Geiseldrama von Gladbeck: Mord in aller Öffentlichkeit
54 Stunden dauerte im August 1988 das „Geiseldrama von Gladbeck“. Vom Bankraub bis zum blutigen Ende auf der Autobahn wurde das Verbrechen von Reportern begleitet – und Deutschland sah am Fernseher zu.
Eigentlich eine ganz normale Bushaltestelle: Ein flaches, weißes Dach, darüber grüne Baumkronen und grauer Himmel, ein paar Menschen steigen in den Bus Nummer 53. Inzwischen fährt er eine andere Strecke als im Sommer 1988, von Bremen-Huckelriede über das Klinikum links der Weser bis zu Ikea. Der Fahrer war in jenem Sommer noch nicht im Dienst. Aber manchmal, wenn er in seinem roten Bus in Huckelriede steht, denkt er daran, dass hier vor 20 Jahren zwei Männer den 53er-Bus kaperten. Und zwei Fahrgäste sterben mussten.
Die Zeiger der Uhr an der Haltestelle stehen auf kurz nach 19 Uhr. Genau um diese Zeit stürmten am 17. August 1988 zwei Männer den Bus Nummer 53. Am Tag davor hatten sie in Gladbeck eine Bank überfallen und zwei Angestellte als Geiseln genommen, im Fluchtauto eine planlose Fahrt begonnen, vom Ruhrgebiet bis nach Bremen. Sie entführten den Bus, erschossen an einer Raststätte eine Geisel, fuhren Hunderte Kilometer nach Westen, über die niederländische Grenze, und von dort in einem neuen Fluchtwagen nach Köln. Am 18. August stürmt die Polizei den Wagen, die zweite Geisel stirbt: eine junge Bremerin, die auch im Bus Nummer 53 gesessen hatte.
54 Stunden lagen zwischen dem Überfall und dem Ende auf der A 3. 54 Stunden, die als das „Geiseldrama von Gladbeck“ in die Kriminalgeschichte eingingen, als beispielloses Fiasko der Polizei, als Sündenfall des deutschen Journalismus. Denn ein so öffentliches Gewaltverbrechen hatte die Bundesrepublik noch nicht gesehen: Mörder, die vor laufender Kamera Interviews geben. Geiseln, die mit der Pistole am Hals für die Presse abgelichtet werden. Journalisten, die den entführten Bus verfolgen. Ein Verbrecher, der sich seine Knarre in den Mund steckt und sagt: „Ich scheiß auf mein Leben!“ Und dem das Tagesthemenpublikum dabei zusieht.
16. August 1988, ein schwüler Sommertag. Hans-Jürgen Rösner, 31, und Dieter Degowski, 32, haben schon als Halbwüchsige zusammen geklaut. Degowski lernte Lesen und Schreiben erst im Jugendgefängnis; Rösner, mehrfach wegen Einbrüchen und Diebstahl hinter Gittern, nutzt 1986 einen Hafturlaub zur Flucht und versteckt sich seitdem. Um 8 Uhr 40 dringen sie in eine Deutsche-Bank-Filiale in Gladbeck ein, wenige Minuten später steht die Polizei mit Blaulicht vor den Fenstern des schmucklosen Flachbaus. Rösner und Degowski nehmen die beiden Bankangestellten als Geiseln.
Stundenlang verhandeln sie mit der Polizei, eine Geisel informiert telefonisch zwei Nachrichtenredaktionen. Von nun an sind die Journalisten auf der Jagd nach der ganz großen Story – und fasziniert von der Nähe des Bösen. Die Nummer der Bankfiliale steht im Telefonbuch, Geiseln und Gewalttäter sind für die Medien bequem zu erreichen, und sie rufen an, aus der ganzen Republik. Die Täter machen es ihnen leicht, sie wollen „durch die Medien sprechen“, wie Degowski sagt. Eine kuriose Situation tritt ein: Die Journalisten sind besser informiert als die Polizei.
