Deutscher P.E.N.-Club: Das Erbe der Spaltung ist das Prinzip Hoffnung
Wie die deutsche Schriftstellervereinigung des P.E.N.-Clubs seit 1948 zum Abbild des Kalten Krieges wurde. Nach 60 Jahren ein Blick zurück – und voraus.
1933 hatten die Nazis die für die Freiheit von Schriftstellern und Journalisten streitende Arbeit des deutschen P.E.N.-Clubs verboten und seine prominentesten Autoren ins Ausland getrieben. 15 Jahre später setzte ein neues Kapitel ein. Daran erinnerte nach 60 Jahren die Jubiläumstagung des Deutschen P.E.N.-Zentrums in dieser Woche in Berlin. Wilfried F. Schoeller, Literaturkritiker und Generalsekretär des Deutschen P.E.N. hielt den hier in gekürzter Form abgedruckten Eröffnungsvortrag.
Genau genommen hätte es den ersten deutschen Nachkriegs- P.E.N. gar nicht geben dürfen. Folgt man der Logik des Kalten Krieges, passte er nicht in das durch ideologische und politische Fronten abgegrenzte Gelände. Der Gründungskongress vom 18. bis 20. November 1948 in Göttingen mit wohl weniger als zwei Dutzend Autoren verstand sich als gesamtdeutsches Unternehmen und war darin bereits unzeitgemäß geworden.
Mit Hermann Friedmann, Johannes R. Becher und Ernst Penzoldt wurden drei Autoren zu gleichberechtigten Präsidenten gewählt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Friedmann hat die Existenz der einheitlichen Organisation sichern wollen, indem er als gemeinsame Politik „die Nichtexistenz einer Ost-West-Spannung im deutschen Schrifttum proklamiert“ hat. Das traf sich mit den Intentionen des späteren DDR-Kulturministers und damaligen Höchstpatrioten Johannes R. Becher, der als „nationale Aufgabe“ vorgab, „eine Literatur zu sein für ganz Deutschland“. Und es entsprach auch den Absichten Alfred Döblins, der als zurückgekehrter Emigrant und französischer Kulturoffizier in Baden-Baden saß.
Über die scharfen ideologischen Divergenzen hinweg kam es vor allem Becher und Döblin darauf an, die kulturelle Einheit des Landes nicht sprengen zu lassen. Es war die Stunde, nein, der Moment der Emigranten, vielleicht der einzige, in dem sie westlich des Eisernen Vorhangs Einfluss nehmen konnten, bis sie von einem robusten Alltag in zwei deutschen Staaten an den Rand gedrängt wurden.
Thomas Mann und einige wenige andere hatten beim Internationalen P.E.N. ein Wort dafür eingelegt, dass ein deutsches P.E.N.-Zentrum nach dem Krieg mit Schriftstellern, die im Reich geblieben waren, überhaupt gegründet werden konnte. Der Kampf gegen Becher wurde 1950 eröffnet. Günther Birkenfeld, Rudolf Pechel und Theodor Plivier traten mit Aplomb aus, nachdem sie nicht erreichen konnten, dass Becher sowie die DDR-Autoren Stephan Hermlin, Alfred Kantorowicz, Anna Seghers und Friedrich Wolf als Vertreter des „ost zonalen Unterdrückungssystems“ ausgeschlossen wurden. Der Personalie nahm sich sogar das damalige Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen an. Erich Kästner kommentierte ironisch: „Das Interesse der Behörden ehrt uns, aber ich finde, es ist ein bisschen zu viel der Ehre.“
1951 kam es zum Bruch: Zwölf westdeutsche Schriftsteller traten auf der Tagung in Düsseldorf aus dem gesamtdeutschen P.E.N. aus und gründeten ein eigenes Zentrum. Eines der Paradoxa: Man hatte die Ostmitglieder loswerden wollen, weil man ihnen Staatsnähe vorwarf – und wählte dann ungeniert Bundespräsident Theodor Heuss in den P.E.N.
