Bosporus-Fahrt in Istanbul: Einmal Asien für 85 Cent, bitte
Umgerechnet kaum einen Euro kostet die Überfahrt mit der Fähre in Istanbul auf dem Bosporus. Dafür gibt es eine halbe Stunde lang Kultur, Geschichte und Natur.
Das Schiffshorn tutet eine Warnung, und auf dem Kai setzen sich die letzten Nachzügler in Trab, um die Fähre noch zu erwischen. Wohl dem, der rechtzeitig an Bord gekommen ist, um sich einen guten Platz zu sichern: auf dem Unterdeck, wo eine weiße Bank an der Außenwand entlangläuft. Nur einen Meter über den Wellen sitzt man hier, den Rücken an die Wand gelehnt, die Füße auf die Reling gestützt, das Gesicht in Sonne und Wind.
Für die Überfahrt nach Asien wählt der Kenner seinen Platz steuerbord, nach Europa sitzt man lieber backbord – der Aussicht wegen. Das Schiffshorn heult dreimal auf, ein Hafenarbeiter macht die Leinen los und die städtische Fähre legt ab zur Überfahrt über den Bosporus – dem besten Sommervergnügen in Istanbul.
Umgerechnet 85 Cent kostet die Überfahrt; dafür gibt es eine halbe Stunde lang Kultur, Geschichte und Natur von Weltklasse und gegen einen kleinen Aufpreis auch ein Glas Tee. Aus dem Maschinenraum dröhnen die Motoren, die Schiffschraube pflügt türkisgrünen Schaum ins blaue Wasser, die Fähre erzittert und gleitet hinaus ins Goldene Horn.
Möwen begleiten das Schiff auf seinem Weg aus dem Fährhafen von Eminönü und schnappen im Flug die Krümel auf, die Passagiere ihnen zuwerfen. Zuweilen tauchen auch Delphine hier auf und schwimmen bis an die Galata-Brücke heran; dann halten Angler, Fischverkäufer und Passanten inne, um ihrem Spiel zuzusehen.
Nach Kadiköy am asiatischen Ufer geht diese Fahrt – die schönste vieler schöner Strecken der städtischen Fährbetriebe, die jährlich über 50 Millionen Passagiere zwischen 50 Anlegestellen herumschaukeln. Auf dieser Strecke fährt das Schiff zunächst durch das Goldene Horn – einen lang gezogenen Zustrom zweier Flüsse, der den europäischen Teil der Stadt entzweit –, überquert dann den Bosporus – eine der beiden Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer – und touchiert schließlich das Marmara-Meer, bevor es am asiatischen Ufer anlegt.
Im Goldenen Horn gleitet die Fähre an der Altstadtsilhouette von Istanbul entlang – die Moscheen, Monumente und Paläste aufgereiht wie auf einem Kaminsims. Vom Logenplatz auf der Schiffsbank sind die großen Sultansmoscheen zu besichtigen – rechts oben auf der Anhöhe die Süleymaniye-Moschee, unten am Wasser die jahrhundertealte Neue Moschee und links oben die Blaue Moschee mit ihren sechs Minaretten – die einzige Moschee von Istanbul mit so vielen Türmen, bis Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sich kürzlich mit einem Prachtbau auf der asiatischen Seite ein Denkmal setzte und es mit sechs Minaretten bestückte.
Für den Kapitän ist Konzentration angesagt
Wer auf der linken Seite des Schiffs sitzt, bekommt jetzt immerhin den Hügel von Pera mit dem Galata-Turm zu sehen. Auf der rechten Seite gleiten die Kuppeln zweier Kirchen vorbei, in denen das Christentum geprägt wurde: die monumentale Hagia Sophia mit ihrem blassroten Anstrich und den später angefügten Minaretten und daneben die Hagia Eirene, die Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert errichten ließ, als er das Christentum von einer obskuren Sekte zur Staatsreligion erhob. In der Hagia Eirene verabschiedete ein ökumenisches Konzil im Jahr 381 das christliche Glaubensbekenntnis, das bis heute alle Kirchen der Welt eint. In der Hagia Sophia vollzog sich im Jahr 1054 der kirchliche Bruch zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen, der die Christenheit bis heute trennt.
