Die Geschichte: Bomben für die Heimatfront
Vietnam 1973, die US-Army zieht ab. Präsident Nixon flankierte die Niederlage mit brutalem Krieg aus der Luft. 2013: Obamas Einsatz tödlicher Drohnen in Afghanistan ähnelt dieser Strategie.
Es ist das erste in einer Reihe streng geheimer Treffen. Angeblich verbringt Henry Kissinger – damals Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Nixon – das Wochenende vom 21./22. Februar 1970 in Camp David bei Washington. Kaum jemand weiß, dass er in Wahrheit mit der Air Force nach Frankreich fliegt, dort am Zoll vorbeigeschmuggelt wird, bei einem US-Soldaten und Geheimdienstler übernachtet (für dessen Koch er als „Harold A. Kirschman“ firmiert) und schließlich auf dem Rücksitz eines Citroen nach Choisy-le-Roi aufbricht, einem Städtchen an der Seine, zehn Kilometer südöstlich von Paris.
Kissinger ist in Sachen Vietnam unterwegs. Fünf Jahre schon dauert der blutige Krieg der USA in Indochina, seit Monaten laufen offizielle Verhandlungen, doch ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht. Nun sollen Gespräche fernab der Öffentlichkeit den Durchbruch bringen. Die kleine Friedensmission ist so konspirativ, dass nicht mal das mit den USA verbündete Südvietnam davon erfahren darf. Dort trauen sie Kissinger bald nicht mehr. Und erfinden Spitznamen für den schillernden Politikwissenschaftler mit der dunklen Stimme und dem deutschen Akzent. „Mitternachtsdiplomat“ nennen die Südvietnamesen ihn, und „König der Camouflage“.
In Choisy-le-Roi wartet an diesem Samstagmorgen eine Delegation des kommunistischen Nordvietnam auf Kissinger. Treffpunkt ist die Rue Darthe, eine ruhige Straße, die von Einfamilienhäusern gesäumt wird. In einem zweistöckigen Haus mit Feldstein- und Fachwerkmauern wird dem Amerikaner Tee serviert, dann redet er fast eine Stunde lang und erwähnt dabei auch das heikelste Thema: die vielen tausend Soldaten Hanois, die sich mittlerweile in Südvietnam befinden. Wenn die USA abziehen sollen, dann müssen umgekehrt die Nordvietnamesen ihre Truppen nach Hause beordern – das wird die scheinbar unverrückbare amerikanische Position.
Die Vietnamesen zeigen sich unbeeindruckt, die Existenz der Soldaten leugnen sie einfach. Nach dem Lunch ist der 58-jährige Le Duc Tho an der Reihe, Kissingers Gegenpart. Er rekapituliert den Sieg seines Volks über die französischen Kolonialherren und erklärt, dass jede amerikanische Strategie zum Scheitern verurteilt sei. Sein Vortrag, den er beinahe wortgleich bei anderen Gelegenheiten wiederholen wird, gipfelt in dem Satz: „Auch wenn wir große Opfer erlitten haben und viel Leid ertragen mussten, haben wir gewonnen!“ – „Sie haben den Krieg gewonnen?“, fragt Kissinger. Und Tho erwidert ungerührt: „Wir haben gewonnen, und Sie haben verloren.“
Drei Jahre sind beide Seiten zu diesem Zeitpunkt noch von einem Friedensvertrag entfernt, erst am 29. März 1973 werden die letzten US-Soldaten Vietnam verlassen. Doch Thos Worte – wohl vor allem Ausdruck psychologischer Kriegsführung – erweisen sich als prophetisch.
