Geschichte: Was sagt die Wilhelmstraße?
Von frivolen Tänzerinnen bis zum Todesstreifen, von Hitlers Reichskanzlei bis zur „Peking-Ente“: Berlins Geschichtsmeile erzählt
Das Essen ist köstlich, die Ente kross. Tom-Yam-Suppe geht runter wie Öl und dazu noch ein Tsingtao-Bier: Wir sind beim Chinesen. Uns bekocht Meister Ma, am Buffet waltet Frau Tang, Mengling Tang. Der Ruf des Eck-Restaurants „Peking-Ente“ mit den üblichen roten Seidenlampen, die wie ausgefranste Medizinbälle von der Decke hängen, geht weit über Berlins Mitte hinaus, bis nach Amerika, und nach China sowieso: Immer, wenn Lang Lang in Berlin ist, speist das Piano-Wunder bei Frau Tang, meistens bringt er Maestro Barenboim gleich mit, und letztens flatterte gar Barbara Streisand in die „Ente“, um hier ihren Geburtstag zu feiern.
An dem Platz, wo ich jetzt sitze, salutierten vor über 70 Jahren die Wachen am Eingang zur Reichskanzlei. Auf dem Ehrenhof standen die Skulpturen „Die Partei“ und „Die Wehrmacht“, von Arno Breker monumental geformt und in Bronze gegossen, und über mir, im ersten Stock, saß Adolf Hitler am Schreibtisch, ganz klein im 400 Quadratmeter großen Arbeitspalast mit der drehbaren Weltkugel, die er aus den Angeln heben wollte.
In ihrer Speisekarte gibt Frau Tang ein bisschen Geschichtsunterricht und schreibt, dass die Neue Reichskanzlei an dieser Stelle, in der Wilhelm- / Ecke Voßstraße, in elf Monaten gebaut und am 7. Januar 1939 eröffnet worden war. Nach dem Krieg, nach dem verlorenen „Endsieg“ wurde das beschädigte Gebäude zwischen 1949 und ’51 abgetragen.
„Machen Sie nach Ihrem Besuch der Peking-Ente einen kleinen Ausflug zum gegenüberliegenden U-Bahnhof Mohrenstraße“, empfiehlt die Enten-Chefin. Die dunkelrot gemaserten Marmorplatten auf diesem Bahnhof, der früher „Kaiserhof“ hieß und dann „Thälmannplatz“, schmückten einst die Wände des Mosaiksaals der Reichskanzlei. Es sind die letzten Reste des „Dritten Reiches“ am Rande einer Straße, die ihr Schicksal, Regierungsmeile zu sein, mit äußerer Würde getragen hat, bis vor 75 Jahren auf dem Gelände der heutigen „Peking-Ente“ Adolf Hitler die Macht ergriff.
Die Tradition ist lang und tief wie die Wurzeln einer deutschen Eiche. Ihren Namen verdankt die Straße zwischen Reichstagufer und Hallischem Tor dem preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. Großzügig verschenkte dieser in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts Grundstücke an adelige Diener und gab ihnen obendrein Finanzierungshilfen, damit sie sich zumeist zweigeschossige Palais mit kleinen Lustgärten bauen konnten. Später kam das Großbürgertum dazu, und allmählich wuchs die Straße zum preußischen Regierungszentrum heran.
