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Girls’ Generation ist die populärste Girlgroup aus Südkorea. Leider passen nicht alle acht Mitglieder auf dieses Bild.
© AFP

Musikphänomen K-Pop: Die verrückte Welt des Seoul-Pop

Millionen Fans in Asien denken bei Südkorea vor allem an eines: perfekt produzierte Musik. Aus dem Land kommt K-Pop, von dem Europa kaum Notiz nimmt. Eine Stippvisite vor Ort.

Big Bang? Got7? Exo? In Berlin lösen diese Namen Schulterzucken aus, in Seoul Hormonschübe. So heißen die erfolgreichsten Boybands der K-Pop-Welle, Pop aus Korea, der seit 15 Jahren phänomenalen Erfolg in ganz Asien mit eingängigen Liedern feiert.

Was einmal als Kopie amerikanischer Boybands begann, hat sich zu einer eigenen Jugendbewegung in Korea, Japan, Thailand, China, Malaysia, Indien, Vietnam entwickelt. Es ist vermutlich die größte Umwälzung des globalen Musikmarkts in den vergangenen zehn Jahren – und die erste, die fast komplett am Westen vorübergeht.

Wenn es eine Stadt gibt, die für den Aufstieg des K-Pop steht, ist es Seoul. In der Hauptstadt Südkoreas haben die drei K-Pop-Giganten, die Unterhaltungsfirmen SM, YG und JYP, ihren Sitz. Zusammen erwirtschafteten sie 2015 einen Umsatz von fast 500 Millionen Dollar. Der einheimische Musikmarkt ist dank ihnen der achtgrößte der Welt (Deutschland Rang drei), vor zehn Jahren lag er noch abgeschlagen auf Platz 33.

Hologramm-Konzerte für Fans

In der Zwölf-Millionen-Metropole wurden in den frühen 90er Jahren die ersten Bands erdacht, hier leben beinahe alle K-Pop-Stars – und hierher pilgern die Fans, um ihren Idolen nahe zu sein. Wie ins Einkaufszentrum Lotte an der Design Plaza.

In der neunten Etage treten gleich die sieben Jungs von Got7 auf. Nun ja, sie sind es nicht wirklich, auf eine Kinoleinwand sind Hologramme von ihnen projiziert, lebensechte Abbildungen in 3D, die vorgeben, mit dem Publikum zu kommunizieren, für sie zu singen und zu tanzen und ihnen zuzuzwinkern.

Fast wie Haarewuscheln

May und Nam kreischen trotz Simulation los, als stünde die Boyband leibhaftig vor ihnen. Die beiden 19-jährigen Mädchen kommen aus Pattaya in Thailand und reisen mit dem Rucksack durch Korea. Sie zappeln auf ihren Sitzen, strecken ihre Hände der Leinwand entgegen, singen laut mit, als die schlanken Jungs mit den blond oder rötlich gefärbten Haaren vor ihnen herumwirbeln.

Am Ende wirken die Studentinnen so aufgelöst, als hätte ihnen jedes Bandmitglied persönlich durch die Frisur gewuschelt. Die Mädchen haben noch nie ein Konzert von Got7 besucht, zu teuer seien die Tickets, aber für die Hologramm-Show ihrer Band haben sie die 30 Euro gespart.

Soft Power K-Pop

K-Pop ist eine Marke für das wirtschaftlich aufstrebende Land geworden – wie Samsung für Smartphones und Hyundai für Autos. Das hat auch die Regierung längst erkannt. Sie fördert die Musik mit Steuergeldern, im Kulturministerium gibt es eine eigene Abteilung für die perfekte Massenware. Präsidentin Park Geun Hye lässt sich gern mit der Boyband Exo fotografieren, laut „Forbes Korea“ die derzeit einflussreichsten Prominenten des Landes.

Über Grenzen hinweg vereint die Musik Menschen, ist erfolgreicher als manche Diplomatie. Das Verhältnis zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern Japan und Korea ist entspannter, seit Bands wie Big Bang im Inselstaat Megastars sind. An der Grenze zu Nordkorea spielen Grenzsoldaten nicht nur Propagandanachrichten per Lautsprecher in das kommunistische Land hinüber, sondern auch K-Pop. Überläufer erzählen, wie beliebt die offiziell verbotene Musik im Norden sei.