Der Krieg ist am Ende nicht unbedingt ein Triumph für Nordvietnam, aber er geht in die Geschichte ein als erste militärische Niederlage der USA. Ausgerechnet gegen diese „viertklassige Macht“ (Kissinger) zu verlieren, löst ein Trauma aus, das die US-Politik bis heute prägt. Wie die Journalisten Marvin und Deborah Kalb im Buch „Haunting Legacy“ schreiben, spielt es auch in der Diskussion um den Afghanistankrieg eine Rolle – obwohl US-Präsident Obama mehrfach betont hat, Afghanistan sei nicht Vietnam. „Nach Vietnam“, heißt es in „Haunting Legacy“, „kann kein amerikanischer Präsident eine weitere Niederlage tolerieren, auf jeden Fall kein Demokrat und sicher nicht Obama, der nie gedient hat.“
Die Wurzeln des amerikanischen Engagements in Vietnam reichen bis in die 50er Jahre zurück. Nach der erfolgreichen Schlacht vietnamesischer Unabhängigkeitskämpfer gegen die Franzosen in Dien Bien Phu wird das Land 1954 aus der Kolonialherrschaft entlassen und geteilt: in den Norden, wo Ho Chi Minhs Kommunisten regieren, und den Süden, der weiter stark unter westlichem Einfluss steht. Schon die Präsidenten Eisenhower und Kennedy unterstützen das antikommunistische Regime in Saigon. Grundlage dafür ist die „Dominotheorie“, nach der der Kommunismus von einem Land aufs nächste überzugreifen droht. Ein Prozess, den man unbedingt aufhalten müsse.
Erst unter Lyndon B. Johnson, wie sein Vorgänger Kennedy Demokrat, beginnt 1965 der eigentliche Krieg. Amerika schickt Bodentruppen und Kampfflugzeuge, um die Aufständischen der „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“ (Vietcong genannt) zu bekämpfen, die vom Norden unterstützt werden. Im Dschungel Vietnams entwickelt sich ein brutaler Guerillakrieg, der 58 000 Amerikanern und Millionen Vietnamesen das Leben kosten wird. Doch Washington verkündet unbeirrt „Licht am Ende des Tunnels“. Dabei fehlt es dem autoritären, korrupten Regime im Süden nicht nur an einer schlagkräftigen Armee, sondern auch an Rückhalt in der Bevölkerung. Spätestens die überraschende Offensive des Vietcong zum buddhistischen Neujahrsfest Tet 1968 schockt die USA nachhaltig. Präsident Johnson bringt noch die offiziellen Friedensgespräche in Paris auf den Weg und verkündet zugleich, nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren.
Das ist die Ausgangslage, als der Republikaner Richard Nixon Ende 1968 die Wahl gewinnt. Dem Kalifornier haftet das Image eines „Kommunistenfressers“ an. Im Wahlkampf hat er sich gemäßigt gegeben und behauptet, einen „geheimen Plan“ zur Beendigung des Kriegs zu besitzen. Dabei hat er gar kein konkretes Konzept. Nixon will einen „ehrenvollen Frieden“: Vietnam verlassen ja, aber ohne Gesichtsverlust. Die USA sollen weder als Geschlagene dastehen, noch soll es so aussehen, als hätten sie ihre südvietnamesischen Verbündeten im Stich gelassen. Die Jahre 1969 bis 1973 dokumentieren den Versuch, dieses Ziel zu erreichen – unter der Federführung des wendigen, undurchsichtigen Henry Kissinger.
Teil von dessen Strategie ist die Annäherung an die Sowjetunion – und der Aufbau von diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik China, eingefädelt durch einen geheimen Besuch Kissingers in Peking. „Die USA haben versucht, über Bande zu spielen“, sagt der Historiker Bernd Greiner, der das vielfach ausgezeichnete Buch „Krieg ohne Fronten – die USA in Vietnam“ geschrieben hat. Auch wenn das verbesserte Verhältnis zu Moskau und Peking insgesamt ein Erfolg ist: Was Vietnam angeht, überschätzen Nixon und Kissinger den Einfluss der beiden kommunistischen Großmächte. „Nordvietnam war keine Marionette, es spielte die Sowjetunion und China eher gegeneinander aus“, sagt Greiner.