Mit 300 000 Mark Beute und den Geiseln machen sich Rösner und Degowski im Fluchtauto, einem mit Peilsendern und Abhörgeräten ausgestatteten Audi 100, auf eine Irrfahrt über Bielefeld und Münster nach Niedersachsen, unterwegs steigt Rösners Freundin Marion Löblich zu. Sie schlafen kaum, berauschen sich mit einem Cocktail aus Alkohol, Cola und dem Schlafmittel Vesparax. Am 17. August, 30 Stunden nach dem Bankeinbruch, erreichen sie gegen 13 Uhr Bremen. Das Trio fühlt sich sicher: Löblich und Rösner, die zu diesem Zeitpunkt meistgesuchten Verbrecher des Landes, bummeln durch Geschäfte, kaufen eine Hose für Marion Löblich, T-Shirts, frische Wäsche. Über eine Stunde lang ist Dieter Degowski allein mit den beiden Geiseln, verlässt den Wagen sogar zum Pinkeln, nickt im Auto kurz ein. Die Polizei, die den Wagen beobachtet, handelt nicht.
Als die drei einen Streifenwagen bemerken, geraten sie in Panik. Versuche, mit der Polizei zu verhandeln, scheitern, Rösner und Degowski stürmen den Linienbus, der gerade seine Fahrt antreten will. Sofort sammeln sich Journalisten und Schaulustige, schießen Fotos, filmen die Geiseln aus nächster Nähe. Ein vorbeiradelnder Junge guckt neugierig durch die Fahrertür, ein Polizist auf der anderen Straßenseite dreht dem Geschehen den Rücken zu. Rösner, gelbes Muscle-Shirt, strähniges Haar, bunt tätowierte Arme, hält derweil aus der Tür des Busses eine Pressekonferenz: Er teilt den Reportern mit, er lasse gerade vom Gladbecker Bankkassierer die erbeuteten Geldscheine überprüfen.
Dann kommt es zu dem Interview, das viele als das spektakulärste des an Spektakeln nicht armen Verbrechens sehen. Der Mann im geringelten T-Shirt, in dessen Mikrofon Rösner sagt: „Ich scheiß’ auf mein Leben“, ist Günter Ollendorf, Fernsehreporter bei Radio Bremen. Rösner erzählt von seiner schweren Kindheit, dem Erziehungsheim, den elf Jahren im Gefängnis. Ollendorf hört zu. „Vor allem mein Kumpel ist brandgefährlich“, sagt Rösner. „Und das Letzte ist dann dieser hier“, er steckt sich die Pistole in den Mund. Ein paar Stunden später wird Ollendorfs Interview in den Tagesthemen und im ZDF gesendet. Rund 13 Millionen Zuschauer sitzen vor den Fernsehgeräten. Längst wirkt da die Realität wie Fiktion: Das Geiseldrama ist zu einem Fernsehkrimi geworden.
„Wenn ich das Interview nicht gemacht hätte, hätte ich meinen Beruf verfehlt“, sagt Ollendorf heute. „Außerdem hatte ich das Gefühl, für eine bessere Atmosphäre sorgen zu können. Als ich den Knaben fragte, ob er nicht daran denkt, dass da auch Unschuldige im Bus sitzen, Kinder – da wirkte er sehr unsicher.“ Der weißhaarige, 71-jährige Ollendorf arbeitet nicht mehr als Journalist, sondern führt in der Bremer Innenstadt ein Geschäft für Mode aus peruanischer Wolle. Er findet, auch wenn das Interview spektakulär war, so sei es doch nicht mit den späteren Interviews in Köln zu vergleichen, weil in Bremen noch niemand getötet worden war. „Wie ich einen Tag später reagiert hätte, weiß ich nicht.“ Von journalistischem Versagen könne man in seinem Fall nicht sprechen. Er überlegt eine Weile, sein Blick wandert über bunt gestreiften Strickjacken. „Was ich getan habe, war ganz normale Berufsausübung“, sagt er dann. Was er von Rösner erfuhr, hätte er schließlich nicht von dessen Anwalt erfahren können. Und es läge ja auch im Interesse des Bürgers, Informationen zu bekommen.