Karl Lagerfeld und G-Dragon

20 Uhr, Donnerstagabend, als Hologramm tritt nun die erfolgreichste Boyband der Welt vor 20 Zuschauern im Lotte auf. Und das schon zum dritten Mal an diesem Tag. Big Bang haben 79 Millionen Platten verkauft, ihre britische Konkurrenz One Direction nur 70 Millionen. Die fünf jungen Männer singen ihren Hit „Fantastic Baby“, eine auf Koreanisch produzierte Elektro-Hymne mit Rap-Einsprengseln und gelegentlichen Englischbrocken wie „Dance dance dance dance“.

Sänger G-Dragon tanzt in einer goldbestickten Uniformjacke, die er vielleicht von Karl Lagerfeld bekommen hat. Der Designer lädt den Popstar regelmäßig auf die Modenschauen von Chanel in Paris ein. Rapper T.O.P. brüllt „Boom-shakalaka“, und die japanischen Damen in Reihe eins schauen gebannt auf die Leinwand vor ihnen.

Protzige Denkmäler und püppchenweiße Haut

Ein Denkmal für einen Hit: "Gangnam Style".
Ein Denkmal für einen Hit: "Gangnam Style".
© Lippitz

Um das Phänomen K-Pop noch besser zu ergründen, fährt man am besten mit der Bahn über den Han-Fluss hinüber und steigt an der Coex-Mall im Stadtteil Gangnam aus. Dem größten Poperfolg Koreas ist dort seit Kurzem eine besondere Scheußlichkeit gewidmet: ein überlebensgroßer Händegriff in Gold.

Im April dieses Jahres wurde die 5,30 Meter mal 8,30 Meter große Bronzeskulptur eingeweiht. Sie soll 420 Millionen Won (320 000 Euro) gekostet haben. Sie zeigt zwei übereinander geschlagene Hände. Könnte der Griff sein, mit dem Reiter ihre Pferde zügeln.

Vor vier Jahren war dieser Handgriff überall. Der koreanische Sänger Psy ließ ihn für seinen Hit „Gangnam Style“ als Teil seiner Choreografie entwickeln. Ein Reiter-ohne-Gaul-Tanz. Das Lied wurde ein Überraschungserfolg auf der ganzen Welt, Nummer eins in den Charts von 30 Ländern und ist nach wie vor mit 2,5 Milliarden Klicks das am meisten gesehene Video auf YouTube.

Zum ersten Mal wurde es Europa und den USA klar, dass es im Rest der Welt ein Phänomen namens K-Pop gibt. Deshalb steht dieses Denkmal hier: als protzige Erinnerung an einen kulturellen Feldzug.

Das Beverly Hills von Seoul

Gangnam ist durch den Hit über Nacht bekannt geworden. „Beverly Hills von Seoul“ nennen die Einwohner das Viertel mit den breitspurigen Einkaufsstraßen, mit von Cafés und Schönheitskliniken besetzten Seitengassen, in denen europäische Automarken parken.

Die 500 000 Einwohner zählen zu den wohlhabendsten der koreanischen Halbinsel. Das ist nicht zu übersehen auf dem Apgujeong-Boulevard. Die Frauen tragen Gucci, Balmain und dazu Schirme – damit ihre püppchenweiße Haut keine Sonne bräunt. In Seoul gilt Englands altes Motto: Blässe ist nobel.

Eine Erlebniswelt für Popper

In Gangnam sitzen zwei der großen Player des K-Pop, JYP und SM Entertainment. Letztere Firma hat gleich hinter der goldenen Psy-Statue eine Erlebniswelt errichtet. Vor einem Jahr wurde SM-Town eröffnet, ein hauseigenes Museum. Nicht nur aus Japan oder China kommen die Besucher, auch aus Lateinamerika und dem Nahen Osten.