Amerika selbst ist kriegsmüde. In einer Umfrage bezeichnen zwei Drittel der Bevölkerung das Eingreifen in Südostasien als Fehler, zu viele Väter, Söhne und Brüder sind schon gestorben. Besonders heftig protestieren die Studenten. „Tricky Dick“, wie viele Nixon halb anerkennend, halb verächtlich nennen, reagiert auf die starke Antikriegsbewegung, indem er die Bodentruppen nach und nach abzieht. Von 500 000 GIs unter Johnson sind im Frühjahr 1972 nur noch 50 000 übrig. Die Verantwortung soll an die Verbündeten übergehen, „Vietnamisierung“ lautet das Schlagwort. Und tatsächlich sinkt die Zahl der amerikanischen Todesopfer schnell: von 4200 im Jahr 1970 auf nur noch 1300 im Jahr darauf, wie Marc Frey in seiner Überblicksdarstellung „Geschichte des Vietnamkriegs“ schreibt. Sogar die Wehrpflicht schleift Nixon. Zuerst wandelt er sie in eine Lotterie um, dann schafft er sie komplett ab.
Aber der Präsident ist keineswegs zur Friedenstaube geworden. „Es blieb ihm die Eskalation des Luftkriegs, weil dieser wenige Opfer unter den eigenen Soldaten fordert“, sagt Historiker Greiner. Gleich nach seinem Amtsantritt lässt Nixon Kambodscha massiv bombardieren. Denn die Nordvietnamesen nutzen Wege im Nachbarland (den berühmten „Ho- Chi-Minh-Pfad“), um Kämpfer und Material in den Süden zu schleusen. Die „Operation Menu“ der USA besteht aus den Phasen „Breakfast“, „Lunch“, „Snacks“ und „Dinner“. Mehr als ein Jahr lang gehen 100 000 Tonnen Bomben auf Kambodscha nieder. Die Zahl der Opfer: unbekannt. Klar aber ist, dass die Angriffe den Aufstieg der Roten Khmer begünstigen.
Unnachgiebig zeigt sich Nixon auch 1972. Auf die Osteroffensive, bei der viele Soldaten Hanois in den Süden eindringen, antwortet er mit der „Operation Linebecker“, den bisher schwersten Luftangriffen auf Nordvietnam. Wieder fallen hunderttausende Bomben. Neue „smart bombs“ sind darunter, sie sind mit Kameras und Lasertechnik ausgestattet und werden von Computern gelenkt.
Um Weihnachten folgt die Fortsetzung, „Linebecker II“. Dieses Mal sterben 2000 Zivilisten. Nixon ist inzwischen mit grandiosem Ergebnis wiedergewählt worden. Kurz vorher hatte Kissinger verlauten lassen, der Frieden stehe vor der Tür. Tatsächlich sperren sich sowohl Nord- als auch Südvietnam gegen eine Einigung. Das „Weihnachtsbombardement“ löst weltweit Entsetzen aus. Wie die Offensiven vorher, soll es Nordvietnam an den Verhandlungstisch und zu Konzessionen zwingen. Das Kalkül geht auf, allerdings nur teilweise.
Die Gespräche über einen Waffenstillstand sind sagenhaft zäh verlaufen. Selbst in Kissingers Geheimverhandlungen (die Nixon 1972 öffentlich macht) kommt man kaum vom Fleck, monatelang wird um Details gefeilscht. „Die Transkripte der Treffen zu lesen fühlt sich an, als wäre man in eine Alice-im-Wunderland-Welt versetzt“, schreibt der Politikwissenschaftler Larry Berman in „No Peace, No Honor“, einer Analyse der Vietnampolitik des Gespanns Nixon-Kissinger. Die Nordvietnamesen stellen sich stur, denn sie wissen, dass Nixon den Krieg unbedingt beenden will. Doch nicht nur sie bereiten der US-Regierung Schwierigkeiten. In der südvietnamesischen Führung unter Präsident Thieu löst die Aussicht, bald allein dazustehen, Panik und Trotz aus. Von Kissinger, der Saigon oft vor vollendete Tatsachen gestellt hat, fühlt man sich hintergangen.
