Lobbyismus in Brüssel: Europas Machtquartier
Brüssel ist Regierungssitz der EU – und damit ein gigantischer Magnet für Lobbyisten. Einblicke in eine Branche, die gern im Geheimen arbeitet.
Einen besseren Ort hätten sie kaum finden können. Das Büro der Organisation CEO liegt in der Mitte der Rue d’Edimbourg – zwischen zwei Welten. Afrikanisches Leben auf der einen, Bürokratie auf der anderen Seite.
Dreigeschossige, leicht schäbige Wohnhäuser gibt es hier und eine Handvoll Friseursalons mit schwarzer Kundschaft. Die schmale Seitenstraße befindet sich am Rand von Matongé; Brüssels afrikanisches Viertel trägt den gleichen Namen wie ein Ausgehquartier in Kinshasa, Hauptstadt der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo. Ein paar hundert Meter nach rechts, schon steht man zwischen Restaurants, in denen es nach Huhn mit Erdnusssauce duftet, und Läden, die bunte Kleider verkaufen. Ein paar hundert Meter nach links, und man landet in einer gänzlich anderen Sphäre: dem EU-Viertel.
Olivier Hoedeman, einer der Gründer von CEO, beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit Europas Machtzentrale inmitten der belgischen Hauptstadt. Doch er ist froh, nicht im EU-Viertel selbst, sondern bloß in dessen Sichtweite zu arbeiten. „Wir legen Wert darauf, Außenseiter zu sein“, sagt der 47-Jährige. CEO, das steht für „Corporate Europe Oberservatory“. Die Nichtregierungsorganisation dokumentiert, wie Konzerne und Interessenverbände versuchen, Einfluss auf die europäische Politik zu nehmen.
"Das Geschehen in Brüssel ist für die meisten Europäer weit weg, deshalb haben es die Lobbyisten hier einfach, unbemerkt zu wirken“, sagt Hoedeman. „Das muss sich ändern, schließlich bestimmt die EU mehr und mehr, was in den Mitgliedsstaaten passiert.“ Hoedeman, halb Niederländer, halb Däne, ist ein schlaksiger Typ mit kurzen blonden Haaren und sanfter Stimme. Er sitzt in einer Ecke des Großraumbüros von CEO, auf dem Tisch liegt der „Lobby Planet“, ein Heft, das auf den ersten Blick dem Backpacker-Reiseführer „Lonely Planet“ gleicht. Es ist eine Anleitung, das EU-Viertel genauer zu entdecken. Zwar hat jeder die Gegend schon mal im Fernsehen gesehen, doch kaum einer kennt sie wirklich.
Auch nicht die Brüsseler, die sich selten in das Quartier östlich der Innenstadt verirren. Früher war die Ecke beliebt bei der Oberschicht. Heute wohnen hier nicht mehr viele Menschen, egal ob arm oder reich. Büros haben Wohnungen verdrängt, Stahl- und Glasbauten die Jugendstil-Architektur, die das Gebiet einst auszeichnete.
Die gigantischen Gebäude der Kommission und des Parlaments wirken wie gelandete Raumschiffe. Nachts ist es still in den Straßen, am Tag dafür umso belebter: Frauen im Hosenanzug ziehen Rollköfferchen hinter sich her, Männer mit Schlips und Namensschild um den Hals eilen über die Bürgersteige, dazwischen Touristen. Wer aufmerksam ist, kann in wenigen Minuten alle Sprachen der EU hören, sei es Schwedisch, Polnisch oder Italienisch.
Geschätzte 20 000 Lobbyisten
Zwei mal zwei Kilometer misst das Europa-Viertel. Auf dieser überschaubaren Fläche arbeiten 85 000 Menschen: Abgeordnete, Beamte, Sekretärinnen, Übersetzer, Putzkräfte – und schätzungsweise 15 000 bis 20 000 Lobbyisten.
„Die genaue Zahl kennt niemand“, sagt Olivier Hoedeman. „Ein verpflichtendes Lobbyregister existiert noch immer nicht, das ist ein Teil des Problems.“ Wenn Hoedeman oder einer seiner Kollegen einen durch das Viertel mit seiner „extrem konzentrierten politischen Macht“ begleiten, lernt man, genauer hinzuschauen. Und auf Klingelschilder zu achten. Ein Gebäude zu finden, in dem nicht mindestens ein Industrieverband, ein Unternehmen oder eine professionelle PR-Firma residiert, ist schwer. ThyssenKrupp ist ebenso vertreten wie die Londoner City oder die deutschen Bundesländer, Bayern residiert in einer prächtigen Villa direkt hinter dem Parlament.