Für 28 Euro können sie an einem Rundgang durch die Musikstudios teilnehmen, das Fotoatelier und die Kostümanprobe besichtigen. Im Schönheitssalon sitzt gerade eine Mexikanerin und lässt sich in ein koreanisches Schulmädchen mit Zöpfen verwandeln. Eineinhalb Stunden Styling kosten 150 Euro. Wenn sie noch einmal denselben Betrag obendrauf legt, kann die Latina zwei Stunden mit einem Gesangstrainer üben.

Nagelöl oder Kopfmassagegerät?

Von solchen Möglichkeiten träumen die Teenager im ersten Stock nur. Dort öffnet der Fanshop seine Glastüren all jenen, die kein Geld für die Welt in den oberen Etagen haben – oder weniger Zeit. Wie Ga und Tung, die gerade von einem Schulausflug ausgebüxt sind. Die beiden 18-Jährigen kommen aus Namyanggjun, eine Stunde mit dem Zug entfernt, und haben sich mit der Klasse das Olympiastadion in der Nähe angesehen. Danach sind die Freundinnen schnell mit der U-Bahn zu SM-Town gefahren.

Jetzt irren sie durch die Gänge des Ladens, übermannt von Produktpalette und Hormonausschüttung. Es gibt Raumdüfte, Süßigkeiten, Papierspielzeugfiguren, Nagelöle, Kissenbezüge, Fanbücher und sogar Kopfmassagegeräte der Stars. Ga und Tung sind unfähig, eine Kaufentscheidung zu treffen.

Das Plakat vom hübschen Sänger der Band Shinee? „Oh oh“, jauchzt Tung, lange schwarze Haare, etwas fülliger als die Modelmädchen dort draußen in der Coex-Mall. Oder doch das Fotobuch von Exo? „Ja ja“, gackert Ga, schwarze Haare, Zahnspange und so schüchtern, dass sie jeden Satz mit einem hysterischen Lachen beendet.

Knochenarbeit für den Erfolg

Die Boyband Exo verursacht bei weiblichen Teenagern momentan starke Hormonschwankungen.
Die Boyband Exo verursacht bei weiblichen Teenagern momentan starke Hormonschwankungen.
© REUTERS

Zu Hause, erzählt Tung, hat sie die Werbeprospekte aufgehoben, mit denen in Zeitungen für die aktuellen Platten der Bands geworben wurde. „Sie haben mein Leben gekapert“, sagt die Schülerin. In einer Gesellschaft, in der Schule und Arbeitsleben enorm reglementiert sind, in der emotionale Ausbrüche als unhöflich gelten, ist es möglicherweise verführerisch, einmal die Kontrolle aufzugeben – und sei es nur vor den Lautsprechern eines Laptops im Kinderzimmer.

Dabei wissen alle Beteiligten, dass es sich bei K-Pop um Knochenarbeit handelt. Auf öffentlichen Castings suchen Talentscouts nach Teenagern, die um die 14 Jahre alt sind, gut singen, tanzen oder beides können. Diese (respektive deren Eltern) müssen einen Knebelvertrag unterschreiben, die Kinder landen dann in sogenannten Trainingscamps. Angeblich fließen Millionenbeträge in die Ausbildung eines Künstlers, ehe er jemals öffentlich auftritt. Danach muss er das Geld abbezahlen.

Trainingscamps ohne Smartphones

Wenig ist aus diesen Internaten bekannt, außer dass die Kinder ihre Eltern nur am Wochenende sehen dürfen, einen rigiden Stundenplan abarbeiten, der Fremdsprachenunterricht (Japanisch, Chinesisch und Englisch) und Benimmlektionen beinhaltet, und dass dem Pop-Nachwuchs die Mobiltelefone entzogen werden. Das ist für Teenager eines Landes, das kollektiv am Smartphone hängt, vermutlich die schlimmste Bürde.

Bis zu vier Jahren dauert die Ausbildung. Danach sind die Mädchen und Jungs voll ausgebildet. Im Gegensatz zu manchen westlichen Musikern müssen sie sich nicht über eine Subkultur hocharbeiten oder eine glaubwürdige Künstleridentität nachweisen, sie treten sofort in wichtigen Fernsehsendungen wie „Music Bank“ auf, die jede Woche neue Lieder des Genres vorstellt, und müssen perfekt tanzen, singen und aussehen. Dabei helfen auch Schönheitsoperationen.

