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Ansichtskarten
© dpa

Urlaubsgrüße: Alles auf eine Karte

Keine Schule mehr, die Krawatte bleibt im Schrank – endlich Urlaub! Doch schon droht die nächste Pflicht: Die Lieben zu Hause warten auf einen Gruß aus der Ferne. Seit 1870 heißt es: "Das Wetter könnte besser sein. Wie geht es dir?" Die wechselhafte Geschichte der Ansichtskarte.

Du alte Kichererbse“, schrieb Jurek Becker seinem Sohn Johnny 1994 aus Krakau, „in meinem Hotelzimmer ist eine Fliege, die hat mich die ganze Nacht geärgert. Weißt Du, was ich gemacht habe? Ich habe den Kühlschrank so lange aufgemacht, bis sie reingeflogen ist. Dann schnell die Tür zu und fertig. Jetzt ist sie da drin und friert wie blöde – das hat sie nun davon. Dein Papa.“

Unentwegt auf Lesereise, schickte Jurek Becker seinem Sohn Karten von überall: Lokomotiven und Elefanten, Leuchttürme und Laternen (Gelsenkirchener Laternen), Gemälde von Miró und Léger. Lieber Mopsfrosch, schrieb er dann an den Jungen, der noch gar nicht lesen konnte, lieber Wackelpudding oder Dudelsack, weißt du, was Tatütata auf Italienisch heißt („Oi-oi-oi-oi“) und dass die Straßen in Caracas so verstopft wie unsere verschnupften Nasen sind?

Der Autor, der mit „Jakob der Lügner“ einen der schönsten Romane über die Macht der Fantasie und den Zauber von Geschichten geschrieben hat, war ein passionierter Kartenschicker, und daran war Ottilie schuld. Die Frau von Manfred Krug war der Postkartensammelwut verfallen, das hatte Freund Becker angestachelt. Ganze Plastiktüten voller Karten hatte der Berliner auf Vorrat zu Hause, schon vorsortiert für Sohn, Frau, Freunde. Auf jeder Reise stand der Schriftsteller stundenlang vor den Läden, drehte und wendete, bis er genau das Passende für jeden Einzelnen fand. „Jurek hat ’nen Sonnenbrand / vom vielen Stehn am Kartenstand“ schrieb er dann darauf.

100 Jahre zuvor hätte der Autor nicht lange suchen müssen, da gab es Postkarten in einer unglaublichen Hülle und Fülle. Gerade die Deutschen waren Weltmeister im Produzieren und Versenden von Postkarten, und wenn sie nicht so ängstlich gewesen wären, wären sie auch die Allerersten gewesen. Denn schon ein paar Jahre bevor die Österreicher 1869 die „Correspondenzkarte“ einführten, hatte der Deutsche Heinrich von Stephan sie sich ausgedacht. Aber die Bedenkenträger hatten Angst davor, dass man Nachrichten einfach so, ungeschützt, durch die Welt schicken würde, Briefträger, Dienstmädchen und Kinder vertrauliche Botschaften lesen könnten.

Erst am 1. Juli 1870, Heinrich von Stephan war inzwischen Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes, wurde die Karte auch hierzulande eingeführt. Kaufen konnte man sie schon eine Woche vorher, allein in Berlin gingen am ersten Tag 45 500 Stück über den Tisch. Dabei sahen sie nicht mal besonders attraktiv aus: ein Stück Pappe, 10,8 mal 16,3 cm groß, mit integrierter Briefmarke.

Anfangs waren Bilder gar nicht erlaubt. Aber damals brauchte man diese in der Regel auch nicht, um zu wissen, wie es dort aussah, wo der Absender gerade war. Denn meist wurden sie eher aus der Nähe als aus der Ferne verschickt: als Kurzmitteilung, schnell geschrieben und transportiert. Ein Vorläufer der SMS.

Briefe waren bis dahin eher eine Sache des gebildeten, wohlhabenden Bürgertums, Briefe mussten, so der Anspruch, gut und höflich formuliert sein und waren teuer im Transport. Die Berechnung des Portos war hoch kompliziert, richtete sich nach Gewicht und Strecke, es musste oft vom Adressaten bezahlt werden. Mit der Einführung der Karte wurde das Ganze radikal vereinfacht und demokratisiert: Man brauchte nicht alles einzeln zu kaufen, Briefpapier, Umschlag und Marke, es gab nur noch eine Gebühr, und die betrug die Hälfte vom Brief – eine Regelung, die fast 100 Jahre lang, bis 1963 galt. In einer Zeit ohne Auto und Telefon bedeutete die Postkarte eine revolutionäre Verbesserung des Lebenskomforts. Die Post wurde dreimal am Tag, in Berlin sogar bis zu elfmal ausgeliefert – steckte man morgens seine Nachricht ein, konnte man sich abends mit dem Adressaten treffen. Und die Formlosigkeit blieb das geschätzte, befreiende Markenzeichen des Mediums – „Postkarte genügt“ –, reizte einen Schriftsteller wie Jurek Becker, zu spielen mit dem Medium, dessen begrenzter Platz gerade als Herausforderung reizvoll ist.