Da war die Sache mit der Tänzerin Barberina längst in die Annalen „Prominenten-Klatsch und Tratsch aus der Wilhelmstraße“ eingegangen. Der Historiker Laurenz Demps beschreibt die Pikanterie ausführlich in seinem Standardwerk „Berlin-Wilhelmstraße“: „Am 29. Februar 1752 kaufte, laut Eintrag im Grundbuch, der preußische Gesandte Freiherr Carl Ludwig von Cocceji das Anwesen Wilhelmstraße 76. Tatsächlich aber war seine Ehefrau die Besitzerin: Barbara Campanini“. Als „Tänzerin Barberina“ hatte der Freiherr sie im September 1743 in Paris kennengelernt und von dort auf Befehl des Königs nach Berlin verpflichtet. Sie unterschrieb den Vertrag, traf aber kurz darauf in Paris auf ihre große Liebe, Lord Mackenzie, und floh mit diesem nach Venedig. Friedrich II. schäumte und versuchte alles, die Tänzerin nach Berlin zurückzuholen. So ließ er etwa den venezianischen Gesandten, als dieser preußisches Gebiet durchquerte, festhalten, bis der Senat von Venedig sich bereit erklärte, „um Sr. Majestät gefällig zu sein“, die Tänzerin zu verhaften und an Preußen auszuliefern. Und so geschah es – für eine Jahresgage von ungeheuerlichen 12 000 Talern! Der König pflegte mit ihr zu speisen, Antoine Pesnes Bild hing in seinem Arbeitszimmer. Die schöne und intelligente Tänzerin hatte nicht wenige Verehrer, was den König so erzürnte, dass er der Barberina 1748 als „perfide und verführerische Kreatur“ seine Gunst entzog. Sie floh nach England, kam aber bald zurück und heiratete 1749 Carl Ludwig von Cocceji.
Später, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wird die Straße mit dem Adel, mit den Reichen und Schönen der Metropole, zum gesellschaftlichen Mittelpunkt. Laurenz Demps: „Zu den Bällen und in Salons versammelten sich die Spitzen der preußischen Gesellschaft und durchreisende Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller. Das Palais Radziwill erhielt europäischen Klang u.a. durch das Auftreten Chopins“. Auch Richard Wagner kam und erläuterte seine Musik.
Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 beschleunigte die Okkupation der Straße durch die Politik. Kanzler Otto von Bismarck arbeitete und wohnte hier, neue Ministerien und Behörden zogen nach. Botschaften errichteten in der Nähe ihre Residenzen, „Königshof“, „Kaiserhof“ und „Reichshof“ hießen die Hotels, und natürlich das „Adlon“. In der Weimarer Republik wuchs die Bedeutung weiter. Seit 1919 residierte hier das deutsche Staatsoberhaupt, der Reichspräsident. Die Wilhelmstraße war das Synonym für die deutsche Regierung, wie Londons Downing Street oder der Quai d’ Orsay in Paris. „Was sagt die Wilhelmstraße?“, fragten Europas Regierungen, wenn sie wissen wollten, wie Deutschland reagiert und was die Herren in ihren Büros nahe dem Brandenburger Tor im Schilde führten.
Die Nazis schließlich verwandelten die Regierungsmeile in eine in Hakenkreuz-Fahnen gehüllte Machtzentrale: Wenn der Führer in seinem schwarzen Mercedes von den „Linden“ in die Wilhelmstraße bog, standen seine deutschen Volksgenossen und -genossinnen mit ausgestrecktem Arm Spalier. Eine Berlinerin, Karola G., heute 84, erinnert sich noch gut an die Tortur, als BDM-Mädel sechs Stunden vor der Reichskanzlei zu stehen, „um zu jubeln und ,Heil!‘ zu rufen, als endlich der Duce für eine Minute auf den Balkon trat und huldvoll grüßte“.
Hier wurde der Zweite Weltkrieg ausgeheckt, hier fand er sein Ende. Der junge Frontkorrespondent Wassili Subbotin schildert, wie er durch die Trümmerlandschaft der Wilhelmstraße zur Reichskanzlei kam: „Wir standen im Arbeitszimmer von Hitler. Ein Teil der Decke war eingestürzt. Durch das Loch schien die Sonne. Den Fußboden bedeckten zerbrochene Möbel, Papier, Steine und viel Staub. Das Zimmer war sehr groß, einem Saal ähnlich. Eine Tür führte in einen Park. Die Bäume waren geborsten, umgestürzt, zersplittert. Jemand zeigte uns den Eingang zum Bunker. Nachdem er sich vergiftet hatte, holte man seine Leiche nach oben, um sie zu verbrennen. Hier, auf diesen Zementplatten, die von der Asche der verbrannten Archive bedeckt waren, hatte er gelegen. Wie ein Skorpion, der sich selbst gebissen hat. Als wir die Trümmerstätte verließen, sahen wir auf der Straße eine große Gruppe Menschen. Ein Pferd war krepiert, und hungrige Berliner stürzten sich auf das Fleisch.“
Der Publizist Erich Kuby schreibt, Hitler hätte seinen Tod wie eine Wagner- Oper inszeniert: „Sich unter der Reichskanzlei zu verkriechen und dort zu erschießen – darin lag eine, ich zögere nicht zu sagen: grandiose Logik eines auf den eigenen Untergang hin gelebten Lebens, dessen Größenwahn in einem Weltkrieg mit 50 Millionen Toten welthistorischen Ausdruck fand.“ Zwölf Jahre zuvor, 1933, hatte der Diktator beim Einzug in die Alte Reichskanzlei gesagt: „Keine Macht der Welt wird mich jemals wieder lebend hier rausbringen.“ Und 63 Jahre später laufen Touristen hier herum und fragen immer wieder nach dem Bunker, dem Führerbunker. Dann stehen sie auf einem Parkplatz zwischen Voß- und Gertrud-Kolmar-Straße, 200 Meter hinter dem Holocaust-Mahnmal der steinernen Särge, und benötigen viel Fantasie, sich zwischen die Plattenbau-Wohnhäuser die Reichskanzlei hineinzudenken und den Bunker, den sie gesprengt und zugeschüttet haben, als der Wohnungsbau entlang der Wilhelmstraße begann.
