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Halbmarathon
© Camera4

Jogging: Laufen läuft

Es begann mit Pheidippides. Später rannten Exoten durch den Wald. Heute joggen Massen sinnsuchend durch die Städte

Mitten aus der Straße wächst ein Wald von tausend Beinen. Manche stecken zur Hälfte in Radlerhosen, manche bis zum Knöchel in atmungsaktivem Stoff. Andere sind nackt und duften nach Massageöl, es sind kurze Dicke darunter und lange Dünne, an manchen laufen gut ausgebildete Muskeln hinab, an anderen Krampfadern. Auf einmal fängt der Wald an, auf der Stelle zu beben, erst gemächlich, dann heftiger, bis der Startschuss knallt. Die ersten Beine reißen nach vorne aus und ziehen die anderen hinterher, Meter um Meter über den Asphalt. Die Massenbewegung beginnt.

Diese Bewegung ist gerade auf ihrem nächsten Höhepunkt angelangt. 25 000 haben sich angemeldet zum Halbmarathon an diesem Sonntag in Berlin, so viele wie noch nie. Sie alle können Geschichten erzählen, wie sie ihr Leben auf die Füße gestellt haben, um ein besseres Körpergefühl zu finden, eine Herausforderung, Geselligkeit, Entspannung oder einfach sich selbst. Manche Geschichten sind Literatur geworden. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ schreibt der japanische Autor Haruki Murakami: „Das meiste über mich selbst und über das Schreiben von Romanen habe ich durch mein tägliches Lauftraining gelernt.“

Der Urahn der Bewegung hatte das Laufen noch beruflich betrieben und am Ende mit dem Leben bezahlt. Pheidippides hieß der Mann, der die Nachricht vom Sieg der Athener über die Perser in der Schlacht von Marathon 490 vor Christus über rund 40 Kilometer aus eben jenem Marathon nach Athen brachte und dann tot zusammenbrach. Wahrscheinlich war es ganz anders, aber so erzählt es die Legende. Heute ist Laufen eine exakte Wissenschaft. Sie lebt von Zeiten, Pulsfrequenzen, Geschwindigkeiten. 17 Millionen Menschen laufen in Deutschland, das will die Gesellschaft für Konsumforschung herausgefunden haben. Dazu kommen sechs Millionen Walker und vier Millionen Nordic Walker, die mit ihren Stöcken unterwegs sind. Mitgerechnet sind dabei aber sicher alle, die sich einfach nur für Läufer halten. Realistisch gesehen laufen drei bis fünf Millionen Menschen regelmäßig. Sie bevölkern Parks, Wälder und Bürgersteige. Ein Park, durch den kein Jogger läuft, muss ökologisch verseucht sein.

Die ersten Freizeitläufer in Deutschland in den fünfziger Jahren waren noch exotisch wie Höhlenmenschen. „In Berlin wurde man angeschaut wie ein Exhibitionist“, erzählt Horst Milde. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es zwar große Laufveranstaltungen in Berlin gegeben, aber nur für Vereinsmitglieder. Milde organisierte 1964 etwas völlig Neues: einen Volkslauf, einen Wettbewerb, an dem nicht nur Mitglieder teilnehmen konnten. „Ich habe Ruderer, Kanuten und Radfahrer angesprochen, also die Verbände, von denen ich wusste, dass es auch Verrückte sind.“ Am Teufelsberg liefen dann 750 Männer durchs Gelände, auch durch die Furchen, die englische Panzer nach ihren Manövern hinterlassen hatten. Milde war damals Mittelstreckenläufer und Student an der Freien Universität, der Crosslauf sein erster Einsatz als Organisator. Weil er Laufen für ein „lebenslanges Elixier“ hält, füllte er das ganze Jahr mit Veranstaltungen, vom Neujahrslauf bis zum Silvesterlauf. 1974 organisierte er den ersten Berlin-Marathon, mit 286 Teilnehmern im Grunewald. Den Marathon leitete er, bis er 2004 die sportliche Verantwortung an seinen Sohn Mark übergab.