Im März 1952 wurden die beiden deutschen Zentren neben dem deutschen Exil-P.E.N. international anerkannt. Viele Jahre lang wurde ein semantischer Krieg um die richtige Namensgebung, um das Wort „deutsch“ sowie „Ost und West“ geführt. Losungen standen gegeneinander: die „Freiheit“ (West) gegen den „Frieden“ (Ost). Als das Ost-Zentrum, das auch westdeutsche Mitglieder hatte (die freilich nur auf geheimen Listen verzeichnet waren), im Dezember 1952 in München seine Jahrestagung abhalten wollte, um seine gesamtdeutschen Optionen zu demonstrieren, wurde der Kongress auf Weisung des Bundesinnenministeriums untersagt. Getagt wurde schließlich in Berlin- Charlottenburg, in der amerikanischen Besatzungszone.
Erich Kästner wurde im Dezember 1951 zum alleinigen Präsidenten des westdeutschen Clubs gewählt. Er war auf Mäßigung der antagonistischen Rhetorik bedacht, wenn auch ebenso auf klare Artikulation der Unterschiede. Mit Rücksicht auf die bedrängte Lage einiger Kollegen in der DDR widersetzte er sich allen Versuchen, den Ost-P.E.N. aus dem Internationalen P.E.N. hinauszudrücken.
Er gab sich nach dem Ungarnaufstand und den polnischen Unruhen 1956 keinen Illusionen hin, zog aber eigene Schlüsse: „Dies alles sollte uns nicht hindern, sondern ermuntern, die Vorgänge, auch in der Ostzone und in Ost-Berlin möglichst genau zu beobachten ... Ich denke hierbei an die Verhaftung Wolfgang Harichs und an Hans Mayers Aufsatz über die Zustände in der ostzonalen Literatur. Es würde mich nicht wundern, wenn ein so verträglicher und relativ objektiver Mensch wie Hans Mayer in Bälde Schwierigkeiten bekommen sollte.“
Ende 1960 verhinderte die Polizei zunächst eine Tagung des Ost-P.E.N. in Hamburg, worauf der „Zeit“-Heraus geber Gerd Bucerius, ein CDU-Mitglied, die Räume seiner Redaktion als Tagungslokal zur Verfügung stellte. Die Fronten verliefen vielfach anders, als man sich das heute vorstellen mag: Ausgerechnet der Ost-P.E.N. stellte im Februar 1952 den (vergeblichen) Antrag an den Internationalen P.E.N., das in London sitzende Zentrum deutscher Autoren im Ausland aufzulösen. Als zwei Jahre später der Internationale Kongress in Amsterdam stattfand, erwog der westdeutsche P.E.N. allen Ernstes, seine Teilnahme abzusagen, weil Anna Seghers als Ehrengast geladen war.
1964 beschloss der westdeutsche P.E.N., dass Kollegen, die aus der DDR geflohen oder emigriert waren, sich einem neuen Aufnahmeverfahren stellen mussten. Das bezog sich vor allem auf den Literaturwissenschaftler Hans Mayer und den Philosophen Ernst Bloch, nachdem beide im Westen geblieben waren. Robert Neumann, damals Vizepräsident des Internationalen P.E.N., schrieb an den westdeutschen Generalsekretär Kasimir Edschmid: „Wenn Sie tatsächlich Bloch und Mayer bekommen können, so griffe ich an Ihrer Stelle so rasch wie möglich zu ...!“ Das aber war nicht erwünscht. Es wäre für Ernst Bloch („Das Prinzip Hoffnung“) und Hans Mayer, die nach 1945 zurückgekehrten jüdischen Emigranten, einfacher gewesen, wenn sie etwa die Schweizer Staatsbürgerschaft gehabt hätten. Dann wären sie als Mitglieder des dortigen P.E.N. selbstverständlich ohne Prüfung übernommen worden.
Ich kann hier nur weniges aus dem Kalten Kulturkrieg erwähnen. Nichts vom Schmerz der Grenze im Werk Uwe Johnsons und wie dieser Autor von Hermann Kesten diffamiert wurde. Nichts vom Kampf um die inhaftierten Tibor Déry und Julius Hay nach dem Ungarn aufstand. Nichts vom Kampf Ulbrichts gegen die Westemigranten und den „Kosmopolitismus“. Nichts vom unrühmlichen Schlingerkurs des DDR-Kulturministers Becher, der viele Positionen dementierte, die er zuvor als Vorsitzender des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands eingenommen hatte.