Die Altstadthalbinsel endet in einer grünen Wolke von Bäumen am Gülhane-Park, aus dem die Türmchen des Topkapi-Palastes aufragen. Das Schiff fährt jetzt aus dem Goldenen Horn hinaus ins offene Gewässer. Für den Kapitän oben auf der Brücke ist Konzentration angesagt. Quer zur Fahrtrichtung kreuzen Frachter und Tanker aus aller Welt auf ihrem Weg durch die Meerengen – sie werden oft von Schleppern begleitet und haben auf der internationalen Wasserstraße unbedingte Vorfahrt, ebenso wie die Kriegsschiffe und gelegentlichen U-Boote. Zwischen den Kontinenten fahren quer dazu die Fähren hin und her – außer den städtischen Passagierfähren auch Autofähren und private Linien. Dazwischen schippern Fischerboote, Ausflugsschiffe, private Jachten, Müllräumschiffe und gelegentliche Segler herum.
Seit Jahrtausenden setzen Menschen hier über den Bosporus, mindestens seit die Stadt Byzanz vor zweieinhalb Jahrtausenden auf dem europäischen Ufer gegründet wurde; der asiatische Stadtteil Kadiköy ist noch älter. Bis vor knapp 50 Jahren gab es keinen anderen Weg über die Meerenge – bis 1973 die erste Brücke über den Bosporus eröffnet wurde. Ältere Istanbuler erinnern sich noch an die Dringlichkeit, mit der abends die letzte Fähre erreicht werden musste – war sie schon abgefahren, musste man über Nacht bleiben.
Das Schiff fährt weiter auf die Prinzeninseln
Inzwischen gibt es drei Brücken und zwei Tunnels, doch die städtischen Fähren sind immer noch gut ausgelastet; denn Hunderttausende Pendler zwischen den Kontinenten sitzen zur Stoßzeit lieber auf der Fähre als im Stau auf der Brücke oder in einem Tunnel unter dem Meer.
Im Bosporus dreht die Fähre nun leicht nach rechts und umrundet die Altstadthalbinsel auf der anderen Seite, die dem Goldenen Horn abgewandt ist. Dem Betrachter bietet sich hier ein einzigartiges Panorama von Istanbul – eine spektakuläre Aussicht auf die Altstadt, wie sie die teuersten Hotels der Stadt nicht bieten können, weil sie nur vom Meer aus zu sehen ist. Die Blaue Moschee, die Hagia Sophia und der Topkapi-Palast stehen aus dieser Perspektive am Ufer nebeneinander. Dann wendet die Fähre nach Osten ab und nimmt Kurs über das Meer nach Kadiköy; die Altstadt verschwindet allmählich in der Ferne.
Eine Viertelstunde später legt die Fähre schon im Hafen von Kadiköy auf dem asiatischen Ufer an. Manche Passagiere bleiben sitzen, denn das Schiff fährt weiter auf die Prinzeninseln – knapp eineinhalb Stunden dauert die Überfahrt in das Naherholungsgebiet von Istanbul.
Die übrigen Passagiere strömen von Bord, um sich in Kadiköy zu verlieren. Hier gibt es neben eigenen Sehenswürdigkeiten aus mehreren Jahrtausenden auch zahllose Kneipen, Bühnen und eine bekannte Fressmeile zu besuchen – der Stadtteil hat sich in den letzten Jahren zum Partyviertel von Istanbul entwickelt. Alternativ kann man auch einfach das nächste Schiff zurück besteigen, sich wieder rechts hinsetzen und auf der Rückfahrt den Leanderturm, die erste Brücke über den Bosporus und die Paläste am europäischen Ufer bewundern.