Drittes Reich: Hitlers Hofnarr
1923 scheitert in München der Hitler-Putsch. Mit dabei ist Ernst „Putzi“ Hanfstaengl, der Mann am Klavier. Später entwirft er für die USA ein Psychogramm des Führers.
Fast: 40 Zentimeter weiter, und, so der Historiker Ian Kershaw, die Geschichte wäre anders verlaufen. Dann hätte die tödliche Kugel am 9. November 1923 nicht Max Erwin von Scheubner-Richter getroffen, sondern den neben ihm marschierenden Adolf Hitler. Am Abend zuvor hatten sie im Münchener Bürgerbräukeller die Revolution ausgerufen, der Führer der Nationalsozialisten war entschlossen, die Macht zu übernehmen – zehn Jahre bevor er es tatsächlich tat. Aber nein, nicht der Mann, der später Millionen von Menschen das Leben kostete, verlor seins, sondern 14 andere Putschisten sowie vier Polizisten. Hitler kugelte sich nur den Arm aus.
Fast: Beinahe hätte der Rebellenführer sich zwei Tage später selber das Leben genommen – wäre Helene Hanfstaengl nicht dazwischengegangen. Im Landhaus der befreundeten Familie in Uffing am Staffelsee hatte Hitler Zuflucht gefunden, aber jetzt war die Polizei auf dem Weg, um ihn festzunehmen. Er hatte den Revolver schon in der Hand, aber die Dame nahm die Waffe an sich, redete ihm den Plan aus.
Zumindest hielt sie es so in ihrem Tagebuch fest. Zeugen gibt es keine, aber Hitler hatte schon vor dem Putsch damit gedroht, falls der Aufstand nicht gelänge. Wobei der Nazi häufiger mal den Mund ziemlich voll nahm. Auf Helene Hanfstaengl hat er aber auf jeden Fall gehört, er schmachtete die hübsche Dame an, machte einmal gar einen Kniefall vor ihr und erklärte sich zu ihrem Sklaven. Keine Angst, beruhigte Helene Hanfstaengl ihren Gatten, für sie war Hitler kein Mann, sondern ein Neutrum. (So groß wird Ernst Hanfstaengls Angst nicht gewesen sein, er selbst erklärte des Diktators Machtwahn später mit dessen Impotenz.) Und so wurde Adolf Hitler im blauen Bademantel des Hausherrn in Uffing festgenommen und ins Gefängnis gebracht.
Auch Helenes Mann war am Putsch beteiligt (allerdings nicht an dessen Planung), konnte jedoch rechtzeitig nach Österreich entkommen: Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl, eine der schillerndsten und widersprüchlichsten Gestalten an der Seite des Führers, „Hitlers Klavierspieler und Hofnarr“, wie er getauft wurde, oder „Harvards Geschenk an die Nazis“. „Putzi“, wie ihn alle nannten (außer Hitler, der hat ihn gesiezt), gehörte in der Frühzeit der Nationalsozialisten zu dessen engen Vertrauten.
Alles an Hanfstaengl war "lager than life"
Selbst auf Fotos ragt er immer heraus. Ein Hüne von einem Mann, 1,90 Meter groß und kräftig gebaut, trat er meist in feinstem Zivil auf. Selbst wenn er Uniform trug, war es keine von der Nazi-Stange, sondern seine eigene Fantasieuniform. „Sein Auftritt war sensationell“, schreibt Martha Dodd, die Tochter des US-Botschafters im Berlin der 30er Jahre über die erste Begegnung mit dem Hitler-Freund. Seine Größe, seine Stimme und sein Charme, sein pausenloses Reden, die unbezähmbare Energie und sein Selbstbewusstsein: Alles an Hanfstaengl war larger than life. „Er konnte jedermann erschöpfen und, durch schiere Ausdauer, auch noch den Stärksten in Berlin niederschreien oder niederflüstern.“ „Putzi“ liebte den großen Auftritt. Auf Festen erschien er gern so spät, dass ihm alle Aufmerksamkeit sicher war.
Der bayerisch-amerikanische Harvard-Absolvent wurde 1922 des Führers Entertainer, sein großbürgerliches Aushängeschild: ein Türöffner zur besseren Gesellschaft wie zu ausländischen Kreisen. Auch finanziell half er ihm. „Er galt als der Künstler unter den Nazis, unberechenbar und interessant“, schreibt Martha Dodd über den Mann, der wohl kurzzeitig ihr Liebhaber war (einer von vielen) und häufiger Partygast. Cholerisch ist er auch gewesen.