Auf der anderen Seite, unweit vom Haupteingang des Parlaments, in der Rue d’Arlon 50, befindet sich zum Beispiel das Lobbybüro von Unilever, ein Konzern, zu dem viele Lebensmittelmarken wie Knorr, Lipton, Ben & Jerry’s oder Snickers gehören. Als 2010 über die Einführung der Lebensmittelampel abgestimmt wurde, die angezeigt hätte, wie gesund ein Produkt ist, versandte das Büro flächendeckend Mails an Abgeordnete.
Dabei kam eine gern genutzte Strategie von Industrielobbyisten zum Einsatz: Gewerkschafter vorzuschicken. Betriebsräte warnten die Parlamentarier vor dem drohenden Verlust von Arbeitsplätzen. Die Lebensmittelindustrie investierte, laut CEO, insgesamt eine Milliarde Euro in die Kampagne gegen die Ampel.
Olivier Hoedeman erlebte die Macht der großen Lobbys das erste Mal, als er nach dem Studium der Politikwissenschaft für Umweltverbände arbeitete. „Die Industrie verstand es, für den Ausbau der Autobahnen zu werben, wir hingegen waren mit unseren Ideen immer zu spät dran.“ Also gründete Hoedeman Ende der 90er Jahre mit drei Mitstreitern CEO, zunächst in Amsterdam. Heute hat die Organisation zehn feste Mitarbeiter. Sie finanziert sich durch Spenden.
Hoedeman ist nicht grundsätzlich gegen Lobbyismus, „ich bezeichne mich selber als Lobbyist“, sagt er. Neben der mangelnden Transparenz in Brüssel stört ihn vor allem das Übergewicht der Industrie, die über viel mehr Geld verfüge, um ihre Sicht zu propagieren. Sei es bei schicken Empfängen oder mithilfe eigens in Auftrag gegebener Studien.
Wie der "Drehtür-Effekt" funktioniert
Besonders die Kommission – jene Behörde, in der bisher die Mehrzahl der europäischen Gesetze entsteht – habe außerdem eine zu große Nähe zur Industrie, übernehme von dieser Vorschläge für Gesetzestexte. Um das zu belegen und öffentlich zu machen, drängt CEO auf die Herausgabe interner Dokumente. So kam Hoedeman vor einigen Jahren, es war die Zeit, als man über Warnhinweise auf Zigarettenpackungen stritt, an den E-Mail-Verkehr der Kommission mit Vertretern der Zigarettenindustrie. „Die waren schockierend. Sie haben gezeigt, dass es mehr als ein Dutzend Treffen des Kabinetts Barroso mit Industrievertretern gab.
In den Mails sprach man sich mit Vornamen an, der Ton war sehr freundschaftlich.“ Im Milieu des EU-Viertels kommt es oft zum „Drehtür-Effekt“: Verdiente Beamte wechseln in die Privatwirtschaft und nutzen dort die vorher aufgebauten Kontakte.
Das betrifft nicht nur die Älteren. In den Parks und Cafés des EU-Viertels sieht man viele Frauen und Männer zwischen Mitte 20 und Ende 30. Zur Mittagspause und am frühen Abend durchweht die Gegend an warmen, sonnigen Tagen eine Atmosphäre, als werde hier das europaweite Studenten-Austauschprogramm Erasmus mit anderen Mitteln fortgesetzt. „Die Behörden und Ministerien der Mitgliedsländer schicken gern junge Vertreter nach Brüssel, weil die ungebunden und flexibel sind“, sagt Joost Mulder, 41. Er kennt das EU-Viertel seit vielen Jahren – und kann es aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilen. Der Niederländer hat erst im Parlament und dann als Lobbyist für die Finanzwirtschaft gearbeitet, bevor er die Seiten wechselte.
Heute ist er bei der NGO „Finance Watch“, die sich für mehr Regulierung auf dem Finanzsektor starkmacht. „Die Jungen verlieben sich hier in einen Kollegen oder zumindest in das Lebensgefühl“, erzählt er. „Wird der Abgeordnete, für den sie gearbeitet haben, nicht wiedergewählt oder kommt der Ruf in die Zentrale, wollen die nicht gehen.“
Die Alternative: ein Job als Lobbyist. „Wenn es im Moment eine Branche gibt, die einstellt, statt zu kündigen, dann diese; und die Leute, die vorher in EU-Institutionen angestellt waren, sind meist hoch qualifiziert.“ Mulder hält diese Nachwuchs-Rekrutierung für eine eher harmlose Angelegenheit. Er ist auch nicht einverstanden damit, dass sich Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände immer im Nachteil gegenüber der Industrie sehen: „Die Organisationen der Zivilgesellschaft müssen heraus aus ihrer Komfortzone.“
Was Mulder meint: Diese Lobbyverbände hielten sich zu sehr ans Parlament und an linke Parteien, die ihnen wohlgesonnen sind. Sie sollten verstärkt die Nähe der Kommission suchen.