Es war eine wechselseitige Unversöhnlichkeit am Werk, Berührungsängste und Unsicherheiten, nicht nur in der DDR. Als Thomas Mann 1955 starb, war Theodor Heuss gerade in Lörrach. Es wäre zur Totenfeier nach Zürich nur ein Katzensprung gewesen, aber er zog es vor, die Veranstaltung zu meiden. Kästner überliefert den Grund: Heuss hatte erklärt, „er könne nicht mit Becher in der gleichen Kirche sitzen“.
Insgesamt wurde von allen Seiten die Einheit der Literatur beschworen – und ihre Spaltung betrieben. Aber es gab auch andere Impulse. 1960 trat zum ersten Mal das Writers-in-prison-comittee auf den Plan. Es ermittelte unter der Leitung des Exilungarn Paul Tabori (des Bruders von George Tabori) eine Liste mit 56 inhaftierten Autoren: 7 Albaner, 25 Tschechoslowaken, 2 Franzosen, 13 Ungarn und 9 Rumänen. Ins Leben gebracht war damit eine folgenreiche Institution, die das Muster für die Gründung von Amnesty International abgab. Gerhard Schoenberner, für den westdeutschen P.E.N. zeitweilig Leiter dieses Komitees, betonte 1995, es sei „ein Kinderglaube, mit dem Ende des Kommunismus habe ein neues, besseres Zeitalter begonnen“. Die Zahl der Länder, in denen Autoren bedroht, verfolgt, gefoltert oder einfach zum Verschwinden gebracht werden, hat bis heute nicht abgenommen.
Nachdem Arthur Miller 1965 die Präsidentschaft des Internationalen P.E.N. übernommen hatte, zog er eine ernüchternde Bilanz: „Auch der P.E.N. war ein Opfer des Kalten Krieges, der seinen Ruf in den kleineren Ländern, die nicht völlig auf der Seite des Westens standen, geschädigt, wenn nicht gar ruiniert hatte. Die neue Entspannungspolitik verlangte neue Versuche. Ich sollte dieser neue Anfang sein.“ Es gelang ihm mit seiner amerikanischen Unbefangenheit immerhin, die ideologischen Grenzen durchlässiger zu machen. Nach wie vor wurde eine Vertretung der sowjetischen Autoren nicht zugelassen, obwohl deren Schriftstellerverband mehrfach vorstellig wurde; aber die Delegation wollte sich nicht auf die P.E.N.-Charta verpflichten, und erst in der Epoche der Perestroika wurde 1988 ein russischer P.E.N.-Club anerkannt.
Mit Heinrich Böll als Präsident des Internationalen P.E.N. begann ab 1971 eine neue Phase der Diskussion mit der Sowjetunion. Böll stellte sich wie bisher keiner seiner Vorgänger gegen die Doktrin der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse der Länder. Für ihn war Einmischung selbstverständlich; seine Verdienste um Alexander Solschenizyn und andere sind nicht verjährt. Unter seiner Ägide wurde eine neue P.E.N.-Politik betrieben: Statt des Rückzugs auf eigene ideologische Bastionen suchte er die offensive Diskussion über die je konkrete Unterdrückungspraxis.
