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Lily Brett in New York, wo sie mit ihrer Familie seit den 80er Jahren lebt.
© Bettina Strauss

Die Schriftstellerin Lily Brett über ihre Heimatlosigkeit: Fehl am Platz

1945 – bei Kriegsende sind Millionen Menschen entwurzelt. Lily Brett wird als Kind von Auschwitz-Überlebenden in einem bayerischen Lager für „Displaced Persons“ geboren. Hier erklärt sie, warum sie sich nie richtig zu Hause fühlt.

Das Lager für Heimatlose im bayerischen Feldafing, in dem meine Eltern sich nach Kriegsende als Auschwitz- Überlebende wiederfanden, hat mich zutiefst geprägt: Ich habe nie das Gefühl, irgendwohin zu gehören.

In der „New York Times“ stand neulich ein Artikel über diese Displaced Persons Camps, „Surviving the Nazis, Only to Be Jailed by America“ – „ Die Nazis überlebt, nur um von Amerika eingesperrt zu werden“. Die Amerikaner wollten die Juden nicht haben, wie Abschaum wurden sie behandelt. Die Militärpolizei war bewaffnet, die Lagerinsassen hatten keine Papiere, kein Geld, die Lebensmittel waren rationiert. Einmal wurde mein Vater mit einem Pfund Butter festgehalten, das er auf dem Schwarzmarkt für meine Mutter ergattert hatte, die mit mir schwanger war. Sie haben ihn vor die Wahl gestellt: Entweder er isst die Butter an Ort und Stelle – oder er kommt ins Gefängnis. Danach war ihm eine Woche lang schlecht.

Meine Eltern haben nicht damit gerechnet, sich aber auch nicht gewundert, dass die amerikanische Militärpolizei so gemein war. Schließlich waren sie sechs Jahre lang von den Deutschen brutal behandelt worden. Sie haben keine Freundlichkeit erwartet, von niemandem.

Die Menschen im Lager waren damit beschäftigt, zuzunehmen, gesund zu werden, Kleidung zu organisieren – viele trugen ja noch immer ihre Häftlingsfetzen. Wenn jemand heiratete, wurde gefeiert. Es gab viele Hochzeiten, die Menschen haben sich so verzweifelt danach gesehnt, jemanden zu lieben, zu berühren. Alle waren traumatisiert. Und damit beschäftigt, aus Deutschland rauszukommen.

Als meine Mutter hochschwanger war mit mir, wurden meine Eltern nach Bayreuth umgesiedelt, wo sie sich mit einer anderen heimatlosen Familie eine Zwei-Zimmer-Wohnung teilten, aber immer noch unter der Aufsicht des Camps standen. Dort wurde ich 1946 als Lilijahne Breitstein geboren. Als ich 30 war, habe ich zu meiner Mutter gesagt: Weißt du, wenn ich meine Augen schließe, höre ich Menschen weinen. Da meinte sie: Als du auf die Welt kamst, haben alle geweint, entweder vor Glück, weil ein Baby geboren wurde, oder wegen all der Menschen, die sie verloren hatten. Sie selber war so verängstigt, dass sie jedesmal, wenn jemand an der Tür klopfte, in den Schrank sprang.

Die Vergangenheit meiner Eltern wurde zu meiner Gegenwart. Mein ganzes Leben lang fühlte ich mich total heimatlos. Ich dachte, das würde irgendwann verschwinden, ich habe ja Kinder bekommen, meine Kinder haben Kinder bekommen, aber noch immer bleibt diese Irritation: Ich bin auf der Suche nach einem Zuhause.

Ich liebe New York. Aber mein Gefühl von Zuhause, das sind Menschen, die ich liebe, gute Freunde. Als wir nach Manhattan zogen, in eine Wohnung, in der noch keine Möbel waren, nichts, sagte ich zu meinem Mann: Ich fühle mich wie ein Flüchtling. Woraufhin David meinte: Flüchtlinge haben keine American-Express-Card. Da musste ich lachen.

Einen Pass zu bekommen, war ein Albtraum

Lily Brett als Flüchtlingskind in Paris. "Ich liebe dieses Bild. Es ist das einzige Foto meiner Kindheit, auf dem ich lache."
Lily Brett als Flüchtlingskind in Paris. "Ich liebe dieses Bild. Es ist das einzige Foto meiner Kindheit, auf dem ich lache."
© privat

Meine Mutter hat damals verzweifelt versucht, diesem Deutschland zu entkommen. Die Überlebenden konnten ja nicht einfach weg, sie mussten ein Land finden, das sie aufnahm, was schwierig war. Drei Jahre nach dem Krieg gelangten wir schließlich nach Paris, als Durchgangsstation. Wir hatten ja keine richtigen Papiere. Das hat mich mein Leben lang verfolgt. Bis man einen Pass bekam – das war ein Albtraum. Heute habe ich einen Haufen Pässe. Wenn Sie je Flüchtling gewesen sind, lieben Sie Pässe! Einen australischen, einen amerikanischen, einen polnischen. Keinen deutschen, mein Sohn hat vor Jahren mal den Antrag gestellt, er fand, dass ich Anspruch darauf habe, ohne Erfolg.

Was ich bin? Keine Amerikanerin, auch wenn ich schon lange in den USA lebe. Ich bin nach meinem zweiten Lebensjahr in Melbourne aufgewachsen, wenn mich jemand fragt, würde ich sagen: Ich bin Australierin. Man muss so eine Antwort haben. Ich selbst definiere mich nie so.