Nicht er, sondern die Polizei habe versagt: Ein Psychologe hätte doch die Situation entschärfen können. Aber die Polizei habe in der Nähe des Busses seelenruhig den Verkehr umgeleitet und einen Pressefotografen als Vermittler genutzt, ohne direkt mit Rösner zu sprechen. Und so prallt auch der oft ausgesprochene Vorwurf, die Medien hätten die Polizei behindert, an Ollendorf ab: „Wo konnten wir die Polizei denn behindern? Die ist ja gar nicht in Erscheinung getreten.“
Am Abend des 17. Augusts verlassen Rösner und Degowski mit dem Bus und rund 30 Geiseln Bremen. An der Autobahnraststätte Grundbergsee machen sie halt. Nach einem Funk- und Kompetenzwirrwarr bei der Polizei nehmen zwei Beamte Marion Löblich vor der Toilette fest, obwohl Rösner und Degowski mit den Geiseln im Bus sind. Die Geiselnehmer stellen ein Ultimatum von wenigen Minuten. Die Polizei gibt nach, doch als Löblich freigelassen werden soll, gibt es Probleme beim Öffnen der Handschellen. Um 23 Uhr und sechs Minuten dreht Degowski durch und schießt dem 15-jährigen Italiener Emanuele de Giorgi in den Kopf – eine Minute, bevor Rösners Freundin wieder am Bus ist. Journalisten schleifen den Jungen aus dem Bus. Einen Rettungswagen hat die Polizei nicht bereitgestellt, der Notarzt kommt erst nach 20 Minuten, dann steht er auf dem Weg in die Klinik wegen der abgesperrten Autobahn im Stau. Um 1 Uhr 15 ist Emanuele de Giorgi tot.
Als der Bus gegen Mitternacht wieder auf die Autobahn fährt,verfolgen ihn die Journalisten. Es geht Richtung Westen, über das Dreieck Ahlhorner Heide bis hinter die holländische Grenze. Dpa-Korrespondent Manfred Protze ist in einem Taxi ganz nah am Bus, Rösner macht das wütend; er hält den Bus an, verfeuert fast sein ganzes Magazin auf das Taxi. Doch als der Bus wieder losfährt, bleibt Protze dran.
Manfred Protze ist heute Sprecher des Deutschen Presserats. Er sagt, man könne nicht vorhersagen, ob ein Ereignis wie Gladbeck heute dieselben Medienreaktionen auslösen würde wie damals. Gewissheit könne nur der Ernstfall geben. „Den wünscht sich aber keiner.“ Die Ereignisse seien „eine öffentliche Ermordung“ gewesen, das sei selbst mit der Berichterstattung über den Inzestfall von Amstetten nicht vergleichbar. Der Deutsche Presserat, den Manfred Protze ja heute vertritt, schrieb damals über ihn und seine Kollegen, sie hätten „die Grenzen ihres gesellschaftlichen Auftrags überschritten.“
18. August, Donnerstag. Um 10 Uhr 25 passieren die Geiselnehmer, nach über 50 Stunden, in einem neuen Fluchtauto die Stadtgrenze Kölns. In den Niederlanden sind alle Geiseln freigekommen, bis auf zwei junge Frauen, Ines Voitle und Silke Bischoff. Rösner will den Dom sehen, fährt in die Fußgängerzone. Menschenmassen sammeln sich um den BMW, der allemal interessanter ist als der Sommerschlussverkauf. Berührungsängste gibt es nicht, wirken die Täter doch längst wie zwei Figuren aus einem Tatort.Journalisten sichern sich die Logenplätze. Rösner und Degowski, Geiselnehmer und Mörder, sind begehrt, die Fotografen halten mit ihren Kameras drauf und Journalisten Mikros ins Auto. „Können wir irgendetwas für Sie tun?“, fragt ein Reporter – er fragt es die Täter, nicht die Geiseln.
Nicht alle Interviews gingen auch auf Sendung. Frank Plasberg, heute Moderator von „Hart aber fair“, war einer der Reporter. Vor fünf Jahren sagte er in einem Interview mit wdr.de, der verantwortliche Redakteur habe sich damals gegen sein Interview entschieden. Trotzdem, so Plasberg, würde er „aber nicht sagen, dass ich da als junger Reporter etwas falsch gemacht habe. Ich erwarte das von jungen Reportern, dass die mit Gluteifer rangehen und versuchen, was eben noch verantwortbar ist, zu beschaffen.“ Heute äußert sich Plasberg zu dem Thema nicht mehr. Und das Interview mit wdr.de wurde vor kurzem von der Seite entfernt.
