1968 im Tagesspiegel: Konventionelle Vorstellungen überspringen
Die Rubrik "Die Meinung der Opposition" erschien regelmäßig in der Sonnabend-Ausgabe des Tagesspiegels
Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 17. Februar 1968 schrieb Hans-Joachim Boehm über die Jugend, die ihm Sorgen bereitet.
Die Meinung der Opposition - unter dieser Überschrift erscheinen in der Sonnabend-Ausgabe des Tagesspiegels regelmäßig Meinungsäußerungen der parlamentarischen Oppositionspartei in Berlin. Diese Rubrik soll ein Beitrag zur Entfaltung des politischen Lebens in Berlin sein, die ohne wirksame Opposition nicht möglich ist. Jede Oppositionspartei bedarf über ihre parlamentarische Tätigkeit hinaus, wenn sie in ihrer für die Allgemeinheit wichtigen Funktion nicht gehemmt sein soll, auch der publizistischen Selbstdarstellung, die ihr nach Lage der Dinge anderswo nicht möglich ist und ihr deshalb hier eingeräumt wird. Die Redaktion trägt für diese Beiträge natürlich nicht die inhaltliche Verantwortung. Die Redaktion des Tagesspiegels
Konventionelle Vorstellungen überspringen
Die Radikalinskis aus der jungen Generation und die Rowdies sind es, die in den letzten Monaten Schlagzeilen in der deutschen Presse gemacht haben. Sie beschäftigen die Öffentlichkeit, den Mann auf der Straße, Professoren und Verwaltungen der Hochschulen und die Politiker.
Und dennoch liegen die Gefahren für die Zukunft Berlins nicht bei den Hunderten von Radaumachern, sondern vielmehr bei den 200 000 Zwanzig- bis Fünfundzwanzig- jährigen und den Zehntausenden jedes nachfolgenden Jahrganges. In Unkenntnis der kommunistischen Taktik und der politischen Ereignisse der Nachkriegsjahre 1945 bis 1950 neigen erschreckend viele von ihnen in ehrlicher Überzeugung einer Haltung zu, die es kaum noch möglich macht, mit ihnen zu diskutieren, ohne aneinander vorbeizureden. Unzweifelhaft ist es den Kommunisten gelungen, ihre Propaganda bei der Jugend von heute an den Mann zu bringen.
Alle, die zu Diskussionen mit politisch interessierten Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen eingeladen werden, finden bei 80 Prozent der Teilnehmer nicht etwa nur eine veränderte Grundhaltung - was durchaus natürlich wäre - sondern sie müssen sich auch ernsthaft mit Argumenten auseinandersetzen, die wir fast zwei Jahrzehnte lang als rein kommunistische Propaganda beiseite geschoben haben.
Junge Lehrer behaupten zum Beispiel allen Ernstes - und das sicher nicht nur in Diskussionsveranstaltungen wahlberechtigter Bürger -, daß sich Herr Ulbricht und seine ."DDR" zu Recht von der Bundesrepublik bedroht fühlten. Andere junge Leute, die in Führungspositionen hineinwachsen sollen, halten es tatsächlich für eine Provokation, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich in Berlin anwesend zeigt, wenn Bundesbehörden ihren Sitz in unserer Stadt haben oder Bundestagsausschüsse hier zusammentreten. Und sehr viele wollen nicht einsehen, weshalb man nicht die "DDR" anerkennen solle, um eine friedliche Entwicklung zwischen Ost und West einzuleiten.
Diese jungen Menschen sind weit davon entfernt, Kommunisten zu sein. Sie haben sich aber die jahrelang auf uns herabrieselnden Argumente kommunistischer Propaganda - unwissentlich zu eigen gemacht Wenn, wir. dieser Entwicklung weiter tatenlos zusehen, so wird bald die Mehrheit in der heranwachsenden Generation so denken. In diesem Sinne könnte die These der Kommunisten, die Zeit arbeite für sie, in früher ungeahnter Weise Wirklichkeit werden. Dies ist die Quittung dafür, daß wir in Selbstsicherheit und unangebrachtem Gefühl der Überlegenheit jahrelang geglaubt haben, auf die - zugegebenermaßen stupide - Erwiderung kommunistischer Propaganda-Behauptungen verzichten zu können, weil wir darin "olle Kamellen" sahen. Vor allem der Senat von Berlin hat nicht zur Kenntnis nehmen wollen, welche Gefahr in der ständigen Wiederholung von noch so falschen Behauptungen der Kommunisten liegt, wenn eine energische Zurückweisung und wirksame Richtigstellung unterbleibt.
Podiumsgespräche oder sonstige Diskussionsveranstaltungen sind deshalb heute kein geeignetes Mittel, die gegenwärtige Situation und die daraus einzuschlagende Politik mit der jungen Generation zu erörtern. Die Entwicklung in den entscheidenden Jahren bis zum heutigen Stand kann in einem kurzen Diskussionsbeitrag nicht anschaulich dargelegt werden, und es ist unmöglich, gewissermaßen am Rande eines solchen Gespräches die Lehren aus dieser Entwicklung überzeugend vorzutragen.
In dieser bedrohlichen Lage ist es gar nicht einzusehen, warum nicht ein demokratisches Gemeinwesen zielbewußt zu einer Gegenaktion gegen die Propaganda der Kommunisten ansetzen sollte. Wäre es nicht zu überlegen, ob man nicht wenigstens in den nachwachsenden Jahrgängen, fürs erste etwa in der Oberstufe unserer Gymnasien, Sondervorlesungen abhalten sollte an Stelle oder innerhalb des Geschichtsunterrichtes oder der Gemeinschaftskunde? Drei Vorlesungsstunden und ein abschließendes Colloquium über diesen Lehrstoff würden genügen, um die politische Entwicklung in der damaligen sowjetischen Besatzungszone und in Groß-Berlin sowie die spätere Entwicklung in Berlin in nüchterner Objektivität aufzuzeigen. Der Lehrplan wäre also nur für zwei Wochen in zwei Stunden umzuwandeln.
Wo man der Meinung sein sollte, daß eine solche Vorlesungsveranstaltung der Lehrerschaft allgemein nicht zugemutet werden könne, ließe sich für begrenzte Zeit aus pädagogisch-psychologisch talentierten, politisch gebildeten Kreisen der Bevölkerung - Historikern, Publizisten, Politikern und politisch empfindenden Lehrern - eine geeignete Dozentenschaft zusammenstellen. Vielleicht wären die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Senator für das Schulwesen die berufenen Koordinatoren für eine solche Aktion?
Rund 50 Gymnasien in West-Berlin benötigten - bei Zusammenfassung der Parallelklassen - 150 Lehrveranstaltungen zu 4 Stunden. Für 50 Dozenten bedeutete das einen freiwilligen Einsatz von zwölf Unterrichtsstunden, maximal verteilt auf sechs Wochen. Wäre es angesichts einer politisch bedenklichen Entwicklung nicht wert, konventionelle Vorstellungen zu überspringen, um damit der politischen Diskussion innerhalb und mit der jungen Generation wenigstens eine realistischere Basis zu geben?
Hans-Joachim Boehm, MdA
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