Auf Fotos meiner Kindheit gucke ich immer verwirrt. Nur auf einem einzigen Bild lache ich, aus ganzem Herzen. Da sitze ich in Paris, im Marais, auf einem Karussell, trage einen weißen Kaninchenfellmantel, den mein Vater für mich auf dem Schwarzmarkt erstanden hatte, und bin so voller Freude. Man kann sie spüren, die Freiheit, die wir damals empfanden. Ich liebe dieses Bild!

Ich glaube, meiner Mutter war es egal, wo sie landete. Sie wollte nur die Chance, ein neues Leben aufzubauen. Das ist ihr nie wirklich gelungen, es war zu zerstört. Sie wollte als junge Frau Kinderärztin werden. Stattdessen kam sie ins Ghetto nach Lodz, ihr erstes Kind, ein Junge, starb dort kurz nach der Geburt, dann Auschwitz, ihre ganze Familie hat sie da verloren.

In Melbourne arbeitete sie in einer Fabrik. Anfangs lebten wir in einem einzigen Zimmer zusammen, meine Eltern und ich. In einem Haus mit sieben anderen Familien, es gab eine Küche und ein Bad für alle. Trotzdem: Meine Eltern fühlten sich so frei in Australien! Dabei konnten sie gar kein Englisch. Jiddisch, Deutsch, Polnisch, Russisch, ja, aber kein Englisch. Die Leute haben oft geschrien, wenn sie mit ihnen sprachen, als wenn es ein Problem der Lautstärke wäre. Meine Eltern bestanden darauf, dass wir zu Hause Englisch sprechen, sie wollten so sehr Teil von Australien werden. Mein Vater ist heute noch stolz auf mein Englisch.

Die jüdischen Flüchtlinge, die nach Australien gingen, zogen alle in dieselbe Gegend. 95 Prozent unserer Nachbarn waren Holocaustüberlebende. Meine Mutter hat viel erzählt, sie wollte es nicht, aber all das Schreckliche ist einfach aus ihrem Mund rausgeflossen, sie konnte nicht anders. Und ich habe immer gehofft, dass es nicht ihr, sondern jemand anderem passiert ist. Als ich klein war, hat sie oft am Tisch gesessen und geweint. Mein Vater war anders, er hat viele Krimis gelesen, ist da abgetaucht, hatte auch einen guten Sinn für Humor. Außerdem hat er hart gearbeitet, in der Fabrik, mehrere Schichten. Wir waren keine Familie, die um den Tisch herumsaß und sich unterhielt.

"Ich will nach Auschwitz, so wie andere in die Kirche gehen"

Lily Brett in New York, wo sie mit ihrer Familie seit den 80er Jahren lebt.
Lily Brett in New York, wo sie mit ihrer Familie seit den 80er Jahren lebt.
© Bettina Strauss

Mein Vater wird demnächst 99, lebt in New York und ist ganz im Frieden mit sich. Viele alte Leute werden ja mürrisch – mein Vater wird immer glücklicher. Er hat das Gefühl, dass er so ein Glück hatte, rauszukommen aus dem Ghetto, dem KZ, dem Heimatlosen-Lager, eine Familie zu haben, die ihn liebt, und die er liebt. Er bringt mich dauernd zum Lachen, und wenn ich was Witziges sage, lacht er so heftig, dass ich richtig Angst kriege, er könnte sterben, er hört gar nicht mehr auf.

Nach Feldafing und Bayreuth bin ich nie zurückgekehrt, aber ganz oft in Auschwitz gewesen. Ich will nach Auschwitz, so wie andere in die Kirche gehen. Es ist der einzige Ort auf der Erde, wo ich das Gefühl habe, dass meine ganze Familie da ist. All die, die ich nicht kenne. Die Eltern meiner Mutter, ihre vier Brüder und drei Schwestern, ihre Tanten und Onkel, Vettern und Cousinen, Nichten und Neffen, alle sind ermordet worden. Als Kind habe ich mich immer gefragt: Wo komme ich her? Wer waren wir? Gab es jemanden, der so dachte wie ich? Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass wir allein sind in der Welt. Das waren wir ja auch.

Ich weiß, dass es merkwürdig klingt, aber ich fahre nach Auschwitz, weil ich die Wände dort berühren kann, weil es für mich der Ort ist, an dem ich mich all den toten Menschen nahe fühle, die Teil von mir sind, von denen ich nicht mal weiß, wie sie aussahen. Es wäre so wunderbar gewesen, mit ihnen aufzuwachsen. Ich beneide niemanden um seinen Schmuck, sein Haus. Aber jeden, der eine große Familie hat. Wenn ich eine Großmutter hätte stehlen können, ich hätte es getan, so sehr habe ich mir als Kind eine gewünscht. In meinen Augen war eine Großmutter das Tollste, was man haben kann.

Ich bin achtfache Großmutter, ich kann es selbst kaum glauben. Meine drei Kinder haben wohl eigenmächtig versucht, die Familie wieder zu bevölkern. Und in den Augen meiner Enkel sehe ich nicht mehr Schmerz und Qual, sondern Freude. Das hat ein paar Generationen gebraucht.

Die Schriftstellerin Lily Brett, 68, fing mit 19 an, für ein Musikmagazin zu arbeiten. Sie interviewte Jimi Hendrix und die Rolling Stones. Zuletzt erschien von ihr der autobiografische Roman „Lola Bensky“ und der Sammelband „Immer noch New York“ (Suhrkamp Verlag).

Protokoll: Susanne Kippenberger.

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