Im Gluteifer geben die Journalisten in der Kölner Fussgängerzone die Distanz des Beobachters völlig auf. Sie wollen hören, wie sich die Geiseln in ihrer Todesangst fühlen: „Wie geht es Ihnen?“, fragt einer Silke Bischoff, die junge blonde Frau, der Degowski die Pistole an den Hals hält. „Ja, gut“, sie lächelt schüchtern, „ich hab bloß Angst davor, dass die Polizei nicht darauf eingeht und noch mal so was passiert, dass jemand umgebracht wird oder so …“
Ganz vorn am BMW steht Udo Röbel, stellvertretender Chefredakteur der Boulevardzeitung „Express“. Als Rösner und Degowski weg wollen aus Köln, setzt Röbel sich in das Fluchtauto und lotst sie zur Autobahn. „Journalistisches Totalversagen“, lautete später Röbels Selbsterkenntnis. Die Kollegen nannten ihn damals „Reporter des Satans“.
Gladbeck und die Erkenntnis, was er getan hat, seien die einschneidendsten Erfahrungen in seinem Berufsleben gewesen, sagt der 58-jährige Udo Röbel heute. In einem Bistro am Hamburger Hauptbahnhof erzählt er, dass er sich als Sündenbock für all die Kollegen sieht, die auch nicht besser gehandelt hätten. Die Erfahrungen hätten ihn sensibilisiert: Später, als Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, habe er eher dazu geneigt, „Geschichten nicht bis zum Exzess auszureizen“. Damals in Köln herrschte unter den Journalisten „eine Mischung aus Berauschtsein, geil auf die Story sein“. Aber in der konkreten Situation, glaubt Udo Röbel, als Rösner ihn aufforderte, ihn zur A 3 zu lotsen, hätte es auch schlimmer kommen können. „Was wäre denn passiert, wenn ich das nicht gemacht hätte? Wären die dann durchgedreht? Auf einmal hatte ich Verantwortung für die Situation.“ Für eine Situation, das ist Udo Röbel heute klar, in die er sich gar nicht erst hätte begeben dürfen.
Röbel steigt an der Raststätte Siegburg aus, der BMW fährt weiter Richtung Rheinland-Pfalz, 15 SEK-Beamten folgen. Um 13 Uhr 38, Höhe Bad Honnef, rammt das SEK den BMW, über 60 Schüsse zerschießen die linke Seite des Fluchtwagens, die Vorder- und Hintertür, die Reifen, das Heck, den Kofferraum. Rösner und Degowski schießen zurück. Ines Voitle springt aus dem Auto und lässt sich in den Graben rollen. Vermutlich versehentlich schießt Rösner auf Silke Bischoff, die Kugel durchschlägt die Brust, die linke Lunge, das Herz, die rechte Lunge. „Die Reanimationsbemühungen bei der Patientin Nummer 2 eingestellt“, steht später im Protokoll. „Sie wies mit dem Leben nicht vereinbare Körperzerstörungen auf.“ Silke Bischoff stirbt, auf der A 3, Kilometer 37,5, am 18. August, drei Wochen vor ihrem 19. Geburtstag.
Im Sommer 1989 beginnt der Prozess vor der Strafkammer II des Essener Landgerichts. Im Gerichtssaal herrscht strenges Film- und Fotografierverbot. Ein Spektakel wie während der Geiselnahme, die das Magazin „Newsweek“ „The Hans and Dieter Show“ nannte, wollte der Richter vermeiden.
Dieter Degowski, Häftling der JVA Werl, verurteilt zu lebenslänglicher Haft, sitzt noch mindestens bis 2013. Ein Gnadengesuch wurde abgelehnt, das zweite hat wenig Aussicht auf Erfolg. Hans-Jürgen Rösner, Häftling der JVA Wuppertal, verurteilt zu lebenslänglicher Haft, kommt nicht vor 2016 frei. Marion Löblich wurde 1995 entlassen.
Die Mutter von Silke Bischoff konnte noch vor zwei Jahren in einer Fernsehreportage keinen Satz über ihre Tochter sagen, ohne zu weinen. 20 Jahre – als wäre es gestern gewesen.
Martina Scheffler
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