Neue Konzepte für neue Märkte

Inzwischen passen sich die Bands den neuen Märkten an. Die zwölfköpfige Boyband Exo teilte sich anfangs in sechs Mitglieder für die koreanischen und sechs für die chinesischen Fans. Dieselbe Choreografie, dieselbe Musik, andere Sprache, mehr Umsatz. Inzwischen sind noch neun Jungs übrig, die anderen drei streiten sich vor Gericht mit der Plattenfirma um die Auflösung ihres Vertrages. Der Vorwurf lautet unter anderem „Verletzung der Menschenrechte“.

Trotz solcher Prozesse strömen jedes Jahr Tausende hoffnungsvoller Teenager zu den Castings. Einer von ihnen könnte der nächste G-Dragon werden, der Sänger von Big Bang soll ein Privatvermögen von zwölf Millionen US-Dollar haben.

Plüschgiraffen für Promis

Die Verführung ist groß, Pop ist Alltag. Auf großen Plakaten in der U-Bahn werben Plattenfirmen dafür, die Geburtstage ihrer Stars nicht zu vergessen. Die Tourismusbehörde von Gangnam hat jüngst einen Stadtplan veröffentlicht, in dem all die Lokalitäten eingetragen sind, in denen K-Pop-Stars sich vergnügen.

Seungri von Big Bang beispielsweise hat seinen Geburtstag in der Bowlinghalle „Pierrot Strike“ gefeiert und Ryewook von der Band Super Junior die gesamte Kollektion der lebensgroßen Plüschgiraffen bei „Hansa Toy“ aufgekauft.

Li Shin-Chi, 22, und Tsai Pei Hsuan, 26, sind Büroangestellte aus Taiwan, die für die Boyband Infinite schwärmen. Deshalb sind die Frauen nach Korea gereist. Das Land finden sie cool. Li hat sogar begonnen, Koreanisch zu lernen, um die Stars besser zu verstehen. Hat die Weltjugendsprache Englisch nicht ähnlich angefangen?

Fantasiemännchen als Sehnsuchtsfiguren

Die Frauen stehen vor einer Plastikfigur am Apgujeong-Boulevard. Dieser Teil der Straße wird seit Kurzem als K-Star-Road vermarktet. Auf einer Länge von einem Kilometer stehen 30 Symbolfiguren, die jeweils an eine Musikgruppe erinnern. Dieses weiß-goldene Fantasiemännchen hier an Infinite. Die Taiwanesinnen haben sich als Beweis ihrer Treue das Symbol der Band, ein Unendlichkeitszeichen, auf ihren Nagellack applizieren lassen.

Es gehört zur Erfolgsformel aller Bands, dass sie sich nahbar geben. Ständig stehen sie über soziale Medien in Kontakt mit ihren Fans, laden auf der populären „V-App“ täglich kleine Privatvideos hoch – und nie sind sie mit einem Partner zu sehen. Die Objekte der sexuellen Begierde sind permanente Singles, angeblich steht das bei Girlgroups und Boybands sogar im Vertrag.

No Sex, please

Sex, der bei Robbie Williams oder Madonna zum Grundbaustein der Laufbahn gehörte, spielt keine Rolle. Die Jungs zeigen bis auf wenige Ausnahmen kaum Haut. Skandale gelten für beide Geschlechter als Karrierekiller. Verrückt, schräg oder neben der Spur dürfen nur die Frisuren sein.

Nur einer kann die Karriere einer Boyband stoppen: der Staat. Wenn er die jungen Männer zum zweijährigen Militärdienst einzieht. Die Band Big Bang, munkelt man, steht deshalb vor einer Zwangspause. Andere Gruppen reagieren flexibel. Einzelne Mitglieder teilen sich den Dienst so auf, dass die Band weiterhin touren kann. Denn es darf nicht sein, dass der schöne Schein des K-Pop an der Härte der Realität zerbricht.

Mehr Infos zu K-Pop und Südkorea: www.visitkorea.or.kr

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