Horst Milde setzte das um, was der Deutsche Sportbund, der DSB, auf seinem Bundestag 1959 in Duisburg beschlossen hatte. Sport sollte für alle da sein, es sollte einen „zweiten Weg“ geben neben dem Leistungssport. 1970 folgte dem Beschluss eine Kampagne: Trimm dich. Laufen wurde Massenbewegung.

Die Kampagne fand schnell eine Uniform: Der Trainingsanzug wurde schick. Und einen Ort: den Trimm-dich-Pfad. Schon vor 1970 hatte eine Versicherung Geräteparcours aufbauen lassen, an denen Kraftübungen und Gymnastik zu bewältigen waren. Aber erst die Trimmbewegung erweckte diese Parcours zum Leben, in den siebziger Jahren sollen es bis zu 1500 Trimmpfade in Deutschland gewesen sein. Einen treuen Begleiter hatten die Sportler auch: Trimmy, das Männchen mit dem nach oben gereckten Daumen. „In den siebziger Jahren war es nach Coca Cola das bekannteste Markenzeichen in Deutschland“, erzählt Karl-Heinz Marchlowitz, der damals Abteilungsleiter Breitensport beim DSB war. 90 Prozent der Bundesbürger kannten Trimmy.

Der Sportbund wollte es mit noch nicht lange bekannten Gegnern aufnehmen: den Zivilisationskrankheiten. Herz und Kreislauf der Deutschen waren anfällig geworden, weil sie sich ungesund ernährten und trotz verringerter Arbeitszeiten weniger bewegten. Das Gegenmittel hieß: Trimmen. Bis dahin kannten die Deutschen dieses Wort aus dem Englischen allenfalls vom Segeln. Jetzt wurde Trimmen ein neues Lebensgefühl.

Erst veranstaltete der Sportbund noch allgemeine Trimmspiele, von 1975 an ging es speziell ums Laufen. „Ein Schlauer trimmt die Ausdauer“, „Das neue Laufen ohne zu schnaufen“ und „Trimming 130“ waren die Slogans, und Bundespräsident Walter Scheel gab auf dem Bonner Venusberg den Startschuss für die erste große Laufkampagne. Auch Emil Zatopek, der tschechische Wunderläufer, warb in Deutschland dafür mit seinem Naturgesetz: „Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.“

Der technische Chef der Kampagne war Karl-Heinz Marchlowitz, die ersten Ideen stammten von Jürgen Palm, dem Breitensport-Geschäftsführer des DSB. Palm starb 2006 mit 71 Jahren in Amerika – nach einem Dauerlauf. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Laufbewegung, dass einige ihrer Vordenker beim Laufen verunglückten. Ernst van Aaken wurde 1972 beim Training von einem Auto angefahren und verlor beide Beine. Der Arzt war einer der Ersten, die zu langem und langsamem Laufen rieten, um Ausdauer und so Gesundheit zu verbessern. Seine Gesundheit war nach dem Unfall stark angeschlagen, er starb 1984. Im selben Jahr fand ein Marathonläufer den Guru der amerikanischen Joggingbewegung James Fixx leblos an einer Landstraße. Fixx hatte beim Laufen einen Herzinfarkt erlitten – mit 52 Jahren. „Das komplette Buch vom Laufen“ von Fixx stand Ende der siebziger Jahre ein Jahr lang an der Spitze der amerikanischen Bestsellerlisten. Vielleicht wäre ihnen allen ohne Laufen auch schon viel früher etwas zugestoßen.

Die unruhige Laufbewegung brachte Jürgen Palm in eine Form: den Lauftreff. Er sollte auch für Nicht-Vereinsmitglieder offen sein, eine Stunde dauern und aus mehreren Gruppen bestehen, damit jeder in seinem Tempo laufen kann. „Die Leute mussten das Laufen ja erst einmal lernen“, sagt Marchlowitz, „die konnten 200 Meter traben, dann mussten sie Gehpausen machen.“

Der Lauftreff löste einen Widerspruch auf: Er bietet Kontinuität, Betreuung und Geselligkeit, ohne jedoch eine feste Bindung zu verlangen. Fast 4000 Lauftreffs gibt es heute in Deutschland. Mit der Trimmkampagne konnte der Deutsche Sportbund seine Mitgliederzahlen von 9 auf 18 Millionen steigern.