Das Areal war bis dahin wie ein Un-Ort behandelt worden. Die DDR, 1949 im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium gegründet, hatte zwar in Görings 2000-Zimmer-Bürobau zehn Ministerien etabliert und wollte ein riesiges Thälmann-Denkmal aufstellen, bekam aber am 17. Juni 1953 den geballten Volkszorn zu spüren. Von der nahen Grenze zu den Westsektoren zog man sich mehr ins Innerstädtische Ost-Berlins zurück. Die Wilhelmstraße war gewissermaßen erledigt, als sie 1964 zu Ehren des verstorbenen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl dessen Namen erhielt. Die Trümmer der Häuser waren weggeräumt, zwischen der leeren Straße und der Mauer lag nun der „Todesstreifen“. „Grenzgebiet! Weitergehen verboten!“ mahnten Schilder, nur munter hoppelnde Rasenhasen und Grenzsoldaten mit ihren grünen Kübelwagen belebten das Areal, den Stolz des Reiches, in dem mehr als 200 Jahre deutsche Geschichte geschrieben wurde.
Ganze vier Häuser von damals stehen noch: Das von Ernst Sagebiels 1935/36 erbaute Reichsluftfahrtministerium Hermann Görings („Ich will Hermann Meier heißen, wenn jemals ein feindliches Flugzeug die deutschen Reichsgrenzen überfliegt!“) – hier saß nach der Wende die Treuhand, jetzt eilen Finanzminister Steinbrücks Beamte durch die kilometerlangen Flure vom Detlev-Rohwedder- Haus. Schräg gegenüber, im heutigen, modern umgebauten Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, saß Joseph Goebbels einst als Minister für Volksaufklärung und Propaganda. Später gab das DDR-Presseamt hier den Chefredakteuren „die Linie“ vor, und Walter Ulbricht verbreitete im Steinsaal des Nationalrats der Nationalen Front am 15. Juni 1961 die Jahrhundertlüge, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten.
In der Nummer 68, gegenüber der Britischen Botschaft, arbeitete das Naziministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, in der DDR diktierte von hier aus Margot Honecker den Schülern ihren Klassenstandpunkt, und heute fährt Ex-Kanzler Kohl auf den Hof, um in sein Büro zu kommen. Die Wilhelmstraße 54 schließlich ist von Geschichte geradezu überladen. Über die vier Stufen zum Eingang, vorbei an den Säulen des neobarocken Repräsentationsbaus, schritten: die Herren des kaiserlichen Zivilkabinetts, Preußens Ministerpräsident Otto Braun, der Präsident des Staatsrates Konrad Adenauer, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Martin Bormann. Bis 1990 etablierte hier die DDR ihren Staatsverlag, heute ist dies der zweite Dienstsitz des Landwirtschaftsministeriums.