Bald nach ihrer Einführung wurden die nüchternen Kartons auch aufgehübscht, der Hunger nach Bildern war gewaltig. Kein Kino und kein Fernseher, die Museen eher elitäre Institutionen, da waren die Karten kleines Kino: Weltausstellungen, Bergpanoramen, Betrunkene am Laternenpfahl, Politiker, Zeppeline, Marktplätze, Eisenbahnen, Eiffelturm, Hunde mit Zylinder und Blumenstrauß, Schmetterlinge, überhaupt: Tiere und Kinder en masse, Liebespaare, Hochhäuser, Artisten, Damen im Badeanzug, in der neueste Mode und ganz nackt, Muskelprotze, Thronjubiläen, auch Brandkatastrophen und Überschwemmungen – die aktuellen Karten waren die Tagesschau von einst, meint Gerhard Kaufmann in seiner Kulturgeschichte der Postkarte, „Viele Grüße ...“. Liebe, Humor, Drama, Erotik, im 2D-Kino waren alle Gefühle erlaubt, ja, oft auf einer einzigen Karte vereint. „Landschaft, begehrliche Erregung, fromme Gefühle, patriotische Andacht und nationalistischer Hass flossen, wenn es irgend möglich war, ineinander“, so Kaufmann.

Im Grunde ist die Ansichtskartenindustrie ja bis heute eine einzige Traumfabrik. Auf den Bildern sieht der Urlaub immer genau so aus, wie er sein sollte: der Himmel blau, der Strand leer, das Hotel luxuriös, die Menschen freundlich.

The medium is the message – der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat recht gehabt. Zum Glück. Denn nicht jeder Absender ist ein großer Autor wie Franz Kafka, der Karten als Intermezzo zwischen seinen vielen Briefen schickte. Bei den meisten ist die geschriebene Botschaft ziemlich banal: Wie geht es dir, mir geht es gut, die Sonne scheint, das Bier ist fad, die Nudeln schmecken, Rosi hat sich einen neuen Badeanzug gekauft. Aber wer achtet schon auf den Text, wenn er ein gutes Bild vor Augen hat.

Wichtig ist ohnehin weniger, was man schreibt, als dass man schreibt. „Du liebe Hühnerkastanie“, gestand Jurek Becker, der 1997 gestorben ist, seinem Sohn Johnny einmal per Post, „wenn ich so sitze und arbeite, muss ich andauernd an Dich denken. Kannst Du mir erklären, warum? Und kannst Du mir erklären, warum ich Dir andauernd Karten schreibe, obwohl ich Dir dasselbe auch sagen könnte?“ Beckers Frau Christine konnte erklären, warum: Es war eine Art Händchenhalten. Der Schriftsteller war so oft weg, auf Reisen oder aber am Schreibtisch versunken, dass er fürchtete, den Kontakt zu seinem kleinen Sohn zu verlieren.

Im Grunde ist ja jede Urlaubskarte nichts anderes als das – Händchenhalten. Die Botschaft ist simpel: Ich denk an dich. Das wird allerdings auch erwartet. Was einmal Ausdruck von Freude war oder von Stolz, ist für viele zur schrecklichen Pflicht erstarrt, die im letzten Moment, am Flughafen, erledigt wird.

Am Anfang war die Qual des Schreibens noch stark begrenzt: Auf der Ansichtskarte war kaum Platz für eigene Worte, die mussten alle mit auf das Bild gekritzelt werden. Die andere Seite war für Absender, Adresse und Briefmarke reserviert, erst um 1905 wurde die Seite geteilt, um links Platz für den Text zu schaffen. Aber „Gruß aus“, wie es auf den meisten Karten in Schreibschrift gedruckt stand, reichte ja auch fast schon. Damit war das Wesentliche gesagt: Ich war da.

„Gruß aus“ wurde selbst in anderen Sprachen zum Fachausdruck der Branche für die entsprechenden Ansichtskarten. Die Deutschen prägten nämlich postkartentechnisch die Welt, niemand schickte und sammelte so viel, und zeitweise gingen 50 Prozent der deutschen Produktion in den Export. 1899 wurden hierzulande 88 Millionen Karten hergestellt, in England 14, in Frankreich gar nur acht Millionen. Im Jahr 1903 wurden 1,2 Milliarden Karten befördert. Die goldenen Jahre werden von den Experten ziemlich genau von 1895 bis 1918 datiert.

Für den Boom gab es diverse Gründe. Da war zum einen die junge Lithografie, die plötzlich kunstvolle Drucke erlaubte; die neue Mobilität sowohl der Post wie der Menschen durch die Entwicklung der Eisenbahn; der Überschwang des Fin de Siècle – und dann der Krieg, in dem hunderte Millionen Feldpostkarten versandt wurden.

