Die Karriere einer Nicht-Farbe: Grau ist das neue Schwarz
Früher Nieselwettertrübsinnsfarbe, heute aus der Mode nicht wegzudenken. Das ausgleichende Grau ist die perfekte Farbe für die schrille Zeiten. Das lässt sich sogar biologisch begründen.
Was Grau alles sein kann, hat vielleicht niemand der Allgemeinheit klarer gemacht als Paul Winkelmann, der Möbelhausgeschäftsführer aus Loriots „Ödipussi“. Als dem während eines Farbberatungstermins beim Ehepaar Melzer klar wird, dass die keine „frischere“ Farbe für ihr Sofa wollen (Frau Melzer: „Wir waren mit Grau eigentlich sehr zufrieden“), kramt er sogleich ein Stoffmusterheft hervor. „28 Grautöne eines belgischen Herstellers“, sagt er und flippt durch die Schnipsel: „Mausgrau, Staubgrau, Aschgrau, Steingrau, Bleigrau, Zementgrau …“
Wenn Loriot-Fans sich darüber bei der Filmpremiere Ende der 1980er Jahre freuten, dann auch, weil Grau damals hierzulande vor allem eine Un-Farbe war. Verkleidung für graue Mäuse und blasse Anzugträger.
Giorgio Armani, der Weltbotschafter des Edel-Graus, war gerade noch dabei, sein erstes Geschäft in Deutschland zu eröffnen – wozu der „Spiegel“ einmal schrieb: „Eine Frau, die auf Armani steht, hat ihre Kleiderschränke in den letzten Jahren mit unendlichen Schattierungen und Mischungen von Grau gefüllt.“ Womit sie zu den modischen Avantgardistinnen gehörte. Die Mehrheit kicherte über die Melzers.
Trendton für 2016: Sharkskin, knorpelfischgrau
Das ist vorbei. Grau ist seit damals zum einen in der Namensgebung ein gutes Stück weitergekommen. Der Pantone-„Fashion Color Report“ – eine Art Bibel der Designerwelt – hat jüngst die Top-10-Trendfarben für 2016 herausgegeben und darin ein Grau gelistet, das „Sharkskin“ heißt, Knorpelfischgrau. Und auch inhaltlich liegen die Melzers heute voll im Trend. Schluss ist mit Grau als Synonym für trüb und blass, für Nieselregenfrust oder Einheitsbrei.
Grau ist heute überall, als Farbe der Städte und Straßen ohnehin, der Industriekomplexe und neuerdings der Computerwelt. Grau hat es außerdem auf Möbel, Autos, Innenwände geschafft. Auch in der Mode sind die Grauträgerinnen heute nicht mehr vorneweg, sondern mittendrin. „Grau ist ein neues Statement“, sagt Gerd Müller-Thomkins vom Deutschen Mode-Institut (DMI) in Köln, genauer: „Es ist das neue Schwarz.“
Bei der gerade zu Ende gegangenen New Yorker Fashion Week zeigten viele Designer Kollektionen in grauer Ästhetik. Sei es die Männermode von Greg Lauren, die Bondagekleider von Promi-Ausstatter Max Azria oder das, was Popstar Rihanna sich für Puma ausgedacht hat. Grau war dabei, und wenn es die Stellwandfarbe war, und es war nicht öde, sondern cool.
Eine Farbe mit "zeitgeistigem Bezug"
Das DMI, das Modefirmen über aktuelle Entwicklungen auf dem Farb- und Materialmarkt informiert, hat in der „Neutralfarbe“ Grau einen „zeitgeistigen Bezug“ ausgemacht. Grau sei „urban, immer passend und auch vernetzend“, es schlage Brücken zwischen anderen Farben, sagt Müller-Thomkins und erfindet ein Beispiel: „Stellen wir uns ein pastelliges Orange vor und ein Grau und dann ein Himmelblau“, er spürt dem Anblick kurz nach – schön, oder? –, „und nun nehmen wir das Grau weg.“ Huch! Richtig, da fehlt etwas. Was eben noch eine Art Farbkunstwerk war, ist nun nur noch bunt. Auch darum würde in der heutigen Welt, in der jeder dauernd sein eigenes Kunstwerk ist, das als Selfie verbreitet wird, die Farbe Grau immer wichtiger. Woraus jetzt aber eins nicht folgen dürfe: „Alles in Grau anzehen und dann bin ich vorn, nee nee!“ Auf die Vernetzbarkeit, die Kombinationen komme es an.
Vor Kurzem war Grau gar – eigens hingefärbt – auf den Köpfen junger Menschen zu besichtigen. Das war vor allem als Aussage interessant. Die Jungen machten sich mit Omas Haarfarbe und wadenlangem Faltenrock alt, während die Alten immer mehr Möglichkeiten haben, jung auszusehen. Müller-Thomkins nennt das den „auf Basis der Ästhetik“ ausgetragenen Generationenkonflikt.