Ein Großteil von Hitlers Münchener Entourage in den frühen 20er Jahren war kleinbürgerlich – „die Chauffeureska“ nannte Hanfstaengl den Kreis der Vertrauten. Der zukünftige Diktator selbst, noch ungeschliffen: „a minor provincial agitator“, wie Hanfstaengl ihn in seiner unvergleichlichen Art in seinen Memoiren beschrieb. „Er sah aus wie ein Vorort-Friseur an seinem freien Tag.“
Da kam Hanfstaengl gerade recht, dessen Familie galt in München was. Großvater Franz, Bauernsohn und Künstler mit gutem Riecher für die richtige Technik zur richtigen Zeit, hatte den Verlag gegründet, der mit Kunstdrucken und Porträtfotografie schon im 19. Jahrhundert Renommee und lukratives Geschäft miteinander verband. Zu seinen Kunden gehörten Kaiser und Könige, Wagner und Liszt. In der Villa von „Putzis“ Vater, Hofrat Hanfstaengl, waren Wilhelm Busch, Richard Strauss und Mark Twain zu Gast.
Die Beziehungen in die USA waren eng, die Großmutter war Deutsch-Amerikanerin, an New Yorks Fifth Avenue betrieb der Kunstverlag eine Filiale. Um diese später zu übernehmen, wurde „Putzi“ 1905 über den Atlantik geschickt, konnte sogar, miserabler Schüler, der er war, dank familiärer Beziehungen in Harvard studieren. Wobei „Hanfy“, wie er jetzt hieß, auch an der Eliteuni mehr durch seine Freizeitaktivitäten als durch akademische Leistungen auf sich aufmerksam machte. In der Theatertruppe Hasty Pudding trat er als Holländerin namens Gretchen Spootsfeiffer auf, machte sich beliebt als lautstarker Cheerleader der Footballmannschaft: Rah, rah, rah! In Harvard lernte Hanfstaengl unter anderem Theodore Roosevelt kennen, den Sohn des US-Präsidenten, der den lustigen Bajuwaren ins Weiße Haus einlud.
Nach einem Intermezzo in Europa trat Hanfstaengl tatsächlich in die New Yorker Filiale ein, nur kam der Erste Weltkrieg dazwischen. Plötzlich war der Deutsche nicht mehr Freund, sondern Feind. Nach dem Krieg machte er klein weiter und kehrte 1921 mit Frau Helene und Sohn Egon nach München zurück.
Aber da war inzwischen alles anders. Ein Bruder war gefallen, der andere zu Beginn des Kriegs an Typhus gestorben. Mit dem noch lebenden Bruder Edgar, der den Verlag leitete, verband ihn eine tiefe persönliche und politische Rivalität, so dass der Rückkehrer erst mal in Geschichte promovierte.
Zu Hanfstaengls Entsetzen lag Deutschland am Boden, die wirtschaftliche Lage war dramatisch. Ein Pfund Schwarzbrot kostete eine Milliarde Mark, ein „Völkischer Beobachter“ – in dessen Redaktion Hanfstaengl gerade war, als Hitler zum Putsch rief – fünf Millionen.
Konservativer Patriot und antisemitischer Monarchist, der den Zeiten Ludwig II. nachtrauerte, gab er dem Versailler Vertrag die Schuld am deutschen Elend. Hitler kannte er, frisch aus den USA zurück, noch nicht. Ein alter Harvard-Kommilitone, inzwischen Mitarbeiter der US-Botschaft in Berlin, schickte ihn zu dem Mann, von dem alle redeten: Hanfstaengl sollte ihm seine Eindrücke von einer Versammlung im Kindlkeller schildern.
Kaum hatte Hitler den Mund aufgemacht, war Putzi so elektrisiert wie der ganze Saal von dem, wie er fand, unglaublichen rhetorischen Talent des kleinen Mannes, „der meisterlichen Performance“, dem es allein an Weltläufigkeit und Amerikakenntnis fehlte. Auf diesem Gebiet fühlte Hanfstaengl sich berufen, dem Politiker Nachhilfeunterricht zu geben. Schnurstracks ging er auf den Star des Abends zu: 95 Prozent seiner Rede könne er unterschreiben, über die anderen fünf würde er gern mal mit ihm reden. Kein Problem, meinte Hitler, über die würden sie sich auch noch einig werden.
So wurde Ernst Hanfstaengl „Hitlers Klavierspieler“ – so der Titel der 2005 erschienenen Biografie des Briten Peter Conradi (besser bekannt als Koautor von „The King’s Speech“). Er haute gern mit Wucht in die Tasten, „ließ das Klavier immer gebrochen und erschöpft zurück“, so Martha Dodd über Hanfstaengls Auftritte in geselliger Runde, „ganz zu schweigen von sich selbst und seinen Zuhörern, und die Räume der Botschaft hallten noch tagelang wieder“. Er spielte nicht nur, er komponierte auch, Märsche wie „Deutscher Föhn“ für die Bewegung, deren Hauptstadt München war, Melodien für Propagandafilme.
Mit Hitler verband ihn die Liebe zu Wagner
Mit Hitler verband ihn die Liebe zu Wagner und List, und wenn der oberste Nazi sich aufregte, depressiv war oder von seinen schweißtreibenden Auftritten erschöpft, wusste Hanfstaengl ihn zu besänftigen und aufzumuntern: „I was the only man who could hammer out ,Tristan’ and the ,Meistersinger’ to his satisfaction on the piano.“ Hanfstaengls Ego war so gewaltig wie seine Gestalt. Witze zur Erheiterung des Führers hat er auch erzählt.
