Geschichte: Die erste Frau der Moderne
Sie ist begabt, sie malt, sie lebt unter Künstlern. Doch kaum einer nimmt sie ernst. Da wagt Paula Modersohn-Becker den Ausbruch. In nur zwei Jahren entstehen ihre besten Bilder. Bis zu ihrem frühen Tod 1907.
November. Sie hat gelernt, diesen Monat zu fürchten. Und die nächsten vier gleich mit. Fünf Jahre zuvor war das noch anders. Welche Schlecht-Wetter-Euphorie 1900 im norddeutschen Moor. Da hätte Paula Becker mit Rainer Maria Rilke rufen mögen: „Ich will Herbst haben. Ich will mich mit Winter bedecken und will mit keiner Farbe mich verraten. Ich will einschneien um eines kommenden Frühlings willen“. Und zwar hier, in Worpswede.
Der Maler Fritz Mackensen hatte das Moorbauerndorf bei Bremen zuerst entdeckt, und sein Freund, der Maler Otto Modersohn, hatte zuerst gesagt: Wir bleiben da! – Ich bleibe da!, wusste auch Paula Becker, als sie Worpswede sah – bei einem Familienausflug zur Silberhochzeit ihrer Eltern. Die „Moorkleckser“, wie ihr Vater sagte, waren inzwischen berühmt geworden. Sie wollte eine Moorkleckserin werden. Und nun, im November 1905? Aller Aufbruch vorüber. Sie wird wie jedes Jahr ihren Winterschlaf antreten. Paula Modersohn-Becker glaubt fast nicht mehr, dass noch ein Frühling folgen könne. Rilke ist schon lange weg. Sie malt Bilder wie Nachrufe.
Bald wird sie 30 Jahre alt. Das dreißigste Jahr! Bis ich 30 bin, soll etwas aus mir geworden sein, hat sie gedacht. Und nun hat sie Angst, dass es schon zu spät ist.
Niemand verlangt von einer Frau um 1900, dass sie etwas wird. Auch von Paula aus Dresden, der kleinen Sächsin, die mit zwölf Jahren zur Hanseatin wurde, erwarten alle nur eins: zu werden wie die anderen. Zu heiraten! Um alles zu lernen, was eine gute Ehe- und Hausfrau können muss, war sie zur ihrer Plantagenbesitzerverwandschaft nach London gekommen. Da war sie 16 und todunglücklich inmitten der Hausfrauenpflichten. Bis sie ihren englischen Plantagenbesitzeronkel fragte, ob sie Zeichenstunden in London nehmen dürfe. Seit den Tagen an der Londoner School of Arts war es in ihr, dieses Ich-werde-etwas!
Malerin! Aber niemand glaubt, dass sie eine ist. Ihre Familie nicht. Ihre Worpsweder Mit-Maler auch nicht. Frauen wie sie heißen in der Sprache der Zeit „Malweiber“ und selbst der „Simplicissismus„ findet ihre Existenz über die Maßen komisch. „Es gibt zwei Arten von Malerinnen“, schreibt er, „die einen wollen heiraten und die anderen haben auch kein Talent.“ Professoren begründen diese These wissenschaftlich (alles Schöpfertum der Frau liegt in ihrer Fähigkeit, Kinder zu bekommen) und die staatlichen Akademien halten ihre Tore für Frauen, zumindest in Deutschland, fest geschlossen. Jede Nachgiebigkeit bedeute das Ende der Kunst. Nur Paulas Mann, Otto Modersohn, nimmt seine Frau ganz ernst, auch als Künstlerin. Und doch stand es nicht gut zwischen ihnen zuletzt.
