Verstecke im Essen: Ein falscher Hase
Der Hackbraten ist ein Klassiker, mit Ei oder ohne – die Fantasie kennt keine Grenzen. Es ist überhaupt erstaunlich, was so alles im Essen versteckt wird.
Im Verstecken war unsere Familie Weltmeister. Unser Vater pflegte die Ostereier so geschickt und eimerweise im weitläufigen Garten und angrenzenden Wäldchen zu verteilen, dass wir sie manchmal erst Wochen später fanden. Oder nie.
Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach: Das sicherste Versteck für ein Osterei ist der Hackbraten. Man sieht es nicht, findet es aber auf jeden Fall, die essbare Verpackung ist genial, und man merkt gar nicht, dass es sich hier um einen geschickten Fall von Resteverwertung handelt. Denn so groß die erste Freude über die bunten Nester ist, spätestens übermorgen mag niemand mehr hart gekochte Eier essen.
Normalerweise ist der Osterhase ja derjenige, der die Eier erst anmalt und dann versteckt. In diesem Fall scheint er sie erst gepellt und dann im Ganzen verschluckt zu haben. Warum der gefüllte Hackbraten Falscher Hase heißt, dazu gibt es keine verbürgte Geschichte. Es war halt der Sonntagsbraten für jene, die sich einen echten Hasen nicht leisten konnten. Abgesehen vom Leib (dem freilich das wichtigste, die großen Ohren, fehlen) erschöpft sich die Ähnlichkeit in der trüben Farbe, die in merkwürdigem Kontrast zum bunten Frühling steht. Selbst das köstlichste Ochsenschwanzragout, die sahnigste Mousse au Chocolat ist ästhetisch betrachtet ja kein Hit. Braunes Essen wirkt immer dumpf und stumpf.
Vielleicht ist das der Grund, warum irgendjemand irgendwann ein Ei (oder zwei, drei) ins Gehackte packte: Damit es einem wenigstens beim Aufschneiden entgegen leuchtet. Kulinarisch betrachtet macht das Ganze keinen Sinn, wie Sternekoch Kolja Kleeberg anmerkt: In der Stunde, die das Fleisch im Ofen brät, werden die Eier nicht besser, nur härter.
Der Falsche Hase ist nicht allein in der Welt. Das Faux Filet gibt es bestimmt genauso lange, die mock turtle soup ebenso, in der nie eine Schildkröte schwamm, sondern ein Kalbskopf. (Aber so genau will man das vielleicht gar nicht wissen.) Und doch scheint hinter dem Bratenersatz ein besonders deutsches Konzept zu stecken. „Ersatz“, um dieses Wort beneiden uns die Angelsachsen so sehr, dass sie es, zusammen mit Bratwurst, Blitzkrieg und Gemütlichkeit, dem eigenen Sprachschatz einverleibten. Die Franzosen mögen die Haute Cuisine erfunden haben, die Deutschen dagegen, so die Botschaft, haben es in Kriegszeiten zur Weltmeisterschaft gebracht. Anstelle von Bohnenkaffee gab es Zichorie, Margarine ersetzte gute Butter, gesüßt wurde mit Rübenzucker und für den Rest musste die Steckrübe herhalten.
Keine Frage, Improvisation und Fantasie waren beim Kochen schon immer so wichtig wie die Zutaten selbst. (Wobei man gerade bei sensiblen Lebensmitteln wie Hack und Ei nur zu bester, frischester Ware greifen sollte.) Beim Falschen Hasen kann man sich experimentell regelrecht austoben. „Meat Loaf“, so liest man auf Chefkoch.de, „ist mehr eine Idee als ein festes Rezept.“ In der amerikanischen Version kommen oft neben Semmelbröseln und rohem Ei noch Lauch, Stangensellerie oder Karotte (wegen der frischen Farbe auch als Beilage geeignet), gedünstet oder blanchiert, ins Hack. „Jedes Gemüse kann auch durch ein anderes ersetzt werden, Nüsse auch. Würzen nach Gusto“, empfehlen die Chefköche, „asiatisch, ungarisch, italienisch.“
Für Hackbraten gibt es wahrscheinlich so viele Rezepte wie Familien. Die einen schwören auf Senf und Estragon, die anderen auf viiiel Petersilie, Thymian oder Majoran, manche geben noch einen Klecks saure Sahne und Tomatenmark hinein. Statt zu Rind und Schwein kann man auch zu Lamm greifen, das harte Ei durch Schafskäse und Oliven ersetzen... Kolja Kleebergs Großmutter gab Zitronenschale hinzu, der Berliner Koch selbst würzt gern mit Kreuzkümmel, lässt das harte Ei weg und serviert stattdessen ein weich pochiertes zum Braten, den er in einer Pastetenform gart.
Man kann auch ein ganzes Blech mit Hack füllen, das ist Teil der großen Flexibilität und Attraktivität dieses Hasens, der sich gut vorbereiten lässt. Wenn man will, kriegt man ziemlich viele Leute damit satt. Die Reste gibt’s dann kalt aufs Butterbrot. Mit anderen Worten: das ideale Familienessen. Kein Wunder, dass er für viele nach Kindheit schmeckt, zum Inbegriff von „comfort food“ wurde.
