Judenverfolgung: Die letzte Hoffnung
Bis 1933 gab es keine Organisation, die die jüdischen Deutschen einte und vertrat. Es war bis dahin nicht nötig gewesen. Doch das sollte sich dramatisch ändern.
Die Juden sind unser Unglück“: Woche für Woche stand die infame Parole zentimeterhoch am Fuß jeder Titelseite des Naziblatts „Der Stürmer“. Das von Julius Streicher herausgegebene Hetzblatt wurde selbst in nationalsozialistischen Kreisen nicht von jedem ernst genommen. Unstreitig war andererseits, dass ein rassistisch grundierter Antisemitismus zentraler Bestandteil des Programms der NSDAP war. Und dieses Programm prägte seit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 mehr und mehr die Regierungspolitik. Mit ungeheurer Wucht entfaltete sich von Beginn an die antijüdische Politik der Nazis.
In den ersten Wochen und Monaten nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hatte der Naziterror bereits viele Opfer gefordert. Juden waren auf offener Straße angegriffen, in Folterkeller oder „wilde“ Konzentrationslager verschleppt worden. Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden eingeschlagen, die Entlassung jüdischer Angestellter und Beamter erzwungen. Kaufhäuser, die ganz besonders als Symbole des „raffenden Kapitals“ der Juden galten, im Gegensatz zum „schaffenden Kapital“ nichtjüdischer Unternehmer, wurden von entfesselten SA-Horden verwüstet. Doch das alles genügte den neuen Herren noch nicht.
Am 30. März ging ein Rundschreiben heraus, das es jeder Ortsgruppe der NSDAP zur Pflicht machte, ein Aktionskomitee „zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte“ zu bilden. Tatsächlich marschierten zwei Tage später in allen Teilen des Deutschen Reiches uniformierte Trupps vor den jüdischen Geschäften auf, die in Sprechchören die offizielle Parole riefen: „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ Die im Ausland geäußerte Kritik an den Übergriffen lieferte nur den Vorwand für noch schärfere antisemitische Maßnahmen.
Eine Woche nach der Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das jüdische Beamte, aber auch Oppositionelle ausschalten sollte. Es folgten Verordnungen, die jüdische Lehrer, Apotheker und Ärzte, Rechtsanwälte und Notare betrafen. Schon früher hatte es in vielen Organisationen sogenannte Arierparagrafen gegeben, die von allen Mitgliedern den Nachweis nichtjüdischer Abstammung verlangten, zum Beispiel bei den meisten schlagenden Verbindungen, im Deutschen Turnerbund, beim „Stahlhelm“, auch beim völkisch orientierten Teil der Lebensreformbewegung, etwa vielen Vereinen der Wandervogel-Bewegung. Nun wurde dieses Apartheiddenken offizielle Regierungspolitik.
Der Brutalität dieses Angriffs stand die deutsche Judenheit mehr oder weniger wehrlos gegenüber. Die etwa 500 000 deutschen Juden gehörten 2000 verschiedenen Gemeinden an, eine zentrale Organisation gab es nicht. Überdies existierten drei ganz unterschiedliche Strömungen. Eine relativ kleine zionistische Gruppe warb für die Idee der Auswanderung nach Palästina. Den Zionisten genau entgegengesetzt war die Gruppe derjenigen, die ihr Heil in der vollständigen Assimilation bis hin zu Namensänderung und Konversion zum Christentum suchten. Die meisten deutschen Juden aber wollten ihre jüdische Identität behalten und dennoch als loyale und gleichberechtigte Staatsbürger gelten. Doch der nationalsozialistische Antisemitismus war nicht religiös, sondern rassistisch. Er sah alle Juden gleichermaßen als Feinde des deutschen Volkes an und schonte auch die nicht, die sich bei ihrer Einlieferung ins KZ ihre Orden aus dem Ersten Weltkrieg an die Brust geheftet hatten.
Angesichts des allgegenwärtigen Terrors wuchs die Zahl der Ratsuchenden und Hilfsbedürftigen enorm an. Eine Koordination der Selbsthilfe war ebenso dringlich wie die Schaffung einer zentralen politischen Vertretung.
Am 17. September 1933 wurde die „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gegründet, die fast alle jüdischen Deutschen umfasste. Bis dahin hatte es so etwas nicht gegeben; nun war es bittere Notwendigkeit. In ihrer Gründungserklärung gab die Reichsvertretung der Hoffnung Ausdruck „auf den verständnisvollen Beistand der Behörden und die Achtung unserer nichtjüdischen Mitbürger, mit denen wir uns in der Liebe und Treue zu Deutschland begegnen“. Diese Hoffnung erwies sich – nicht überraschend – in den allermeisten Fällen als vergebens. Nur selten waren Beamte bereit, von noch vorhandenen Ermessensspielräumen zugunsten jüdischer Bittsteller Gebrauch zu machen.