Im November 1905 malt Paula Modersohn-Becker ihre beste Freundin, die Bildhauerin Clara Westhoff, Rilkes Frau. Sie malt Clara im weißen Kleid, wie sie es beide im Sommer vor fünf Jahren trugen. Mit einer Rose in der Hand, auch die gehörte zu jenem Sommer. Aber Claras Blick ist nicht mehr derselbe. Wie viele Abschiede und Enttäuschungen passen in einen Augen-Blick? – Paula: „Sie sieht sehr schön so aus und ich hoffe, dass ich ein wenig von ihr hineinbekomme. Neben uns spielt dann ihr kleines Mädchen, Ruth, ein kleines molliges Menschenkind. Ich freue mich, auf diese Weise mit Clara Rilke öfter zusammenzukommen. Sie ist mir trotz allem von allen noch die liebste.“
Trotz allem? Trotz der großen Fremdheit zwischen ihnen zuletzt. Daran hatte vor allem Rainer Maria Rilke schuld. Er hat Paula geliebt – obwohl er das nie so allerweltshaft formuliert hätte –, geheiratet hat er Clara. Paula heiratete ja auch, nämlich den Maler Otto Modersohn. Und der Virtuose des Jugendstils Heinrich Vogeler heiratete ein Worpsweder Mädchen, auf das er schon wartete, seit es 14 war. Die sechs aber gehörten zusammen, sie nannten sich „die Familie“. Eine Sechser-Familie. Konnten sie wissen, dass die Zweier-Familien sie unglücklich machen würden, jeden anders?
Rilke ahnte zuerst, dass etwas nicht stimmte: „Es fällt niemandem ein, von einem einzelnen zu verlangen, dass er ,glücklich’ sei, – heiratet aber einer, so ist man sehr erstaunt, wenn er es nicht ist.“ Im Grunde sind Paula und Clara noch immer erstaunt über soviel Nicht-Glück in ihrem Leben. Fast täglich kommt Clara mit ihrer Tochter in Paulas Atelier, zum Modellsitzen. Ob die kleine Ruth die Malerin weinen sieht? Paula Modersohn-Becker will nur den Ofen heizen, aber einmal wird fast jedes Stück Torf dabei nass. Wer heult, ist ein miserabler Heizer. Doch bei dem Gedanken, dass draußen, jenseits von Worpswede, die Welt weitergeht, ja vielleicht erst wirklich anfängt, kommen ihr die Tränen. Paris! Sie war schon dreimal dort. Warum nicht bleiben? In Paula Modersohn-Becker reift ein unerhörter Entschluss.
Die Worpsweder Maler, die „Ewig-Einheimischen“ (Rilke) bereiten sich inzwischen auf den Winter vor. Ab sofort ist jeden Donnerstag Kegelabend bei Wetzel. Paula und Otto gehen auch hin. Paula ist stolz auf ihren Mann. Wie gut der kegeln kann! Denn Schwimmen und Eislaufen kann er schon mal nicht. Das kann sie besser. Was er immer zugibt. Er gibt sogar zu, wenn Paula besser malt. Aber jetzt ist Otto Modersohn nicht mehr stolz auf seine Frau: „11.12.1905. Paula macht mir in ihrer Kunst lang nicht so viel Freude wie früher. Sie nimmt keinen Rat an – es ist sehr töricht und schade. ... Malt lebensgroße Akte und das kann sie nicht, ebenso lebensgroße Köpfe kann sie nicht. ... Sie ist hochkoloristisch - aber unmalerisch hart besonders in ausgeführten Figuren. Verehrt primitive Bilder, sehr schade für sie – sollte sich malerische ansehen ...„. Otto Modersohns Kritik ist noch lange nicht am Ende. Dass Paula die Form will – die große einfache Form – gilt ihm als Kern allen Übels. Es ist der Kern ihrer Modernität. Und dann folgt der Satz: „Frauen werden nicht leicht etwas ordentliches erreichen.“
Der Feminismus hat mit Fingern auf Otto Modersohn gezeigt: Seht, ein Mann alten Typs, Verhinderer seiner Frau! Das hat er nicht verdient. Feminismus ist immer auch Schuld-Denken, das ist seine intellektuelle Grenze. In dieser Künstlerehe gibt es statt Schuld nur Tragik.
Der populärste Kunstfortschrittsgedanke lautet: von der Gegenständlichkeit zur Ungegenständlichkeit. Der Fortschrittsgedanke ist nie ganz ohne Naivität, denn er ist linear. Und kein Künstler geht auf einer Geraden, er schreitet seinen Kreis aus. Otto Modersohn, der einst durch den revolutionären Ruf „Nieder mit den Akademien!“ auffiel, hat den seinen fast vollendet. Eine impressionistische Wiese, das reicht, moderner will er nicht werden.