Im Essener Museum Folkwang wird an diesem Wochenende eine große Ausstellung über „Frankierte Fantastereien“ eröffnet, die aufs eindrücklichste und unterhaltsamste belegt, mit wie viel Witz und Fantasie nicht nur Künstler zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Möglichkeiten der kleinen Karte, mit Montage, Collage und Inszenierungen spielten. Vielleicht regt das ja auch zum Nachahmen an. Denn nie brauchten wir die Postkarte so nötig wie heute. Oft ist die Karte die einzige persönliche Note im Briefkasten zwischen Werbung und Steuerbescheid. 2006 wurden zwar immerhin noch 225 Millionen Postkarten von der Deutschen Post befördert. Doch die Produzenten klagen über sinkende Absatzzahlen.

Auch für den Abstieg kann man viele Gründe finden. Heute ist die Postkarte kaum noch billiger als ein Brief, der dafür meistens schneller befördert wird. Die Konkurrenz der Bilder ist enorm, jeder hat ein Handy, eine Digitalkamera, aufwendigere Grußkarten landen im Briefumschlag. Wirtschaftlich und politisch wurde es nach dem Ersten Weltkrieg ernster, das Reisen hat den Reiz des Exotischen verloren, und die Urlaubspost kommt heute per SMS, MMS oder als Email aus dem Internetcafé.

Doch das virtuelle Bild kann das reale nie ersetzen. Da kann man auch gleich zu Hause bleiben. Und holt sich die Karten auf dem Weg zum Klo. In den düsteren Kneipenfluren stecken bunte Gratiskarten in Ständern und machen Werbung für Konzerte, Lesungen, Bier. Neu ist auch das nicht, im Gegenteil. Metzger, Gasthöfe, Firmen gehörten zu den Ersten, die das Potenzial des Massenmediums erkannten, Reklame machten für Schokolade, Motoröl und Seifenflocken. Denn gerade das, was die einen für abschreckend hielten, machte für andere ihren großen Vorteil aus: dass Karten ihre Botschaft offen zur Schau trugen, kein Geheimnis für sich behielten. Deshalb liebten die Zensoren sie, weil sie nicht erst Umschläge, womöglich noch heimlich, öffnen mussten. Und wer Propaganda machen wollte – für den Kaiser, den Führer oder eine zweitrangige Schauspielerin –, nutzte sie.

Gerade für Künstler waren sie die einfachste und günstigste Methode, sich zu verbreiten: die Post als virtuelles Museum. Was später als Mail Art bekannt wurde, gab es schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor allem der Jugendstil nutzte das kleine Format, auch die Künstler des Blauen Reiters waren bekannt für ihre gestalteten Mitteilungen. Sie nutzten die Karten als Spielwiese, manche verschickten sogar Originale. Ende des 20. Jahrhunderts bescherte der Boom der Kunstpostkarte dem Genre noch mal eine Renaissance. Allerdings litten die Artisten auch unter dem Erfolg der technischen Reproduzierbarkeit. Wer Chagall eine Million Mal im Kleinformat gesehen hat, nimmt ihn im Original nicht mehr ernst.

Aber das Publikum ist gierig, die billige Karte macht auch den kleinen Mann zum Kunstsammler. Und das Gute ist: Die DIN-A6-Sammlung nimmt kaum Platz weg. Der Schönheitsbegriff hat sich allerdings geändert. Je absurder das Motiv, je schriller oder fahler die Farben, desto begehrter das Objekt. Schrecklich ist schön. Martin Parr war da stilbildend. „Boring Postcards“ nannte der britische Fotograf seine riesige Sammlung, der deutschen Langeweile hat er ein eigenes Buch gewidmet. Einkaufszentren, Autobahnen, Hochhäuser, Erholungsheime, Flughäfen – Parr interessiert, was die Bilder über eine Gesellschaft erzählen, ihre Träume und Utopien, von denen so viele verblasst und gescheitert sind. „Postkarten erzählen mehr über den Wandel der Gesellschaft und ihrer Anschauungen als ein Großteil der offiziellen Dokumentarfotografie.“

Als historische Quellen sind Postkarten ohnehin von unschätzbarem Wert. Die Entwicklung einzelner Städte kann man mit ihrer Hilfe illustrieren, Gebäude rekonstruieren, die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts erzählen. Feldpostkarten sind bis heute berührende Zeugnisse – und sie erzählen oft eine andere Geschichte als die, die zeitweise in den Schulbüchern zu lesen waren. Die Familien haben sie sorgsam aufbewahrt, denn die „ephemeren Druckerzeugnisse“, wie sie offiziell heißen, sind so flüchtig nicht.

Sie sind mehr als billige Souvenirs: Andenken für die Ewigkeit.

Die Postkarten von Jurek Becker an seinen Sohn („Lieber Johnny“) und an Manfred und Ottilie Krug („Jurek Beckers Neuigkeiten“) sind als Taschenbücher bei Ullstein erhältlich. Die Ausstellung „Frankierte Fantastereien“ im Essener Museum Folkwang läuft bis zum 21. September; ein großer Bildband dazu ist im Steidl-Verlag erschienen. In Berlin lohnt der Besuch des Museums für Kommunikation.

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