Dank des Drucks der USA unterschreiben alle Seiten am 27. Januar 1973 im „International Conference Center“ in Paris einen Friedensvertrag. Der große Verlierer ist Südvietnam – auch wenn die USA die Nordvietnamesen zur Anerkennung des Thieu-Regimes gezwungen haben. Amerika hat auch erreicht, dass 591 gefangene GIs nach Hause zurückkehren können. Doch obwohl sich die US-Truppen komplett aus Vietnam zurückziehen, dürfen 140 000 von Hanois Kämpfern im Süden bleiben. Damit haben Nixon und Kissinger eine Position aufgegeben, die jahrelang als unverhandelbar galt.
Der Präsident sichert Südvietnam zu, die USA würden wieder mit Bomben eingreifen, falls der Norden den Waffenstillstand brechen sollte. Meint er es ernst? Da er kurze Zeit später wegen der Watergate-Affäre politisch handlungsunfähig wird, bleibt die Antwort Spekulation. Kissinger jedenfalls, dessen Pragmatismus oft ins Zynische reicht, gibt Saigon damals noch „anderthalb Jahre“. Und behält recht: 1975 nimmt Nordvietnam den südlichen Teil des Landes ein. Wenigstens hat Amerika damit das von Kissinger intern formulierte Ziel eines „decent interval“ erreicht, denn es gibt keine direkte Verbindung zwischen dem US-Rückzug und dem Zusammenbruch Südvietnams.
Was wird geschehen, wenn die Nato-Truppen 2014 wie geplant aus Afghanistan abziehen? Hält Vietnam eine Lektion dafür parat?
Natürlich gibt es große Unterschiede: Der Nationalismus der Vietnamesen auf der einen, die fragmentierte Staatlichkeit Afghanistans auf der anderen Seite. Die Regierung Karsai mag so schwach und korrupt sein wie das Regime in Saigon, aber die Taliban genießen in der Bevölkerung wohl nicht das gleiche Ausmaß an Unterstützung wie der Vietcong.
Manche Ähnlichkeiten jedoch sind frappierend. Mit Pakistan haben die Taliban ein Rückzugsgebiet wie einst der Vietcong in Kambodscha und Laos. Für Marvin und Deborah Kalb, Autoren von „Haunting Legacy“, gibt es noch eine andere „schmerzhaft deutliche“ Parallele. Anfangs kämpften die USA gegen die Taliban – 2008 erreichte der Guerillakrieg seinen Höhepunkt –, heute verhandelt man mit ihnen, womöglich über eine Regierungsbeteiligung. Die Kalbs erinnert das an Nixons Billigung, auch nach einem Waffenstillstand nordvietnamesische Truppen in Südvietnam zu belassen. Dadurch habe sich der Präsident einverstanden erklärt „mit einer Koalitionsregierung, die wahrscheinlich von den Kommunisten dominiert und am Ende von ihnen geführt werden würde“.
Auch Historiker Bernd Greiner ist nicht allzu optimistisch, was die Zukunft Afghanistans angeht. So wie Nixon auf Luftschläge setzte, „smart bombs“ inklusive, habe Obama die Weiterentwicklung dieser Strategie für sich entdeckt: den Einsatz von Drohnen. Greiner spricht von einer „Unsichtbarmachung des Kriegs“: „In beiden Fällen geht es um die Heimatfront.“ Drohnen sind billig, relativ präzise, und bei ihrem Einsatz sterben keine eigenen Soldaten. „Aber auch sie fordern zivile Opfer.“ Von 2004 bis 2012 wurden laut einer Untersuchung 2562 bis 3325 Menschen durch US-Drohnen getötet, davon 474 bis 881 Zivilisten. „Dadurch entsteht enormer Hass. Ich fürchte, der Westen wird irgendwann bitter für den Drohnenkrieg bezahlen müssen“, sagt Greiner.
Nixons Bomben verhalfen den USA einst zu einem – zumindest aus Sicht der Regierung – gesichtswahrenden Abgang. Gewinnen aber ließ sich der Krieg auch durch sie nicht. In Afghanistan könnte es ähnlich sein.
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