Die Reichsvertretung leistete ihre Arbeit unter schwierigsten Umständen. Zu Beginn, als es noch Reste einer ordentlichen Gerichtsbarkeit gab, ging es auch um Rechtshilfe. Die Nazis konnten 1933 nicht auf einen Schlag den gesamten Justizapparat auswechseln, und so konnte in den ersten Jahren vor Gericht noch das eine oder andere erreicht werden. Zentral aber waren Wirtschaftshilfe und Wohlfahrtspflege, denn Juden waren als Menschen zweiter Klasse von den Leistungen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt ausgeschlossen. Ebenso wichtig war die Berufsfürsorge für die vielen, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben durften. Ein eigenständiges Bildungswesen für die aus den öffentlichen Schulen Verdrängten musste organisiert werden. Schließlich wurde die Vorbereitung der Auswanderung ein immer wichtigeres Thema. Finanzieren musste die Reichsvereinigung diese umfangreiche Arbeit durch Abgaben, die sie erhob, und durch Zuschüsse ausländischer Organisationen.
Präsident der Reichsvertretung wurde der bereits 60-jährige Leo Baeck. Ursprünglich stammte er aus einer angesehenen Rabbinerfamilie in Lissa (heute Leszno in Polen). Seit 1913 wirkte er als Rabbiner in Berlin. Baeck war der herausragende Vertreter des deutschen Judentums und schon vor 1933 immer mehr in die Position des Sprechers hineingewachsen. Seit 1922 war er Vorsitzender des alle religiösen Richtungen umfassenden Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbandes. Ohne eine so überragende und integrierende Persönlichkeit an ihrer Spitze wäre die Vereinigung kaum von allen wichtigen jüdischen Organisationen in Deutschland akzeptiert worden.
Als im September 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP die sogenannten Nürnberger Gesetze beschlossen wurden, durfte von „deutschen Juden“ nicht mehr gesprochen werden. Die neu geschaffene „Reichsbürgerschaft“ blieb den „arischen“ Deutschen vorbehalten. Juden galten per se als undeutsch. Die Reichsvereinigung musste sich deshalb fortan „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ nennen.
Die Reichsvertretung setzte, so gut es ging, ihre Arbeit fort. Doch am 9. November 1938 erreichte die Verfolgung der Juden in Deutschland einen neuen, dramatischen Höhepunkt. Zwei Tage zuvor hatte der 17-jährige Herschel Grünspan auf den Gesandtschaftsrat in der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, ein Attentat verübt, an dessen Folgen dieser am Nachmittag des 9. November verstorben war. Am Abend desselben Tages versammelte Hitler wie jedes Jahr seine „alten Kämpfer“ in München im Alten Rathaussaal, um des Marsches von 1923 zu gedenken.
Goebbels gab dort den Tod von Rath bekannt und hielt eine selbst für seine Verhältnisse extrem antisemitische Hetzrede. Er begann damit, dass es an verschiedenen Orten bereits zu „spontanen Vergeltungsaktionen“ gekommen sei. Der Mob hatte jüdische Geschäfte zertrümmert und Synagogen in Brand gesteckt. Goebbels schilderte das Geschehen so, dass kein Zweifel bleiben konnte, was von den Anwesenden erwartet wurde. Als er geendet hatte, stürzten die Parteifunktionäre zu den Telefonen und erteilten Weisungen an die heimischen Dienststellen. Das Attentat auf den Legationssekretär wurde zum Vorwand für einen beispiellosen Vandalismus, der zur Zerstörung von fast 8000 jüdischen Geschäften und 171 Synagogen führte, weswegen der Volksmund von der „Reichskristallnacht“ sprach. Etwa 30 000 Juden wurden inhaftiert und mindestens 100 ermordet, wobei in den Monaten danach in den Konzentrationslagern noch mehrere hundert Inhaftierte ums Leben kamen.
Die Berliner Büros der Reichsvertretung wurden nach der Pogromnacht geschlossen, der Geschäftsführer Otto Hirsch verhaftet und in ein Konzentrationslager in der Nähe von Berlin verschleppt. Leo Baeck gelang es, bei der Gestapo Hirschs Freilassung zu erreichen. Im Dezember 1938 konnten die Büros der Reichsvertretung ihre Tätigkeit wieder aufnehmen.
