bild, dass die Maler des 18. Jahrhunderts festgehalten haben, in dem hier und da mal eine Eiche steht und daneben eine Schäferin, das ist ja ein Zeichen für die Übernutzung des Waldes. Das hat unter anderem zu einer Aufforstungskampagne geführt, mit der Baumart, die anspruchslos genug war und die massenhaft zur Verfügung stand: der Kiefer.

Wie sähe der Wald hier ohne den Menschen aus?

Wir hätten vielleicht 15 statt 70 Prozent Kiefern, der Rest wäre Eiche, dann Buche, Birke, an besseren Standorten auch Ahorn, Esche, Ulme. Die Niederungen würden mit Weiden und Erlen bewaldet sein oder aus großflächigen Mooren bestehen.

1990 fällte der Sturm „Wiebke“ vor allem im Westen Deutschlands, wo es diese Monokulturen ja auch gibt, die Nadelholzplantagen wie der Schnitter das Heu. Seitdem bauen Sie den Wald um.

Sturm „Lothar“ zehn Jahre später war noch schlimmer. Solch einem Wirbel halten selbst dicke Eichen nicht stand. Aber es stimmt, vom Sturm geschwächte Wälder sind anfällig für Parasiten und Insekten, die können, wenn sie es mit nur einer Baumart zu tun haben, ganze Wälder vernichten.

Die Furcht vor dem Waldsterben

Hubertus Kraut.
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© David Heerde

Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?

In Südfrankreich ist nach dem Krieg aus Amerika ein Kiefernschädling eingeschleppt worden, der die Pinien befiel. In großen Bereichen wächst die natürliche Pinie dort nicht mehr. Das sind Folgen der Globalisierung, die man nicht verhindern kann. Wir brauchen also eine Risikostreuung.

In Westdeutschland fürchtete man in den 80er Jahren das Waldsterben. Der Wald ist immer noch da.

Das haben wir auch in der DDR mitbekommen, selbst wenn das in der Öffentlichkeit nicht so diskutiert wurde, in der Fachwelt schon. Natürlich sind Aussagen wie „Der Wald stirbt“, von den Medien forciert worden. Das Ökosystem war stabiler als befürchtet. Zudem ist aktiv reagiert worden. Auch in der DDR wurden die sauren Böden gekalkt. Die Schwefeldioxid-Emission, die Stickstoffemission, das hat man dann kritischer gesehen.

Seit den 90er Jahren bauen sie in Brandenburg den Wald um. Sie wollen mehr Mischwald.

Wir müssen auf veränderte klimatische Bedingungen reagieren, die Wälder sollen die Folgen besser abwehren können. Und wir wollen attraktive Wälder, kleine und große Bäume, verschiedene Arten.

Profitiert die Forstwirtschaft in Brandenburg von den gestiegenen Holzpreisen?

Wir erzielen für die Kiefer sehr ordentliche Preise, anders als noch vor 10, 15 Jahren, ja.

Würden Sie uns empfehlen, in Wald zu investieren?

Nach der Wende war das in Brandenburg ein Riesenmarkt, wenn Sie damals von der Treuhand gekauft hätten, würden Sie heute das Zehnfache erlösen. Doch die großen Mengen sind nicht mehr auf dem Markt, heute kaufen Sie teuer.

Der Wald müsste immer noch eine gute Anlage sein. Allein das Erneuerbare Energiengesetz sorgt dafür. Pellets für Holzheizungen zum Beispiel werden aus Kiefernholz gemacht. 70 Prozent der erneuerbaren Energie kommen schon aus Biomasse, daran ist Holz mit 50 Prozent beteiligt.

Man muss jedoch auch so viel Realitätssinn haben zu sehen, dass unsere Energieprobleme nicht mit allem Holz der Bundesrepublik zu lösen sind. Außerdem ist Holz viel zu wertvoll, um es zu verbrennen. Nehmen Sie nur mal meinen Arbeitsplatz hier, die alten, dicken Balken an der Decke. Hätte man die sofort nach dem Einschlag verbrannt, hätte man CO2 freigesetzt. So blieb das Gas für etliche 100 Jahre gebunden.

Der Wert der Forstwirtschaft

Hubertus Kraut.
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© David Heerde

Kiefernholz wird gut bezahlt und als Energieträger bedeutender, wie soll da Ihr Waldumbau gelingen?

Ich habe nicht gesagt, dass das leicht wird. Doch zumindest im Landeswald, das sind in Brandenburg ein Viertel der Fläche, wird es gelingen, weil das gesellschaftlicher Wille ist. Private Waldbesitzer haben sicher eigene Interessen, da ist es Aufgabe der Politik durch Fördermaßnahmen zu steuern. Was auch passiert. Die kriegen Geld dafür, wenn sie den Waldumbau betreiben. Im Übrigen werden wir in den wenigsten Fällen Waldumbau dort initiieren, wo es zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führt. Wenn die Bäume erst 50 Jahre alt sind und schon gefällt werden, sind sie eigentlich noch nicht so weit. Ich finde es wichtig, dass wir das Holz auch nutzen.

Weil in der Forstwirtschaft ungefähr so viele Menschen arbeiten wie in der Autoindustrie.

Wenn Sie die ganze Verwertungskette nehmen, mag das hinkommen. Nein, weil der Holzmarkt ein globaler ist und es nicht hilft, wenn wir hier die höchsten Standards der Welt durchsetzen. Das Holz wird dann woanders gekauft, wo es auf Plantagen wie vor 100 Jahren gewonnen wird, unter grottenschlechten Umwelt- und Sozialstandards. Wir haben auch diesen Gesellschaften gegenüber eine Verpflichtung.

Beschreiben Sie doch einmal den Wald, wie er im Jahr 2050 aussehen wird.

Er wird deutlich stärker strukturiert sein, mit jungen Bäumen und alten. Es wird mindestens zwei oder drei Baumarten geben, hier in der Umgebung wird die Eiche dominieren, gemischt mit Kiefer, Buche, Birke, Eberesche. Die hat zwar keine Nutzungsfunktion, aber sie ist wichtig für die Biodiversität, denn sie gibt speziellen Insekten Unterschlupf. Und es wird mehr tote Bäume geben.

Wegen des Waldsterbens?

Wir machen Moorvernässung, und wir wählen alte Bäume aus, die werden markiert und dürfen machen was sie wollen, umfallen, verrotten, was immer, auf jedem Hektar mindestens fünf Bäume. Auch die sind Lebensraumrequisiten.

Vielleicht werden weder wir noch Sie diesen neuen Wald erleben können. Sie sagten eingangs, Förster sind Idealisten. Aber ist das nicht frustrierend?

Finde ich nicht. Wer kann schon von seinem Beruf behaupten, dass er etwas in der Landschaft hinterlasst, das seine Handschrift trägt.

Gibt es in Brandenburg eigentlich Ruhewälder, in denen man sich bestatten lassen kann?

Einige, seit letztem Jahr zum Beispiel den Friedwald in Nuthetal. Meine Frau und ich haben uns bewusst dazu entschieden, uns dort begraben zu lassen. Ich empfinde mich eben als Waldmensch. Und die Stelle ist nicht anonym. Wer dort hinkommt, um seine Angehörigen zu besuchen, findet Ruhe und Besinnung.

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