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Eingelegtes Gemüse - schon bald bilden sich Blasen
© Kitty Kleist-Heinrich

Trend Fermentieren: Gären statt Garen

Beim Fermentieren badet Gemüse im eigenen Saft – und wird dabei immer gesünder. Ein Selbstversuch mit Tücken.

Ein einziges Mal drohte das ganze Experiment ins Wanken zu geraten. Das war, als eines Morgens das Telefon im Sauerkrautsaft lag.

Der Deckel hatte nur lose auf dem Glas gesessen und der fermentierende Weißkohl hatte in der Nacht jede Menge Flüssigkeit herausgesprudelt. Die war über den Tisch gelaufen, hatte die Obstschale umspült, das Mobiltelefon erreicht und schließlich eine Pfütze auf dem Parkett gebildet. Um das aufzufangen, haben also traditionelle Gärtöpfe eine Wasserrinne!

Ob im Netz, in Büchern oder bei Freunden – es hatte geklungen wie ein großes Versprechen: Unberechenbare Dinge würden passieren. Eventuell würden Gläser platzen, ohne Kollateralschäden gehe es bei den wenigsten ab, aber das Ergebnis wiege alles auf. Fermentiertes Gemüse sei ganz einfach herzustellen in einem geradezu magischen Prozess. Man erhalte Lebensmittel, die es in keinem Supermarkt zu kaufen gebe. Die Wirkung auf Geschmacksnerven und Gesundheit sei genauso revolutionär wie die Geste gegenüber der Lebensmittelindustrie, die diese uralte Technik der Konservierung völlig aus dem Bewusstsein der Menschen gelöscht habe. Das Ganze sei eine Sache mit offenem Ausgang. Wie das Leben selbst.

Fermentieren klang wie das letzte Abenteuer der Zivilisation. Und zugleich wie die einfachste Sache der Welt: Gemüse wird in einer Salzlake von Luft abgeschlossen. Man braucht dafür kaum Gerätschaften und keine Energiezufuhr. Die Verwandlung in ein genießbares, gesundes Lebensmittel, das unvergleichlich schmeckt, geschehe über Tage und Wochen ganz von selbst.

Auffallend ist, dass sehr wenige Menschen es je probiert haben. Dass diejenigen, die es probiert haben, aber einen regelrechten Suchtcharakter entwickeln. Sie drängen an die Öffentlichkeit mit Blogs und auf Facebook, man muss von einer Bewegung sprechen, die auch nach über zehn Jahren immer noch etwas Missionarisches hat. Sandor Katz ist der Apostel dieser Szene, seit Jahren bringt er in den USA das wilde Fermentieren unter die Leute. Er glaubt, die Wein- und Bierfetischisten hätten mit ihrer Bescheidwisser-Literatur nur Hemmschwellen aufgebaut für die eigentlich natürlichste Sache der Welt, eine Konservierungsmethode, die die Menschen in Erdlöchern betrieben, noch bevor die Schrift erfunden war. 

Hauptsache, der Topf ist luftdicht abgeschlossen

Fermentieren ist ja eher eine Versuchsanordnung als ein Rezept. Der erste Versuch soll Kimchi sein. In Seoul, wo riesige Gärtöpfe aus Keramik auf den Balkonen stehen und die U-Bahnen wie Knoblauchwürste durch den Untergrund sausen, gilt das Gemüse als magisches Elixier mit lebensverlängernden Eigenschaften. Im Netz findet sich ein Rezept, das nach 48 Stunden genießbar sein soll: Chinakohl wird mit Salz Wasser entzogen, dann wird er mit Rettich, Karotten und Lauch in einer Paste aus Chiliflocken, Ingwer und Knoblauch mariniert und luftdicht in ein Glas gepackt. Damit das während der Milchsäuregärung nicht platzt, kommt obenauf ein Gärrohr in einem Gummistopfen.

Tipp: Wer beim Marinieren von Kimchi mit der Chili-Knoblauch-Ingwerpaste auf Handschuhe verzichtet, sollte sich am nächsten Tag nicht mit bloßen Fingern Kontaktlinsen in die Augen setzen.

Manche Ratschläge für das Fermentieren sind weit hergeholt, andere widersprechen sich. Die eine hält exakte Temperaturen ein, der andere sagt, das Wichtigste sei, dass in der Küche keiner über den Topf stolpert. Deshalb hilft nur: Selbst ausprobieren.

Als Leitlinie einige Verhältnisse: Je mehr Salz verwendet wird, desto langsamer läuft die Gärung, desto saurer ist das Ergebnis. Je höher die Raumtemperatur, desto schneller verläuft die Gärung. Gemeinsam sagen alle: Das Wichtigste ist der Sauerstoffabschluss. Milchsäuregärung, bei der Laktobazillen ein saures Klima schaffen, in dem unerwünschte Keime keine  Chance haben, findet anaerob statt. Das Gemüse muss deshalb luftdicht abgeschlossen oder mit Gewichten unter die Lake gedrückt sein. Was herausguckt, fordert Schimmel heraus. Zur Aufbewahrung keine Metallgefäße nehmen, die reagieren mit den Säuren. Chlorhaltiges Wasser tötet die Mikroorganismen. Auch Tafelsalz mit Jod und chemischen Rieselhilfen verhinderten die Gärung. Besser sei Meersalz.

Nach diesen Grundsätzen wandern nun Weiß- und Rotkohl zusammen mit geraspelten Karotten in ein Glas. Salz darauf, der eigene Saftt mit den Händen ausgedrückt, das Gemüse daruntergetaucht: fertig.

Eine Freundin ruft an: Was machst du gerade? – Oh, ich fermentiere Gemüse. Mein Beitrag zur Darmgesundheit. Die Bazillen beleben die Darmflora. – Schallendes Gelächter am anderen Ende.