Doch nachdem die jüdischen Gemeinden 1938 ihren Status als rechtsfähige Körperschaften verloren hatten, erließ die deutsche Regierung am 4. Juli 1939 eine Verordnung, die aus der bisherigen Reichsvertretung eine „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ machte. In ihr gingen die bisherigen Gemeinden auf, jeder, der nach den Nürnberger Gesetzen als Jude galt, war zur Mitgliedschaft verpflichtet. Die Reichsvereinigung unterstand dem Innenministerium und wurde von der Gestapo kontrolliert. Ihre Aufgabe war es laut Verordnung, „die Auswanderung der Juden zu fördern“. Zehntausenden gelang mithilfe der Organisation die Emigration. Als die Auswanderung ins Ausland im Oktober 1941 verboten wurde, wandelte sich der Sinn dieser Bestimmung.
Die Reichsvereinigung war nun gezwungen, an Deportationen mitzuwirken. Ihre Mitarbeiter mussten Gestellungsbefehle überbringen, bei der Konfiszierung von jüdischem Besitz mitwirken und begleiteten die zur Deportation Vorgesehenen zu den Sammelstellen. Die deutschstämmige Philosophin Hannah Arendt und der amerikanische Historiker Raul Hilberg erhoben später den Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis, wobei niemand Baecks moralische Integrität infrage stellte. Baeck hielt aber auch nachträglich an seiner Überzeugung fest, dass es richtig gewesen war, die vorhandenen Handlungsspielräume auszuschöpfen, selbst wenn sie am Ende minimal waren. Jacob Jacobson, einer seiner Mitarbeiter, sagte nach dem Krieg: „Ich machte für einige Zeit diesen Abholdienst mit und kann nur bestätigen, wie erfreut diejenigen waren, zu denen ich kam. Sie wussten es zu schätzen, dass wir es waren, die ihnen beim Packen halfen, ihr letztes Mahl in der Wohnung teilten – wir und nicht ein paar SS-Leute.“
Am 10. Juni 1943 wurde die Vereinigung aufgelöst, das Büro geschlossen, das Vermögen beschlagnahmt und die letzten fünf Mitarbeiter deportiert. Leo Baeck war mit seiner Familie bereits im Januar 1943 nach Theresienstadt gebracht worden. Seine vier Schwestern kamen dort alle ums Leben.
Viele hatten versucht, Leo Baeck zur Emigration zu bewegen. Aber der wollte seine Gemeinde nicht im Stich lassen. In Theresienstadt musste Baeck den Abfallkarren durch die Straßen des Lagers ziehen. Als er im Mai 1943 seinen 70. Geburtstag feierte, stellte man ihn von dieser Tätigkeit frei. Baeck widmete fortan seine ganze Kraft der Betreuung seiner Mitgefangenen. Trotz Ansteckungsgefahr ging er täglich in den Quarantäneblock und blieb auch nach der Befreiung durch sowjetische Truppen noch im Lager, um den sterbenden Typhuskranken beizustehen.
Leo Baeck überlebte wie durch ein Wunder, im Juni 1945 ging er nach London. Dort wirkte er als Präsident der Weltunion für progressives Judentum, ein Amt, das er noch bis 1955 ausübte. Baeck äußerte sich nur selten über die seelischen Verletzungen der Verfolgung. 1947 schrieb er in einem Brief: „Vor mir tauchen so manches mal die Schatten auf, die Schatten derer, die zugrunde gegangen sind, und die Schatten derer, die sie zugrunde richteten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Bild vor mir steht oder ein Ton in mein Ohr tritt: das jähe Pochen oder Schellen, wenn die Schergen, wie an manchem Tage, um mich hierhin oder dorthin zu holen, Eintritt forderten. Ein Freund hier, dessen Vater mir nahestand, pflegt zu sagen: Die Zeit ist ein guter Heiler. Ob er recht hat? Es ist schwer, aus einer schweren Zeit wieder ganz hergestellt zu werden.“
Leo Baeck ging ganz gewiss nicht unbeschädigt aus diesem Inferno hervor, und zunächst hielt er es für undenkbar, dass es je wieder ein jüdisches Leben in Deutschland geben könne. Doch er lebte noch lange genug, um diese Haltung zu revidieren. Am 2. November 1956 starb er in London, wo er auch begraben ist. Wenn es heute wieder einen tragfähigen deutsch-jüdischen Dialog gibt, hat Leo Baeck einen kaum zu überschätzenden Anteil daran.
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