Paula ist dabei, seinen Kreis ganz zu verlassen. Gibt es etwas Traurigeres zu sehen für ihren Mann? Der wie kaum einer fähig ist, die Leistungen anderer anzuerkennen. So folgt dem Befremden auch schon bald wieder bedingungslose Bewunderung: „Paula mit ihren meisterlichen Stillleben und Skizzen, das kühnste und beste an Farbe, was hier in Worpswede je gemalt.“ Otto Modersohn will wohl selbst nicht wahrhaben, dass ihre künstlerischen Wege sich getrennt haben. Er notiert diese Liebeserklärung an Paulas Kunst kurz vor Weihnachten 1905, als ein Gelegenheits-Worpsweder eintrifft.
Rainer Maria Rilke ist der Auffassung, dass Weihnachten eine gute Gelegenheit ist, das eigene Kind zu besuchen. Nur ein paar Monate hatte er es mit Frau und Kind im Moor ausgehalten. Dann war er geflohen – vor dem Alltag, vor dem Familienleben, vor Ruth. Dass kleine Kinder sofort die akustische Lufthoheit erobern obwohl sie - streng genommen - noch gar nichts zu sagen haben, damit hatte Rilke nicht gerechnet. Und das, was er zu sagen hatte, drohte über allem Alltag zu versiegen. Ruth nennt den seltenen Besucher vorzugsweise „Mann“ oder auch „guter Mann“. Ein „Vater“ ist er nicht.
Was Paula und Rainer Maria sich zu sagen haben, ist inzwischen auch fast versiegt. Jahre lang hat er Paulas Atelier nicht mehr betreten, das er einmal das „Lilienatelier“ nannte. Jetzt tritt er wieder über diese Schwelle. Es ist der Augenblick größtmöglicher gegenseitiger Geringschätzung. Paula glaubt nicht mehr, dass Rilke ein Dichter ist. Ist er nicht eher ein Versager? Ein „ziemlich kleines Lichtlein“, findet Paula seit ihrer letzten Begegnung in Paris vor zwei Jahren. Da hatte Rilke ihr seine frischgedruckte Monografie der Worpsweder Künstler überreicht. Paula und Clara werden darin nicht einmal erwähnt.
Aber auch sie selbst käme nie auf den Gedanken, sich Fremden als Malerin vorzustellen. Da sagt sie nur: Ich bin die Frau des Malers Otto Modersohn. Das ist ihre selbstverständliche Identität in einer Welt, die nicht an Malerinnen glaubt.
Jetzt, als Rilke, das „kleine Lichtlein“, im Winter 1905 vor Paulas Bildern steht, sieht er mehr als das Bildnis seiner Frau, viel mehr. Rainer Maria Rilke findet die Worte, die Kunstgeschichte schreiben werden: „Das merkwürdigste war, Modersohns Frau an einer ganz eigenen Entwicklung ihrer Malerei zu finden, rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge, die sehr worpswedisch sind und die doch nie einer sehen und malen konnte. Und auf diesem ganz eigenen Weg sich mit van Gogh und seiner Richtung seltsam berührend.“
Das war es. Paula Modersohn-Becker hat die Schwelle zur Moderne übertreten. Emanzipation der Farbe! der Linie! von den Gegenständen. Zurück mit der Perspektive dorthin, wo sie hingehört, in die Wirklichkeit. Weg mit den Nebensächlichkeiten, den Nebenfarbigkeiten! Und nie wieder Glanzlichter auf Stiefeln! Ein Bild ist alles, aber kein Abbild. Das Objektive, wird die klassische Moderne wissen, ist eine Frage höchster Subjektivität. Niemand begreift das besser als Rilke. Man kann gar nicht „Ich“ genug sein, um das „Nicht-Ich“ zu sagen: also nicht das, was ich fühle oder liebe, sondern „das, was ist“.Das ist das Paradox der klassischen Moderne, bevor ihre Strenge sich auflöst in Spielformen. Der Mann, der bald den ersten modernen deutschen Roman schreiben wird, erkennt die Frau, mit der die moderne Malerei in Deutschland beginnt. Genau in dem Augenblick, als ihr Mann sie verkennt.
