Die Neuköllner Szene-Geografie ist was für Experten. Der Dämon der Gentrifizierung zeigt sich mal hier und mal dort, es gibt die türkisch-arabischen Hochburgen, die letzten Inseln des Berliner Kleinbürgertums und jene Gegenden, in denen sich leise die Vorhut der Prenzlauer-Berg-Auswanderer zeigt – meist war da immer von „Kreuzkölln“ die Rede, was als Begriff aber auch schon wieder aus der Mode ist. Keiner kann vorhersagen, wie sich das entwickelt. Also wo soll da nun ein aufstrebender Gastronom sein Restaurant aufmachen?
Der beste Weg ist vermutlich, einfach dort hinzugehen, wo es schön ist. Die ehemalige Destillerie auf dem zweiten Hinterhof eines Grundstücks in der Elbestraße ist so ein Fall. Sie heißt nun „Kantine Neukölln“ oder „eins44“ nach dem alten Postzustellbezirk, ganz klar ist das nicht, vermutlich möchte man sich von der recht bekannten Kantine im Rathaus Neukölln abheben, die ja tatsächlich eine ist. Also: Ein stimmiger Raum auf zwei Ebenen, viel Fliesen, Reste der Technik, gut geeignet, den zeitgemäßen „Industrial chic“ zu repräsentieren, aber eben auch hochberlinisch mit guten Aussichten, in sämtliche Reiseführer vorzudringen.
Elbestraße? Die kennt kein Mensch, der da nicht mal gewohnt hat, irgendwie im Windschatten der Sonnenallee, aber überraschend grün und wohl am ehesten dem kleinbürgerlichen Sektor zuzuordnen. Wer abends kommt, kann gleich mit dem Auto vorfahren, hinten durch, wo das Licht besser ist und die Fassade hübsch gestaltet. Hinein: toll. So muss ein aufstrebendes Restaurant aussehen, alles repräsentiert einen gewissen Anspruch, wirkt aber nicht steif.
Dies genau lässt sich auch über die Küche sagen. Das ist der zeittypische Küchenstil, der außer dem pflichtgemäßen regional-saisonalen Akzent kaum noch Regeln kennt und sich vorab auf die Aufzählung der wichtigsten Komponenten beschränkt. Der Gast liest also „Rinderfilet Grapefruit Spargel Koriander“ und kann sich dann seinen Teil denken – oder den Service fragen, der nicht ganz zutreffend eine Art Carpaccio verspricht.
Es kommt würzig gebeiztes, recht dick geschnittenes Fleisch, das nach den Gesetzen der kulinarischen Mode von kontrastreichen Beigaben begleitet wird: der Spargel umgibt in dünnen Scheiben die Grapefruitschnitze, der Koriander kostümiert sich als dezentes Pesto, und eine milde, cremige Soße streichelt den Gaumen – gut. Recht originell ist auch das teils in knusprigen Filo-Teig eingehüllte Stubenküken auf Wildkräutersalat, das typisch für den Stil der Küche ist; es werden ganz sanft asiatische Assoziationen aufgenommen, doch das Gesamtbild bleibt vertraut, mitteleuropäisch konturiert.
Eine Meisterleistung ist das Knurrhahnfilet, weil es so perfekt saftig und leicht glasig auf dem Teller gelandet ist, wie sich das gehört. Aber auch die in diesem Fall mediterrane Begleitung aus Spinat, Oliventapenade und Tomatenkonfitüre gelingt, weil sich die Komponenten nicht im Weg stehen. Dazu gibt es eine Art kleinkugelige Nudeln sardischer Tradition. Ebenfalls sehr gelungen: Die „Schweinerei“, verschiedene, gut gegarte Stücke vom Schwein mit gebackenem Sauerkraut und einem Blutwurst-Kartoffel-Krapfen, angenehm deftig, aber nicht plump.
Schön, dass es bei den Desserts am Ende noch so weitergeht: Der innen flüssige Schokoladenkuchen ist zwar ziemlich old fashioned, schmeckt aber zusammen mit Minzpesto, Granatapfelkernen und Erdbeer-Rhabarber ganz köstlich, und auch der „French Toast“ mit Mandarineneis und ein paar Knusperelementen trifft den Punkt. Nimmt man hinzu, dass drei Gänge hier abends mit nur 33 Euro berechnet werden, während fünf 51 Euro kosten, dann erklärt sich der offensichtliche Erfolg dieses noch sehr jungen Restaurants von selbst.
Auf der Weinkarte stehen gute, aktuelle Namen überwiegend aus Deutschland, im Service und der zeitlichen Abstimmung klaffen noch gewisse Lücken, die sich in den ersten Wochen aber kaum ganz vermeiden lassen. Große Empfehlung!
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