Was sich die Läufer an guter Form antrainiert hatten, wollten sie auch im Wettkampf zeigen. Am besten in der Königsdisziplin, dem Marathon. Der Auftrag an jeden Mann, er solle im Leben einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen, wurde um das Marathonlaufen erweitert. Die 42,195 Kilometer lange Strecke gewann auch dadurch an Attraktivität, dass sie die Städte eroberte. Marathon wurde Publikumssport. „Da haben die Leute gesehen, dass der Nachbar plötzlich rennt, obwohl er einen dicken Bauch hat“, sagt Milde. Angefangen hatten die Amerikaner, 1976 führte der Marathon in New York nicht mehr nur durch den Central Park, sondern auf der Straße durch alle fünf Stadtbezirke. 1981 starteten in Frankfurt am Main und Berlin die ersten City-Marathons in Deutschland. Die Teilnehmerzahl in Berlin schnellte von 300 auf 3300 nach oben. Hunderttausende standen an der Strecke.

In der DDR ging es ebenfalls 1981 los, 500 Menschen machten beim Lichtenberg-Marathon mit, aus dem später der Friedenslauf entstand. Sie hatten auch ein Idol, Waldemar Cierpinski, der 1976 und 1980 Olympiasieger im Marathon geworden war. Im Westen gehörte Herbert Steffny zu den Vorbildern. Steffny, dessen Bruder Manfred zu den Pionieren der Laufbewegung zählt, gewann 1986 bei den Europameisterschaften in Stuttgart im Marathon Bronze. Heute ist er Trainer und Laufbuchautor. Für ihn war der Vereinigungsmarathon 1990 in Berlin ein besonderer Beschleuniger der Bewegung: „Da wollten alle durchs Brandenburger Tor laufen.“

In den neunziger Jahren gehörte ein Marathon zu jeder Großstadt wie ein gutes Fußballstadion. Die Teilnehmerzahlen explodierten. Der Marathon als Mount Everest des kleinen Mannes. Der Boom packte auch Prominente. Steffny machte unter anderem Joschka Fischer fit. Als Fischer mit dem Laufen anfing, wog er 112 Kilo. Er wollte laufen, anstatt sich gehen zu lassen. Mit neuer Kondition schaffte er den Sprung zum Bundesaußenminister und den Marathon in 3:41 Stunden. Fischer hat darüber ein Buch geschrieben: „Mein langer Lauf zu mir selbst“.

Dass Frauen gleichberechtigt in dieser Bewegung wurden, fing mit zwei Buchstaben an: K. V. Unter ihren Initialen meldete sich Kathrine Virginia Switzer 1967 beim Boston-Marathon an. Sonst wäre sie nicht an eine Startnummer gekommen, denn für Frauen sei der Marathon zu anstrengend, sagten die Sportfunktionäre. Am Start versteckte die 20 Jahre alte Studentin ihre langen Haare unter einer Wollmütze, doch nach zwei Kilometern stürzte auf einmal Ko-Renndirektor Jock Semple auf sie. „Get the hell out of my race and give me that number!“, brüllte er – verschwinde verdammt noch mal aus meinem Rennen und gib mir die Startnummer. In diesem Straßenkampf hatte Switzer jedoch starken Begleitschutz. Ihr damaliger Freund war ein 115 Kilo schwerer Footballspieler. Er drängte Semple zur Seite und machte den Weg wieder frei. Die Szene spielte sich direkt vor dem Pressebus ab, die Fotos der erst angegriffenen und dann verteidigten Läuferin gingen um die Welt. Switzer kam nach 4:20 Stunden ins Ziel und war als erste Frau offiziell einen Marathon gelaufen.

