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Seeadler in Sicht? Eine Aussichtsplattform ist bei einer "Inselsafari" immer mit an Bord.
© Thilo Rückeis TSP

Gesellschaft: Durchs wilde Usedom

Selbst wenn sich in der Hochsaison die Urlauber am Strand drängeln, sind Ruhe und Natur nicht weit. Bei einer Inselsafari erkundet man Usedoms Hinterland vom Geländewagen aus.

Am Strand von Heringsdorf sitzen die Möwen in Reihen, hinter ihnen stehen die noch verschlossenen Strandkörbe, es ist früh am Tag. Die Wellen der Ostsee rollen im trägen Takt auf den Sand. Vor dem Hotel St. Hubertus fährt ein safarigrüner Land Rover vor. Gunnar Fiedler winkt durch die Scheiben. Ich quetsche mich auf die Rückbank. „Passt das mit den Haxen?“, fragt er, ein von Wind und Sonne rotbraungebrannter Abenteurertyp. „Passt“, antworte ich. Muss passen, schließlich will ich die „Inselsafari“ miterleben, eine Tour im Geländewagen durch das Hinterland von Usedom - zu Wäldern, Seen, Mühlen, Schlössern und dem Achterwasser, der großen Lagune, in die sich der Peenestrom ergießt. Ein Paar aus Düsseldorf und drei Schweizerinnen sind an Bord. Es ist so eng und ungemütlich, wie es bei einer Safari sein muss.

„So Kinners, nu' geht das Offroad“, ruft Gunnar Fiedler gegen das Motorengeräusch an und lässt den Allradgang reinschnarren. Wir ruckeln los, vorbei an weiß getünchten Villen, über die Gleise der Bäderbahn hinweg und hinaus aus der Stadt auf einem Sandweg, der bald zu einem Erdweg wird. Gunnar Fiedler stoppt. „Will jemand aufs Dach?“, fragt er. Zu dritt klettern wir die Metallsprossen hoch und setzen uns auf die Riffelblech-Terrasse, die von einer flachen Reling umgeben ist. „Wenn ich anhalten soll, einfach zwei Mal klopfen und wenn ihr runtergefallen seid drei Mal!“, scherzt er auf die trocken-launige Art der Küstenmenschen und fährt vorsichtig weiter in einen dichten Wald aus Kiefern, Buchen und Eichen. Die Luft ist kühl, die Sonne wirft einzelne Lichtpunkte auf den Waldboden. Wir ducken uns unter niedrig hängenden Zweigen hinweg.

Sumpfgebiete bedeckten einst weite Teile Usedoms, sogar Auerochsen lebten in ihnen. Reste davon liegen heute noch versteckt im Wald.
Sumpfgebiete bedeckten einst weite Teile Usedoms, sogar Auerochsen lebten in ihnen. Reste davon liegen heute noch versteckt im Wald.
© Thilo Rückeis TSP

Usedom, die zweitgrößte deutsche Insel, sitzt mit ihrer polnischen Zwillingsinsel Wollin wie ein Kronkorken auf den Mündungen von Oder und Peene, trennt das Stettiner Haff und den Peenestrom mit dem Achterwasser von der Ostsee. In Scharen kommen die Urlauber im Sommer hierher, zum Baden und Spazieren an kilometerlangen Sandstränden und zum Flanieren auf den Promenaden der Kaiserbäder mit ihren pompösen Villen und Seebrücken. Mehr als eine Million Hotelgäste kommen jedes Jahr auf die Insel, dabei sind die Urlauber, die in Ferienwohnungen, auf Campingplätzen oder kleinen Pensionen übernachten, noch gar nicht mitgerechnet. Gerade im Sommer sind die Kaiserbäder und beliebtesten Badeorte überfüllt, verstopfen lange Autokolonnen die Verbindungsstraßen. „Wenn die Küste aus allen Nähten platzt, fahren wir mit unseren Gästen ins Achterland, wo man schnell wieder seine Ruhe hat“, sagt Fiedler.