Nach seiner überraschend schnellen Freilassung aus dem Gefängnis 1924 feierte Hitler mit den Hanfstaengls Weihnachten, war überhaupt oft in ihrer Villa zu Gast, zur großen Freude des kleinen Sohns. Denn „Onkel Dolf“ spielte mit Egon Eisenbahn: Der Junge war der Zug, Hitler, auf Händen und Knien, die Brücke, dazu lieferte er, mit großem schauspielerischem Talent, wie der Junge ihm noch als alter Mann bescheinigte, die Geräuschkulisse.
Hanfstaengls Schwester Erna wurde ebenfalls Hitler-Anhängerin, Bruder Edgar dagegen stand auf der linksliberalen Gegenseite, trat noch 1932 als Kandidat der Staatspartei an gegen den Mann, der für ihn nur ein lächerlicher Scharlatan war. Er weigerte sich 1925 auch, das Buch, das sein Bruder mitredigiert hatte, im Familienverlag herauszubringen: „Mein Kampf“ erschien anderswo.
Der Wegbereiter der Nazis stieg mit der Partei auf und wurde 1931 von Hitler zum Auslandspressechef der NSDAP ernannt. Als solcher hat er Interviews vermittelt und gegeben, hat Propaganda gemacht. Direkte politische Macht hatte er keine, gehörte in Berlin auch nicht mehr zum engsten Kreis und fiel schließlich in Ungnade. Kritisch soll er sich über den Führer und die deutschen Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg geäußert haben, außerdem hatte er etliche Gegner – Goebbels etwa, den „Putzi“ selber nicht leiden konnte, misstraute ihm, so Albert Speer, wegen seiner engen persönlichen Beziehung zu Hitler. Vielleicht wollte der Diktator auch nicht mehr an seine bescheidenen Anfänge erinnert werden.
Die Umstände von Hanfstaengls Verschwinden sind so burlesk wie vieles in seinem Leben. Er wurde in ein Flugzeug bestellt, der Pilot erklärte ihm in der Luft, er habe Order, Hanfstaengl über Spanien abzuwerfen, landete dann aber nach Stunden in Leipzig, wo „Putzi“ Reißaus nahm. Es gibt diverse Versionen dieser Geschichte. Hanfstaengl zufolge stand ein Mordkomplott hinter der Aktion. Goebbels erklärte das Ganze zu einem brüllend komischen Streich, mit dem sie dem großmäuligen Großbürger eine Lektion erteilen wollten. Dieser machte auf jeden Fall, dass er wegkam und floh mit seinem halbwüchsigen Sohn 1937 nach England. Von Helene war der Senior inzwischen getrennt, wegen Unverträglichkeit der Charaktere und zahlreicher Affären. Dort verlangte der Abtrünnige von seinen deutschen Freunden eine Entschuldigung, wurde mit Kriegsbeginn interniert und später in die USA gebracht, wo er Präsident Franklin Roosevelt, einem alten Bekannten aus dem New Yorker Harvard Club, die Psychologie des Führers und seines Volks erklären sollte. In einer Villa außerhalb Washingtons hörte er ab 1942 diverse Radiosender ab. Als „Bewacher“ zur Seite gestellt wurde ihm sein eigener Sohn, der in der Zwischenzeit in die US-Armee eingetreten war.
Noch immer verstand sich Dr. Sedgwick, wie er nun nach seinem mittleren Namen genannt wurde, als Patriot. Gegen die Allierten hatten die Deutschen seiner Meinung nach keine Chance, den Krieg würden sie auf jeden Falll verlieren. Also dann am besten möglichst schnell, um die Verluste in Grenzen zu halten. Wobei er, wie sein Sohn Egon Jahrzehnte später erzählte, innerlich durchaus zerrissen war: Was er tat, war in seinen eigenen Augen Hochverrat.
Am Ende war die Idee (von der die Briten gar nichs hielten) offenbar besser als die Ergebnisse. Das fanden zumindest Roosevelt und seine Leute. Der Riese selbst echauffierte sich, wenn die Amerikaner seinen Diagnosen und Ratschlägen keine Taten folgen ließen. 1944 wurde das Experiment „S-Projekt“ abgebrochen, der Informant – der sich geweigert hatte, von einem Schwarzen das Essen entgegen zu nehmen – nach Großbritannien zurückexpeditiert.
Nach dem Krieg kehrte er nach München heim, wurde 1949 schnell entnazifiziert und „verbrachte den Rest seines Lebens damit, die Gegenwart zu genießen und unter der Vergangenheit zu leiden“, wie es sein Sohn beschrieb. Ganz so groß kann das Leiden allerdings nicht gewesen sein: Vor seinem Tod 1975 verfasste er noch zwei Bücher mit Erinnerungen, in denen er sich zum „politischen Außenseiter“ stilisierte. Historiker greifen darauf gern als Quellen zurück, lesen sie allerdings mit besonders kritischen Augen.
Als Zeitzeuge ist der fantasievolle Hanfstaengl so unzuverlässig und eitel, wie er es in der Zeit selbst war.
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