Frauenläufe sind inzwischen fester Bestandteil der Laufbewegung. Über Walking und Nordic Walking kamen viele gesundheitsbewusste Frauen dazu. Überhaupt hat sich die Bewegung vervielfältigt. Es gibt Staffelläufe, Wohltätigkeitsläufe, Firmenläufe. Beim JP Morgan Chase in Frankfurt 2007 starteten 62 000 Läufer aus fast 2500 Firmen. „Die Bewegung verselbstständigt sich“, sagt Herbert Steffny.

Die Trends werden manchmal von Agenturen und Unternehmen gesetzt, denn Laufen, die eigentlich einfachste und billigste Sportart, ist heute einer der größten Märkte der Sportartikelindustrie. Mit Laufschuhen setzt sie weltweit mehr als 20 Milliarden Dollar um. Vor jedem großen Marathon finden Messen statt. Dort präsentieren auch die Verlage ihre Ratgeber und die Reiseanbieter ihren Lauftourismus. Tausende reisen um die Welt, um vor anderer Architektur oder Natur zu laufen, sogar in der Wüste. Steffny startete beim Medoc-Marathon um Bordeaux: „Da liefen Themenwagen mit wie beim Karneval, und es wurde viel Rotwein gereicht.“ Seine Zeit: 6:26 Stunden – inklusive Weinproben. „Solchen Schabernack hätte es früher nicht gegeben, da wurden bei Läufen die Jugendlichen disqualifiziert, denen das Hemd aus der Hose hing“, erzählt Steffny.

Reisen können sich die Läufer leisten, denn Laufen ist eine Veranstaltung der bürgerlichen Mittelschicht. „Zum Laufen kommt man eher über Einsichten: Ich habe ein Problem und helfe mir selber“, sagt Steffny, „das ist die intellektuelle und individualistische Sichtweise der Mittelschicht.“

Mit ihren unzähligen Veranstaltungen wird die Bewegung allmählich unübersichtlich. Die Rennen sind aufgesplittet in Läufer, Nordic Walker, Skater und Rollstuhlfahrer. Vorher finden Bambini-Rennen für Kinder statt. Von den inzwischen 300 Marathons in Deutschland haben viele kürzere Strecken integriert, wer mag, kann früher aussteigen und ist trotzdem am Ziel. Ein Beleg dafür, dass sich die Laufbewegung verändert hat. Horst Milde sagt: „Wir haben eine Entwicklung von der Leistung hin zur Teilnahmebestätigung.“ Es gibt mehr als zehn Mal so viel Läufer wie früher, aber die Zahl derjenigen, die einen Marathon schneller als in drei Stunden laufen können, ist zurückgegangen. „Es sind die ,Hurra, ich lebe wieder‘-Botschafter dazugekommen“, sagt Steffny. Sie machten die Rennen zu einer „Fitnessdemo“. Übergewichtige Läufer etwa, die etwas für ihre Gesundheit tun wollen und Maratonnis genannt werden. „Die Läufer sind heute das herumlaufende schlechte Gewissen der Nichtläufer“, sagt Steffny. Diese Gesundheits- und Genussläufer lassen sich Zeit. Früher schlossen die Veranstalter bei den Marathons das Ziel nach fünf Stunden, heute ist es auch nach sieben Stunden noch offen.

Die Teilnehmerzahlen der Marathons stagnieren auf hohem Niveau. Vielleicht haben viele, die einmal im Leben einen Marathon laufen wollten, ihren Wunsch nun erfüllt. Und es gibt noch einen Grund: Laufen soll noch gesünder werden. Die Nachrichten von Todesfällen und Verletzungen beim Laufen haben die Bewegung zwar nicht erschüttert, aber nachdenklich gemacht. Eine Lösung: die halbe Strecke. Was an diesem Sonntag in Berlin zu sehen ist, ist nicht nur die Gegenwart der Laufbewegung, sondern auch ihre Zukunft – eine leidenschaftlich bewegte Masse.

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