„Ich liebe Hackbraten“, verriet die Schriftstellerin und Filmemacherin Nora Ephron, die ihren eigenen immer mit einer Packung Zwiebelsuppenmischung würzte, „Hackbraten gibt einem das Gefühl, zu Hause zu sein.“ Im Restaurant steht er eher selten auf der Speisekarte. Außer in der angesagten New Yorker Monkey Bar, die ein Freund von ihr betrieb. Dort trug der Braten sogar ihren Namen, war außen knusprig und innen weich (gut möglich, dass er vor dem Garen mit der in Amerika populären Mischung aus Ketchup und braunem Zucker bestrichen wurde) und wurde mit einer phantastischen Pilzsauce serviert. Bis es mit dem „Meat loaf Nora“ abwärts ging, er schließlich ganz von der Karte verschwand, wie Ephron in ihrem hinreißend komischen Text „Mein Leben als Hackbraten“ erzählt.
Im Vergleich zu den Steckrübenkriegszeiten leben wir heute im Schlaraffenland. Trotzdem blüht die Kultur des Als-Ob so heftig wie nie, und das auf allen Niveaus, vom Fast-Food-Lokal bis zur Molekularküche, die bekanntlich alles auseinander nimmt, um es dann völlig neu zusammenzusetzen, und zwar so, dass man es möglichst nicht wiedererkennt: Der britische Drei-Sterne-Koch Heston Blumenthal serviert Bacon and Eggs als Eiscreme. In Berliner Cafés kommt der „Latte“ ohne Kuhmilch aus, die Amerikaner stürzen sich auf griechischen Joghurt ohne Fett. Man möchte lieber nicht wissen, woher der seine sahnige Cremigkeit bezieht. Beim Discounter kriegt man auch „Geflügelwurst“, die zu großen Teilen aus Schweinefleisch besteht, und der Analogkäse tut nur so, als sei er Camembert.
Beim Einkauf im Supermarkt empfiehlt es sich daher, das Kleingedruckte auf den Packungen zu lesen, damit man weiß, was sich darin alles versteckt. Keine Eier, aber jede Menge Zucker, Fett und Chemie. „Die Suppe lügt“ heißt der Klassiker von Hans-Ulrich Grimm von 1977, der gerade wieder in einer aktualisierten Auflage erschienen ist. In der Lebensmittelindustrie wird bekanntlich geschummelt, dass es nur so kracht – Rind entpuppt sich als Pferd, Balsamico verdankt seine braune Farbe der Zuckercouleur. Nicht nur Not, auch Gier und Geiz machen erfinderisch.
Im Vergleich dazu ist der gute alte Falsche Hase eine ehrliche Haut: Er gibt nicht vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Natürlich gibt es auch für ihn ein Imitat, ein vegetarisches, das in der Regel mit vielen Nüssen und noch mehr Semmelbröseln gemacht wird. Überhaupt hat der Vegetarier-Boom eine Fülle an Ersatz-Speisen hervorgebracht, vom Tofuburger bis zum Seitanschnitzel. Komisch, dass man imitiert, was man ja gerade nicht essen will. Auch der Vegetarier sehnt sich offenbar nach der eierlegenden Wollmilchsau.
Aber die fleischlose Küche hat an Originalität zugelegt, eine Flut von Kochbüchern zeigt, wie es geht, während die Molekularküche ihren Höhepunkt überschritten hat: Ferran Adrià hat sein Restaurant geschlossen, um es demnächst als Museum wieder zu eröffnen. Heute ist eher ehrliche Küche gefragt, regionale und saisonale Zutaten, so zurückhaltend zubereitet, dass man noch erkennen kann, was da auf dem Teller liegt. Und die ArmeLeute-Küche, populär wie nie, ist in der gehobenen Gastronomie angekommen: Tim Raue offeriert Königsberger Klopse.
„Wenn das der beste Koch der Welt ist“, klagte Wolfram Siebeck vor Jahren nach dem Besuch von Heston Blumenthals „The Fat Duck“, „dann bin ich eine Bratwurst.“ Dass die kulinarische Mimikry nicht vor den Kritikern halt macht, hat Siebecks Kollegin Ruth Reichl auf besonders originelle Weise bewiesen. Während ihrer Zeit als Kritikerin der „New York Times“ legte sie sich für jeden Restaurant-Test-Besuch eine andere Identität einschließlich Outfit und Perücke zu, um so verkleidet möglichst authentische Eindrücke zu sammeln. Und in der Tat: Als Molly, Lehrerin aus Michigan, wurde sie im Luxuslokal behandelt wie eine lästige Touristin, als Ruth Reichl wie eine Kaiserin hofiert. Der deutsche Titel ihrer Erinnerungen: „Falscher Hase“. Eine ebenso amüsante wie lehrreiche Lektüre zum Nachtisch, wenn man keine Eier mehr sehen kann.
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