Und das „kleine Lichtlein“ beginnt gerade unglaublich hell zu leuchten. Selbst Hugo von Hofmannsthal war unlängst der Meinung, der „Geburt eines Genies" beizuwohnen. Er hatte ein paar Gedichte Rilkes in der Zeitung gelesen. Die Zeit passt zu solchen Ankünften. Es ist Advent.
Auch Paula Modersohn-Becker weiß genau, wen sie erwartet: sich selbst. In den letzten Wochen des Jahres 1905 fasst sie den Entschluss wegzugehen. Sie verkauft zum ersten Mal ein Bild – an Rilke. Ihm braucht sie ihre Sehnsucht nicht erklären und nicht ihre Fremdheit im Zuhausesein, er kennt sie beide: „Wie einer, der auf fremden Meeren fuhr,/ so bin ich bei den ewig Einheimischen;/ die vollen Tage stehn auf ihren Tischen,/ mir aber ist die Ferne voll Figur.“ Und das Risiko, dass Paula eingehen wird, kennt er auch: „In mein Gesicht reicht eine Welt herein,/ die vielleicht unbewohnt ist wie ein Mond, -/ sie aber glauben keinen Stern allein/ und alle ihre Worte sind bewohnt.“
Was kann Otto Modersohn dafür, dass er ein Ewig-Einheimischer ist? Dass er nicht mehr zum Leben braucht als Worpswede, das Moor und abends seine Pfeife und eine Sofaecke? Und Paula natürlich. Paula, die ihn am Tag nach seinem 41. Geburtstag im Februar 1906 verlässt.
Weggehen aus einem alten Leben, von der eigenen Familie. Ein Kind zurücklassen, wenn auch nicht das eigene. Aber Paula verlässt ebenso Modersohns kleine Tochter, der sie wie eine Mutter war. Ein Mann auf der Familienflucht ist entschuldigt. Er folgt seiner Berufung, seinem Ideal. Und eine Frau? Sie kann nur eins sein: fehlgeleitet, krank. Auch Otto Modersohn glaubt das anfangs. Paula muss irregeworden sein an der eigenen Kinderlosigkeit. Er ist jetzt zu allem entschlossen. Paula wollte ein Kind? Sie soll es haben. Er will sie zurückholen, mit allen Mitteln.
Ich werde etwas, hatte Paula Modersohn-Becker sich selbst und allen versprochen. 1906 in Paris passiert es. Sie wird etwas, täglich. Ihre schönsten – und bekanntesten – Bilder entstehen jetzt. An ihrem fünften Hochzeitstag malt sie sich, allein in Paris, und – nackt. Der wohl erste Selbstakt einer Frau entsteht. Dieses Bild wird Rilke vor Augen haben, als er nach Paulas Tod das berühmte „Requiem für eine Freundin“ dichtet.
Im September schreibt Paula ihrem Mann, dass sie nie mehr zurückkommt. Nur Tage später widerruft sie. Nicht aus weiblichem Wankelmut. Aber ein Freund, erschrocken über die Konsequenz dieser Malerin, hatte ihr erklärt, wer sie wirklich ist: eine mittellose Frau, allein in Paris, verloren ohne die Unterstützung ihres Mannes. Noch immer kennt keiner die Malerin Paula Modersohn-Becker.
Als es wieder November wird, ist Otto Modersohn schon in Paris. Im November darauf, am 2. 11. 1907, bringt Paula Modersohn-Becker ihre Tochter Mathilde zur Welt. Am 20. November darf sie zum ersten Mal aufstehen. Sie macht sich eine Krone aus ihren Zöpfen und steckt Rosen ans Kleid. Ihr Bruder und ihr Mann wollen sie stützen, aber sie macht sich frei und läuft leicht vor ihnen her ins Wohnzimmer. Dort sind alle Kerzen angezündet, sogar der dicke Barockengel leuchtet. Man gibt ihr das Kind in die Arme. Paula Modersohn-Becker hält ihre Tochter, dann muss sie plötzlich den Fuß hochlegen. Wie schade!, sagt sie. Es ist eine Embolie. Sie stirbt, 31 Jahre alt.
Von der Autorin ist gerade das Buch „Paula Modersohn-Becker. Eine Biografie" bei Propyläen erschienen
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