Wir sollen aussteigen und vom Dach runterklettern. Fiedler erklärt uns den Fußweg zum Wolgaster See und fährt davon. Plötzlich ist es ganz ruhig um uns herum, nur der Wind streift durch die Blätter. Wir spazieren durch den Wald, gelangen zum Ufer des Sees, der glitzernd und verlassen daliegt. Birken und Schwarzerlen ragen wie Palmen an einem Karibikstrand übers Wasser, liegen umgestürzt am Ufer. Libellen schwirren im Tiefflug. Unser Guide wartet am anderen Seeufer mit einer Kanne Kaffee auf der Motorhaube. Ein Viertel Usedoms, erzählt er, sei bewaldet, 14 Schutzgebiete gebe es auf der Insel. Bei seinen „Safaris“ fährt er so nah wie möglich an sie heran und lässt seine Gäste immer wieder aussteigen, damit sie die Naturräume der Insel kennenlernen, versteckte Badestellen am Achterwasser, verschlafene Dörfer und restaurierte Mühlen. Die Touren sind eine sorgfältig abgestimmte Kombination aus Spaziergängen und Fahretappen, bei denen Gunnar Fiedler kurzweilig die ganze Insel erklärt. Die Nachfrage ist so hoch, dass im Sommer oft drei Geländewagen gleichzeitig unterwegs sind. „Wir fahren nie alle auf derselben Route, die Fahrer entscheiden meist spontan, wohin die Reise geht“, sagt Fiedler.

Die alte Dorfkirche von Mellenthin.
Die alte Dorfkirche von Mellenthin.
© Thilo Rückeis TSP

Es geht weiter Richtung Osten. Wir queren einen Graben, der mit einer dichten Schicht grüner Wasserlinsen überzogen ist. Er zeugt von großen Entwässerungsprojekten zur Regierungszeit Friedrichs des Großen. Ausgedehnte Sumpfgebiete, in denen bis ins 16. Jahrhundert sogar Auerochsen lebten, wurden damals trockengelegt, metertiefe Moore in Weideland umgewandelt. „Zu DDR-Zeiten wurde diese Politik weitergeführt“, sagt Fiedler. „Heute versucht man Teile des Weidelands zu renaturieren.“

Grenzpfeiler stehen im Wald. Wie die Nachbarinsel Wollin gehört auch der östlichste Teil Usedoms zu Polen, hier verläuft die Grenze. Ein Schuss fällt. Grenzer? „Nein, Wildschweinjagd“, sagt Fiedler. „Wir haben auf Usedom ausgezeichnetes Wildfleisch, das weiß nur keiner, weil alle immer nur Fisch essen wollen.“ Er erzählt von der Usedomer Fischerei, dass es noch 23 Berufsfischer auf der Insel gibt, aber nicht genügend Fisch in der Ostsee, um die Nachfrage zu stillen. „Die meisten Urlauber kaufen an der Theke Butterfisch oder so aus Afrika. Wer Ostseefisch haben will, muss gezielt nachfragen und zur richtigen Zeit.“ Nach Heringen ab April, nach Hornhechten ab Mai, im Sommer nach Zander und fetten Flundern, im Herbst nach Barsch. „Hecht und Dorsch gibt es das ganze Jahr über.“

Auf einem Betonplattenweg geht es durch Felder, auf denen sich dicke Weizenähren und tiefgelbe Haferrispen im Wind neigen. Wir biegen in einen kleinen Feldweg ein, auf dem man als Nichteinheimischer sich nicht zu fahren trauen würde - und ohne Geländewagen wohl auch nicht sollte. Am Armaturenbrett zittern zwei Federn im Rhythmus der Schlaglöcher, eine lange schwarze von einem Adler, die Fiedler am Stettiner Haff gefunden hat, und eine graue von einer Straußenfarm im nahen Pudagla. Nach der Hochsaison im Herbst, wenn die Touristenmassen die Insel verlassen haben, findet er Zeit, um mit seiner Familie oder ein paar Freunden das Usedomer Hinterland zu durchwandern, im eigenen Tempo ohne Land Rover und Touristen, nur ein paar Stullen und eine Thermoskanne im Gepäck. Und im Winter versucht er so oft es geht den Rucksack zu packen und in die Welt zu reisen, nach Thailand, Laos, Kambodscha, Südamerika. „Aber immer, wenn ich wieder nach Hause komme, merke ich, wie schön wir es auf Usedom haben und welche Vielfalt hier auf kleinstem Raum existiert.“ Es geht auf und ab durch Senken und über dicht bewaldete Hügel. „Jetzt sind wir im Usedomer Mittelgebirge, hier befinden sich die meisten unserer 5000er“, sagt Fiedler und lacht - „zumindest wenn man in Zentimetern rechnet.“

Gegen Mittag setzt er uns noch einmal aus. Wir spazieren durch Weiden zu einem Campingplatz oberhalb des Schmollensees, der mitten im dichten Wald liegt. Der Tisch ist reich gedeckt, als wir ankommen. Fiedler hat eine Brotzeit mit Schinken, Wurst, Käse und selbstgemachtem Birnen-Quitten-Kompott vorbereitet. Die längeren Touren enden mit Fischgrillen am Lagerfeuer.