Walter Jens hat es dann vermocht die zankbereite Schweigsamkeit der beiden deutschen P.E.N.-Zentren umzudrehen. Aus der eher affektiven als argumentativen Abgrenzung entstanden so schon vor 1989 Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen. Der westdeutsche P.E.N.-Präsident Carl Amery erklärte unter dem Eindruck der Ereignisse 1989: „Die Messlatte für die Freiheit der Meinung und des Wortes wird heute von denen höher gelegt, die nicht wie wir jahrzehntelang in ihrem Genuss waren, und wir erkennen ihre Rolle voll Dankbarkeit an. Dies ist nicht der Zeitpunkt für Besserwisserei, für das arrogante Verlautbaren von Freiheitsrezepten; nicht für nationalen oder ideologischen Triumphalismus. Vielmehr gilt es, die guten wie die bösen Gemeinsamkeiten Europas zu erkennen und die alten Feinde der Freiheit, Chauvinismen, Rassismen, Totalitarismen unter neuen Verkleidungen aufzuspüren … Dies ist der größte Dienst, den wir unseren ost- und mitteleuropäischen Freunden nach ihrer Selbstbefreiung leisten können.“
Nach der Wende erging es den meisten Schriftstellern, wie es Peter Bender 1990 beschrieben hat: Die Deutschen „stehen vor einer Vereinigung mit Menschen, die sie nicht oder nur flüchtig kennen, von denen sie wenig wissen und oft nicht das Richtige“. Es hat lange gedauert, bis sich die beiden P.E.N.-Zentren vereinigen konnten und wollten. Diese Verständigung war eben nicht als Einigungsvertrag über ein Beitrittsgebiet zu erzielen; sie bedurfte auch des Abbaus der Reflexe aus dem Kalten Kulturkrieg. Vor zehn Jahren erst wurde diese Einigung vollzogen. Wie selbstverständlich sie inzwischen geworden ist: Niemand im P.E.N. wollte nun dieses Jubiläum eigens feiern.
Und doch bleibt etwas Unerledigtes, schwer zu Beschreibendes zurück. Backstage liegen die Trümmer, zersplitterte Zusammenhänge und Scherben der Teilungsgeschichte; sie wollen sich zu einem Ganzen nicht fügen. Die territoriale Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist zweifellos gelungen, die Ruinenlandschaften und die verwahrlosten Städte sind überwiegend renoviert worden und die Straßen, die zu ihnen führen, ohnehin. Aber die Erfahrungen, die in zwei unterschiedlichen, oft antagonistischen Gesellschaften gemacht worden sind, lassen sich nicht wiedervereinigen: Unverbunden existieren die diversen Gedächtnisse für die persönliche Zeitgeschichte weiter.
In unserem Ungenügen aber, uns mit unseren Köpfen und Seelen so pauschal ins Ganze zu denken, steckt auch eine große Chance. Wir gewinnen eine Lesart für den Raum der Unterschiede, die uns umgeben, für den Wert des Einzelgängertums. Das wird es ja auch sein, was uns im vereinigten Europa, in einer EU aus bereits 27 Ländern, besonders beschäftigen wird: der Raum, der vom Sturm der Geschichte und der Erinnerungen zeugt. Mit der Abschaffung von Grenzen ist es dabei nicht getan. Wir brauchen sie, um uns definieren zu können. Erst die Gren ze verschafft uns die Kenntnis des eigenen Standorts. Das andere Ufer in Sichtweite ist eben oft die andere Welt, in der wir den Fremden erfahren können.
Daraus entsteht vielleicht der neue Umriss von welthaltiger Literatur. Sie wird verfasst von Leuten, die sich wie selbstverständlich am falschen Ort empfinden. Sie sind Experten der Zeitsprünge, der Untergänge von Lebenswelten. Sie entkräften das Doktrinäre, das dem Wort „Heimat“ auch anhaften kann. Sie schreiben einen Fortsetzungsroman über jene Dynamik, die uns alle erfasst hat und die uns vom angestammten Platz verweist, auch wenn wir uns noch so sehr nach einem Moratorium sehnen mögen. (...) Diese Art von Literatur besteht selbstverständlich nicht nur aus den Werken der Deplatzierten: der Entorteten, Migranten, Flüchtlinge, Kolonisierten. Aber von ihnen werden die Großnarrative der führenden Nationen abgeschwächt.
Es ist eine Wohltat, zu erfahren, dass die Dinge auch anders sein und noch anders erfahren werden können. Die Literatur des entgrenzten Raums, wie sie in der Welt der digitalen Netze entsteht, beharrt aber auch auf Raumbehauptung, auf Verräumlichung von Erinnerung. Dabei ersetzt der Raum den Begriff der Identität, er reflektiert den Standort des Autors wie des Lesers, er macht es möglich, dass wir unsere Divergenzen versammeln und ausleben. Mir kommt es vor, dass ich im Versuch, unser Unvereinigtes und unsere Beschränkung aufzuspüren, unversehens bei einer literarischen Glückskunde angelangt bin. Wir haben so allen Grund aufzuatmen.
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