Bundestagsabstimmung über Sterbehilfe: Fünf Argumentationsfehler der Sterbehilfe-Befürworter
Der Bundestag entscheidet über die Sterbehilfe. Die Befürworter verwenden falsche Argumente, sagt ein Tübinger Medizinethiker.
In dieser Woche stimmt der Deutsche Bundestag über die Gesetzesentwürfe zum assistierten Suizid ab. Die öffentliche Debatte läuft seit geraumer Zeit. Fast alles ist gesagt. Aber nur fast. Denn auf Seiten der Befürworter der Suizidassistenz haben sich einige falsche Annahmen und fragwürdige Argumentationsmuster etabliert, die es zu korrigieren gilt.
Debatte weitet sich unweigerlich auf psychisch Kranke und Demenzkranke aus
Erstens werden die Befürworter des assistierten Suizids nicht müde zu betonen, dass keine Ausweitung der Tötungspraxis drohe, wie es bei der Tötung auf Verlangen der Fall wäre. Das ist richtig, aber nur was die Ausweitung auf ungewollte Tötungen angeht. Solche ungewollten Tötungen sind bei der assistierten Selbsttötung tatsächlich kaum vorstellbar.
Dennoch drohen auch bei einer gesetzlichen Regelung des assistierten Suizids Ausweitungen, und zwar beim Kreis der Berechtigten. Bislang wird die Suizidassistenz in Deutschland nur für Menschen gefordert, die an einer tödlichen Krankheit leiden. Aber warum Suizidassistenz nicht auch für psychisch Kranke, die zu einer autonomen Entscheidung fähig sind? Warum nicht auch für Menschen mit beginnender Demenz? Das ist kein abstraktes Bedrohungsszenario, sondern all das wird in der internationalen medizinethischen Debatte bereits lebhaft diskutiert.
Vor allem aber hat bis heute kein Befürworter eine überzeugende Begründung dafür vorgelegt, warum Suizidassistenz auf Menschen mit körperlichen Krankheiten beschränkt werden darf. Dafür gibt es auch keine gute Begründung, wenn man zu Suizidassistenz im Grundsatz Ja sagt. Und eine Grenzziehung, die sich nicht begründen lässt, wird sich auf Dauer nicht halten lassen.
Paradebeispiel Oregon? Die Gesamtrate von Suiziden ist dort gestiegen
Zweitens: Es gehört inzwischen zum üblichen argumentativen Instrumentarium der Befürworter, auf die vermeintlich guten Erfahrungen im US-Staat Oregon zu verweisen. Dort ist die Suizidassistenz unter bestimmten Umständen seit vielen Jahren gesetzlich erlaubt. Aber ist das ein hilfreicher Hinweis? Sind das kleine Oregon mit seinen nicht einmal 4 Millionen Einwohnern im äußersten Nordwesten der USA und die Bundesrepublik mit ihren sozialen Verwerfungen zu vergleichen?
Vor allem aber ist fraglich, ob die Lage in Oregon wirklich so vorbildlich ist. Oftmals wird behauptet, dass eine gesetzliche Regulierung der Suizidassistenz eine suizidpräventive Wirkung habe. Doch neueste Untersuchungen zeigen, dass die Gesamtrate von Suiziden in Oregon seit Einführung der ärztlichen Suizidassistenz gestiegen ist, ebenso in anderen US-Staaten mit vergleichbaren Regelungen. Von einer insgesamt suizidpräventiven Wirkung kann also keine Rede sein. Im Gegenteil, die Zulassung scheint eher – bei aller Vorsicht mit solchen Daten – zu einer neuen Art von Werther-Effekt zu führen.
Sichtweise hat sich bereits auf Suizid als einzige Option für Leidende und Sterbende verengt
Drittens ist immer wieder zu hören, dass man die Patienten „allein“ lasse, wenn ihnen die ärztliche (oder eine andere) Suizidassistenz verwehrt wird. Das ist schlichtweg falsch und auch irreführend. Den Wunsch eines Menschen, und sei er noch so dringend, nicht zu erfüllen, heißt keineswegs, ihn allein zu lassen.
Diese Behauptung bringt vielmehr zum Ausdruck, wie sehr sich die Sichtweise bereits verengt hat: der Suizid als einzige Möglichkeit. Dass sich dies für den Patienten in Not so darstellt, bedeutet nicht, dass andere diesen Tunnelblick zu übernehmen brauchen. In der Medizin ist es Alltag, dass Patientenwünsche nicht erfüllt werden, und zwar weil sie nicht medizinisch angezeigt sind. Niemand kommt auf die Idee, dass die Patienten deshalb alleingelassen werden.
Dass Suizidassistenz ein marginales Phänomen ist, ändert nichts an der Dringlichkeit der Frage
Viertens heißt es, die Zahl der Betroffenen sei nur gering. Und daher, so zum Beispiel der Mediziner Gian Domenico Borasio jüngst in der "Zeit", sei die Suizidassistenz ein marginales Phänomen. Doch es ist eben die Frage, ob die Zahlen langfristig so gering bleiben würden. Aber auch wenn dies so wäre, ist es ein merkwürdiges Argument, da es sich ebenso für die gegenteilige Position verwenden lässt: Weil es so wenige sind, brauchen wir keine Zulässigkeit der Suizidassistenz.
Wichtiger aber ist etwas anderes. Die gesellschaftliche Relevanz eines Themas bemisst sich nicht allein an der Zahl der betroffenen Personen. Ob Menschen sich selbst töten und wer sie dabei unterstützt, ist eine gesellschaftlich hochrelevante Frage, egal wie viele es sind.
Verbot von Suizidassistenz verletzt nicht das Recht auf Selbstbestimmung
Das führt zum fünften Argument. Suizidassistenz zu verbieten, verletze das Recht auf Selbstbestimmung, heißt es. Aber auch das ist falsch. Der einsame Suizid mag allein eine Sache individueller Selbstbestimmung sein, die Unterstützung durch andere ist es sicherlich nicht. Vor allem nicht, wenn daran mit den Ärzten ein Berufsstand teilnimmt, dem große gesellschaftliche Bedeutung zukommt. Auch eine Selbsttötung ist eine Tötung, wenngleich die Bilder hübsch eingerichteter Sterbezimmer uns das Gegenteil vermitteln sollen.
Ob Ärzte daran teilnehmen, geht nicht nur die Ärzteschaft als ganze, sondern geht uns alle an. Deshalb stimmt es nicht, dass, wie manche Befürworter behaupten, für eine liberale Gesellschaft allein die Zulässigkeit der Suizidassistenz in Frage kommt. Die Gesellschaft darf und muss sich entscheiden, welche Art von Gesellschaft sie sein will.
Roland Kipke ist promovierter Philosoph und Medizinethiker. Er forscht und lehrt an der Universität Tübingen.
Dieser Text ist Teil unserer Debatte zur Sterbehilfe. Hier finden Sie weitere Expertenbeiträge zum Thema.
Roland Kipke