Schimmel? - Ein Oberflächenproblem

Eingelegtes Gemüse beobachten
Beobachten. Kontrollieren. Verantwortung tragen. - Die eigentliche Arbeit erledigen Laktobazillen
© Kitty Kleist-Heinrich

Wenn man Essen vom Darm her denkt, ist irgendetwas schief gelaufen, oder? Doch gefühlte 80 Prozent der Faszination an Fermentiertem beschäftigt sich mit den gesundheitlichen Segnungen. Das Ergebnis sei probiotisch, die Kulturen lebendig. Das Immunsystem werde gestärkt, die Verdauung angeregt, bekanntlich sei auch der Vitamin-C-Gehalt in Sauerkraut viel höher als in rohem Weißkohl. Man muss also nicht James Cook sein, der mit 60 Fässern Sauerkraut eine Seemannschaft eine Weltumseglung lang vor Skorbut bewahrte, um die Vorteile der Fermentierung zu verstehen.

Dabei haben Zersetzungsprozesse einen schlechten Ruf. Sie gelten als das Gegenteil von Appetitlichkeit, Gesundheit und Frische. Statt die Organismen, die sich überall befinden, mit antibakteriellen Mitteln zu bekämpfen, sollte man sie sich zu Komplizen machen, findet Sandor Katz. Fermentierung sei „der Weg des geringsten Widerstands“. Völlig falsch sei es, Bakterien von Lebensmitteln fernzuhalten. Es müssen nur die richtigen sein. Seine Bücher, Workshops und Vorträge sind Teil eines Feldzugs gegen die Gleichschaltung der Lebensmittel durch die Industrie, wonach nur ein totes Lebensmittel ein „sicheres“ Lebensmittel ist: homogenisiert, pasteurisiert. Selbst fermentierte Produkte dagegen: lebende Kulturen, aus denen einst unsere Erde entstand.

Immer wieder probieren, hatte Katz geraten. So wächst das Gefühl dafür, wann etwas gut gereift ist und am besten schmeckt. Dummerweise ist das erste Sauerkraut durch die Probiererei schon aufgebraucht, bevor es wirklich wie Sauerkraut schmeckt ...

Die blubbernden Gläser sind langsam wie Mitbewohner. Schon nach 36 Stunden steigt im Gärröhrchen über dem Kimchi Flüssigkeit auf, Blasen ziehen durch das Rohr. Sie kämpfen sich nach oben, die Flüssigkeit läuft außen herunter. Gut sichtbar bilden sich auch im Gemüse- und im Sauerkrautglas schnell Hohlräume und Blasen, während obenauf ein ruhiger See aus Salzlake liegt.

Schimmel? Laut Sandor Katz ist das „ein Oberflächenproblem“. Er rät, ihn regelmäßig abzunehmen. Er betreffe nur die obere Schicht, die im Kontakt mit Sauerstoff steht. Das Gemüse darunter liege unter dem „anaeroben Schutz der Salzlake“. Eine andere Quelle rät sogar einfach zum Unterrühren: Die Milchsäurebakterien in der Lake ließen dem Schimmel keine Chance zum Überleben.

Im Schöneberger Küchenlabor ist noch kein Schimmel aufgetreten. Aber das Kimchi steht jetzt im Kühlschrank, die geringen Temperaturen verlangsamen den Gärprozess. Das Gemüse reife jetzt nur noch, sagt die Literatur. Man solle immer mal wieder probieren, wie er sich verändert und wie man ihn am liebsten hat.

Beobachten. Kontrollieren. Beurteilen. Delegieren

Eine Bitte: Kannst du die Gläser auf den Balkon stellen? Koreaner tun das schließlich auch, oder? – Der Kühlschrank riecht jedenfalls bei jedem Öffnen wie ein U-Bahn-Waggon in Seoul.

Fermentieren, heißt es, werde hauptsächlich von Männern betrieben, weil ihnen die Einhaltung laborartiger Exaktheit leicht falle. Wahrscheinlich hat es eher mit Delegieren zu tun. Die eigentliche Arbeit machen jedenfalls die Laktobazillen. Wo sonst hat man schon einmal tausende Mitarbeiter unter sich? Ganze Armeen! Ist das Glas einmal gefüllt, die Lake angesetzt, muss man nur noch: Beobachten. Kontrollieren. Beurteilen. Entscheidungen treffen. Verantwortung tragen.

Bist du sicher, dass sich da jetzt kein Methylalkohol gebildet hat? Du weißt, dass man davon blind wird? 

Mitbewohner ohne Ahnung von der Materie wollen ohne Vorkoster nichts probieren. Man kann ihnen das nicht vorwerfen. Sie sind ja nicht aufgeputscht durch euphorische Literatur.

Das Kimchi? Zieht auf verblüffend originale Weise das Wasser im Mund zusammen. Die Knackigkeit des Kohls ist noch da, die Schärfe, der Geruch ist ganz Korea und der Knoblauch gewaltig.

Das eingelegte Gemüse? Der Rotkohl hat eine milchig-lila-pinke Farbe angenommen, die Karotten sind gedunkelt, alles hat noch Biss. Nie passierte Derartiges die Geschmacksnerven.

Und das Sauerkraut? Schmeckt frisch, noch viel zu frisch nach rohem Weißkohl. Aber es ist auch erst eine gute Woche um. Es soll seine Zeit bekommen. Das Experiment hat erst begonnen.

Grundlagen für die Versuche: Die Bücher Sandor Katz: „Wild Fermentation“, Alys Fowler: „Aly’s Erntezeit“, außerdem „How to make Kimchi“ von Danny Macs Kitchen und „Fermenting Vegetables with Sandor Katz“, beides Youtube.

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