Der Haupteingang ist stillgelegt, die Steine sind vielfach gereinigt und geputzt, ein Schildchen erinnert an Konrad Adenauer, der von hier durch die Wilhelmstraße ins Huthhaus am Potsdamer Platz ging, um seinen Wein zu kaufen. Jetzt erzählen gläserne Tafeln zweisprachig in Wort und Bild, was es mit der Geschichtsmeile Wilhelmstraße auf sich hat – vom ARD-Studio am Reichstagufer im Norden bis zum Willy-Brandt-Haus im Süden. Gute drei Kilometer in Mitte und Kreuzberg, früher an der Topografie des Terrors von der Mauer durchtrennt.
Was aber verbinden Menschen, die hier leben und arbeiten, mit der Straße? „Die Plattenbauten sind doof“, sagt einer, „von außen jedenfalls.“ Innen haben sie alles, was zu einer guten Wohnung gehört. 1988 hatten Bautrupps die Reste des Führerbunkers gesprengt und dann diese braunen Blöcke als eine Art „Vor-Mauer“ hingestellt. Als ich selbst 1995 dort einzog, war das Haus gut bewacht: In den oberen Maisonette-Wohnungen lebten Birgit Breuel und Angela Merkel. Beim Italiener saß Gitte, die Sängerin, neben Rita Süssmuth, dann kamen mal Günter Schabowski vorbei, Katharina Witt oder Krimi-Mime Jaecki Schwarz, um die Ecke lebte Franz Müntefering. „Das Wohnen ist schon okay hier“, sagte er einmal zu mir, man ist ja mittendrin.
Inzwischen sind fast alle weg, vom Nimbus ist nur mehr der historische Name geblieben. „Die Wilhelmstraße ist leider keine Geschäftsstraße geworden“ bedauert die Optikerin Ricarda Mühlstädt, Reisebüro-Frau Gudrun Mertschenk beklagt den Wegzug vieler Mieter, die Restaurants hingegen (Italiener, Vietnamesen, Inder, Vegetarier, Chinesen, Berliner Eisbein-Köche und Steak-Griller) freuen sich über die Touristen. Von „hochgradig verseuchter Erde“ spricht Ben Maderspacher, der als Chef der Parlamentsbuchhandlung 1989 von Bonn nach Berlin kam und nun seit 2003 im Jakob-Kaiser-Haus die Politiker mit Geist versorgt. Den Rhein verbindet er zwar mit besserer deutscher Geschichte als die Wilhelmstraße, dennoch: „Es macht Spaß, hier zu arbeiten.“
So sieht es wohl auch der Dichter Rolf Hochhuth, wenn er an seiner Schreibmaschine sitzt und über das Holocaust- Mahnmal hinweg zum Tiergarten und in die Weite blickt: „Als ich kurz nach der Wende in diesen Neubau zog, sah ich das Brandenburger Tor und den Reichstag. Fantastisch.“ Beides ist mittlerweile zugebaut, aber „alles ist nah, der Tiergarten, mein Theater am Schiffbauerdamm, die Friedrichstraße“. Hochhuth empört die Beflissenheit, mit der „unsere Politik“ den Wünschen beispielsweise der Engländer folgt und die Wilhelmstraße vor der Britischen Botschaft sperrt. Ansonsten spielen einige Szenen seines Stücks „Sommer 14“ in dieser Straße. Und im Winter 1997 hat der Dramatiker auch ein Gedicht über die „Wilhelm“ geschrieben, das so anfängt: „Von Wilhelms, von Hitlers / Machtstraße blieb / so viel wie Wasser / in einem Sieb.“ Und weiter:
„Wo einst Reichs-Kanzleien,
Gestapokeller, Hotels mit 5 Sternen,
Auswärtiges Amt, Botschaften, Palais
heute – Wohnkasernen.
Plattenbauten wie allerorten,
überfüllt mit Massengehäusen ...
Weltgeistbilanz! Nachbarmorden
folgt die Quittung: Nazi-Preußen.“
Und das Ende: „Ihrem Kaiser bleibt statt des Palasts / eine Kate wie dem Fischer un siner Fru. / Den ,Ertrag‘ des Griffs zur Weltmacht / decken Leichen und – Schweigen zu.“
Januar 2008. Thai-Damen eröffnen einen Massage-Spa-Salon „for harmony between body and soul“. Die alte Wilhelmstraße ist in der Neuzeit angekommen.
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