Von Ghetto bis Villa, von Kittel bis Seidenschal: grau ist nicht gleich grau
Den ganz großen Bogen über die Farbe Grau spannt auch die Firma Pantone in den Erläuterungen zu ihrem aktuellen „Fashion Color Report“. Grautöne, heißt es da, „vermitteln Stabilität“. Was sie in instabilen Zeiten attraktiv macht, in Krisenzeiten, wie es sie aktuell gibt. Euro-, Griechenland-, Flüchtlingskrise, immer ist irgendwas, erweist sich die Welt als schrill und grell, da tüncht man das direkte Umfeld zur Beruhigung in sanftes Grau.
Und das ist keinesfalls rein psychologisch. Das kann Axel Buehter vom Deutschen Farbenzentrum auch knallhart biologisch begründen. Grau, die Farbe der Dämmerung, entlässt die farbsensitiven Zapfen im Auge aus dem Dienst. „Die Zapfen hören bei fehlender Farbigkeit auf zu funktionieren“, sagt er. Stattdessen würden die Stäbchen einspringen, die für das Helldunkel- oder auch Schwarzweißsehen zuständig sind. Mit dem Umstellen von Zapfen auf Stäbchen würde allgemein die Motivation runtergehen, der Aktionsdrang geringer. Weil auf Dämmerung und Farbabnahme in der Regel Nacht folgt.
Uniformen sind oft grau, Landesflaggen nie
Zwar ist ein grauer Raum etwas anderes als Dämmerung, aber die Wirkung sei im Prinzip vergleichbar. Auch für Mode gelte, dass ein grauer Stoff nicht die „gleiche Räumlichkeit“ habe wie andere Farben, er wirke „flacher, abstrakter, beruhigender“.
Buehter und seine Kollegen haben zur Ergründung der Farbe Grau Studien durchgeführt, die für die Mode ergaben, dass „keine andere Farbe ihren Träger so effizient in den Hintergrund der Aufmerksamkeit rückt“. Nicht zuletzt deshalb seien Uniformen oft grau, während sich Grau in keiner einzigen Landesflagge finde: „Gerade aufgrund der Neutralität eignet sich Grau nicht zur Identitätsbildung“, schreibt er in dem Buch „Hauptsache Grau“ des Mies van der Rohe-Hauses. Und weiter: „Grau wirkt wie keine andere Farbe neutral und neutralisierend. Nicht warm noch kalt, weder Tod noch Leben, weder Liebe noch Hass, vermittelt Grau zwischen den Extremen.“ Dennoch sieht auch er das Grau als Statement, und zwar als Understatement. „Graue Sichtbetonflächen, Autos, Anzüge, Kostüme, Wohneinrichtungen können eine enorme repräsentative Wirkung entfalten, wenn sie als Zeichen von Wohlstand und Prominenz interpretiert werden, die nicht protzig gezeigt werden.“ Grau als das vornehmere Schwarz, dem immer eine gewisse Attitüde nachgesagt werden kann.
Kulturhistorisch betrachtet kommt der Mensch in Grau zurück zu den Ursprüngen, denn die waren naturfarben – und Naturfarben blichen schnell aus, sie ergrauten. Die ersten Färbetechniken waren noch extrem aufwendig und die bunten Stoffe entsprechend teuer, sodass das rote Wams erst dem Adel, dann den reichen Bürgern vorbehalten war, die diesen Reichtum zeigen wollten.
Heute steht das Bunte im Verdacht des Billigen
Mit der industriellen Stoffherstellung und den immer mehr verfügbaren Farben kippte die Logik ins Gegenteil, heute steht das Bunte im Verdacht des Billigen, und das Edle gibt sich dezent.
Das bringt Buehter zu den Nuancen. Denn eins ist ihm so wichtig, wie es unübersehbar ist: dass Grau nicht gleich Grau ist. Es gebe das Grau von Hochhaussiedlungen und das Grau der Sichtbetonvilla am Seeufer, das Grau der Arbeitskittel und das Grau sündteurer Seidenschals. Der Unterschied sei die Beimengung anderer Farben, die bei den unter Kostendruck stehenden Siedlungen oder Kitteln ausblieben, weshalb ein totes, abweisendes Grau zu besichtigen sei. Wird dagegen wie heute in der Sichtbetonarchitektur eine Farbe dazugemischt, Beige oder Braun oder Rosa, treibt das nicht nur den Preis in die Höhe, es schafft auch eine warme Farbe, in der man sich wohlfühlt.
Und da passt am Ende noch einmal Loriot ins Bild, wenn das Ehepaar Blömann zur Eheberatung geht, wo es zwecks Persönlichkeitsanalyse nach Lieblingsfarben gefragt wird – und Herr Blömann sagt: „Grau.“ Zögern. „Aber nicht so grau.“ Er überlegt. „Mehr Grüngrau. Ins Bräunliche.“ Nee, immer noch nicht. „Eine Art Braungrau mit Grün. Ein Braungrüngrau.“ Die Therapeutin notiert „Braungrüngrau“, Blömann fühlt sich missverstanden. „Es schadet auch nicht, wenn es ein bisschen ins Bläuliche überspielt. Hauptsache, es ist grau. Braungrau. Es könnte auch etwas Rot mit anklingen. Ein Braunrot, aber im Ganzen grau. Also ein grünlichblaues Braunrotgrau“. Die Therapeutin sagt: „Es kommt nicht so genau darauf an.“ Aber da irrt sie sich wohl.