Unten am Schmollensee lassen wir die Beine vom Steg baumeln und halten Ausschau nach Seeadlern. „Kurz nach der Wende gab es noch drei Brutpaare auf der Insel, heute sind es wieder 23“, sagt Fiedler und scannt den Waldrand mit einem Feldstecher ab. Doch wir haben kein Safari-Glück. Nur zwei Schwäne dümpeln vorbei und eine Familie Blässrallen.

Eine hügelige Naturlandschaft bei Benz.
Eine hügelige Naturlandschaft bei Benz.
© Thilo Rückeis TSP

Für eine Weile verlassen wir nun die Natur und fahren durch das kleine Örtchen Benz, wo eine von einer Mauer umgebene Feldsteinkirche am Wegesrand steht. „Die kann man auch im Museum of Modern Art in New York anschauen, dort hängt ein Bild von Lionel Feininger, der sie oft gemalt hat“, sagt Fiedler. Der deutsch-amerikanische Maler und spätere Bauhaus-Künstler verbrachte ab 1908 oft seine Urlaube auf Usedom und unternahm ausgedehnte Radtouren durch das Achterland. Heute kann man auf einer touristischen Feininger-Route die Orte wiederentdecken, die der Künstler damals auf seinen Skizzen und Gemälden verewigte.

Wir fahren vorbei an kuscheligen Häuschen mit Schilfdächern, Fachwerk und blauen Fensterläden, Backsteinscheunen und Bausünden der Nachwendezeit. Und halten vor einer pechschwarzen, rechteckigen Mühle, der Bockwindmühle Pudagla. Sie wurde im 18. Jahrhundert erbaut, 1936 geschlossen und 1997 saniert. „Es gab mal mehr als 20 Mühlen auf der Insel, heute sind nur noch vier davon erhalten“, sagt Fiedler. „Sie ist wieder funktionstüchtig, die Flügel werden an manchen Tagen aufgetucht und drehen sich dann im Wind.“ Wir steigen eine Holztreppe hinauf ins Innere, wo alles originalgetreu nachgebaut wurde und dicke Mühlsteine aufeinanderliegen. Aus dem Fenster schaue ich weit über das flache Land bis zum Achterwasser.

Ein letztes Mal setzt Gunnar Fiedler uns aus. Über Sand und Baumwurzeln wandern wir zu einem schmalen Sandstrand, der dünengesäumt in einer Bucht am Achterwasser liegt. Nur wenige Leute liegen in der Sonne, zwei Surfanfänger üben in der wellenlosen Bucht, sich auf dem Board zu halten. Ich springe ins blaugrüne Wasser, das wärmer ist als die Ostsee und spiegelglatt, und schwimme dem Festland entgegen. Vor mir springen kleine Fische in die Luft.

Die im Jahr 1997 restaurierte Bockwindmühle von Pudagla.
Die im Jahr 1997 restaurierte Bockwindmühle von Pudagla.
© Thilo Rückeis TSP

Als die Sonne schon tief steht, fährt Gunnar Fiedler mit uns zum Kuckelsberg bei Benz. Ein Mauswiesel huscht davon, ein Bussard steht im Rüttelflug über einer Wiese, ein Reh springt nach Antilopenart neben dem Auto her und flüchtet kurz darauf in den Wald. Für einen Moment fühle ich mich tatsächlich wie auf einer Safari. Gunnar Fiedler parkt das Auto am Fuße des Kuckelsbergs, „fast ein 6000er“, wie er betont. Wir steigen an der Südflanke hoch bis zum Gipfel und auf einen Aussichtsturm, der sich über den Bäumen erhebt. Warmer Wind pfeift uns um die Ohren. Unter uns färbt sich das Usedomer Achterland golden, aus den Wiesen und Bäumen erklingt das Zirpen eines Sommerabends und irgendwo am Horizont ist ein kleines Eckchen Ostsee zu sehen.

Mirco Lomoth

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