Nicht zuletzt wegen der steigenden Zahl an Lobbyisten und der neu hinzugekommenen EU-Mitgliedsstaaten ist das Europaviertel gewachsen – und es wächst weiter, vor allem Richtung Matongé. „Am Place de Londres wurde vor elf Jahren, als ich hier ankam, mit Drogen gedealt, heute essen die Leute da Hamburger für 15 Euro.“
Auch im Rest der Stadt stehen Parlamentarier und Beamte der EU für Gentrifizierung; sie haben die Immobilienpreise spürbar nach oben getrieben, ergab vor ein paar Jahren eine Studie der Uni Brüssel. Gleichzeitig ist das Quartier wirtschaftlich für die Stadt ein Segen. Dass Brüssel in Europa mit die höchste Dichte an Lokalen aufweist, mag an der Genussfreude der Belgier wie an den vielen Geschäftsessen liegen.
Zu den ungeschriebenen Regeln, nach denen das Viertel funktioniert, gehört, was Joost Mulder als „soziale Topografie“ bezeichnet. Wer Einfluss nehmen will, muss eine Repräsentanz in der richtigen Nachbarschaft haben. „Ich kenne Leute, die in einem Businesspark am Flughafen sitzen und einmal die Woche ins EU-Viertel fahren, das ist nicht effektiv.“
Mulders Büro befindet sich in der Rue d’Arlon 92, eine gute Ecke, wie er findet, gleich gegenüber hat die „Association for Financial Markets in Europe“ ihren Sitz, eine Lobby von Investmentbanken und Börsenhändlern. „Ich treffe diese Leute hier zufällig auf der Straße oder im Coffee-Shop. Spontane persönliche Begegnungen sind wichtig.“
Zu Besuch bei einer Lobbyistin
CEO hat als neuen Hotspot den Square de Meeûs ausgemacht, einen Platz mit einem rechteckigen Park unweit des Parlaments. Mehr und mehr Lobbyisten hätten sich in den vergangenen Jahren hier angesiedelt, die Gegend um die Kommission verliere an Bedeutung. Das hat wohl mit der Erwartung zu tun, dass das bisher fast machtlose Parlament in Zukunft politisch mehr Gewicht bekommen wird.
Am Square de Meeûs haben – in unscheinbaren Bürobauten aus den 70ern oder 80ern – zwei PR-Agenturen ihren Sitz, die für jeden arbeiten, der sich ihre Dienste leisten kann. Burson Marsteller, spezialisiert auf Imageaufbesserung, habe schon die frühere Militärdiktatur in Argentinien vertreten und unzählige Konzerne, die in Skandale verwickelt waren, so CEO.
Nebenan residiert Fleishman Hillard. Diese Agentur habe damit geworben, im Auftrag von Unternehmen Bürgerinitiativen zu organisieren.
Ein Stopp am Square de Meeûs gehört fest zum Programm der etwa anderthalbstündigen Lobbytour, die CEO ein paar Dutzend Mal im Jahr für Interessierte anbietet. An diesem Dienstagnachmittag hat eine Mitarbeiterin der Organisation mal wieder eine deutsche Gruppe durchs Europaviertel geleitet. Die Teilnehmer sind alle in der Katholischen Jugend, eine Woche verbringen sie in Brüssel; ihr Schwerpunkt ist TTIP, das geplante Freihandelsabkommen zwischen EU und USA. Während der Tour lauschen sie still, sind überrascht und empört. „Wie hier Entscheidungen, die Millionen Menschen betreffen, zum eigenen Vorteil manipuliert werden, finde ich dreist“, sagt ein 23-jähriger Maschinenbaustudent.
Am Tag danach lässt sich beobachten, wie Lobbyismus funktioniert. Die Gruppe bekommt in ihrer Jugendherberge Besuch von einer Vertreterin der deutschen Industrie. Deren Name soll an dieser Stelle nicht genannt werden, die Bedingung für die Teilnahme eines Journalisten war Vertraulichkeit.
Die Lobbyistin hat es an diesem Vormittag zwar nicht mit EU-Beamten zu tun, aber die Jugendlichen wissen mehr als die meisten; in den Tagen zuvor haben sie an einem Planspiel zu TTIP teilgenommen. Die bestens informierte Dame von der Industrie zeigt Powerpoint-Folien und wirkt unaufgeregt. Sie wolle nur „Denkanstöße geben“, sagt sie, spricht von Mittelständlern, die sich gegen chinesische Konkurrenz wappnen müssten, und erklärt zum Thema mangelnde Transparenz: „Wenn Sie Ihr iPhone bei eBay verkaufen, machen Sie den Gewinn, den Sie unbedingt bekommen wollen, auch nicht öffentlich.“
Tapfer bringen die Jugendlichen Einwände gegen TTIP vor und verstummen dann. Sie wirken ein bisschen müde.
Björn Rosen