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Der Glücksfall: Wer seine Angst überwindet, fühlt sich tagelang unbesiegbar.
© A.J.Hackett Bungy/promo

Queenstown in Neuseeland: Die Stadt, die vom Adrenalin lebt

In einem Ort am Ende der Welt wurde das Bungeespringen erfunden. Seitdem ist Queenstown, Neuseeland, Pilgerstätte für alle, die den Kick suchen.

Eine Flosse teilt spiegelglattes Wasser und steuert geradewegs aufs Ufer zu, an dem Mary, 64, aus Utah, einen Pinot Noir in der Abendsonne trinkt. Dann zeigt der Hai mit einem gewaltigen Sprung seine grässliche Fratze.

Mary krallt sich den Arm ihrer Nebenfrau und beginnt zu kreischen. Ein paar Tropfen des Weins gehen daneben, bis sie sich beruhigt.

Ein Hai im See, so ein Quatsch! Mary lacht. Aber an diesem Ort, im Abenteuerland, hält man das Unmögliche schnell für möglich.

Es ist Spätsommer in Queenstown, dem einstigen Goldgräberstädtchen auf der neuseeländischen Südinsel. Auf 12 000 Einwohner kommen hier jährlich zwei Millionen Touristen. Alte in Bussen, Junge mit Rucksäcken, Extremsportler, chinesische Paare in den Flitterwochen und indische Großfamilien.

Das perfekte Glück

Sie alle wollen nur das eine. Adrenalin. Das gibt es hier im Überfluss: Paragliding, Rafting, Mountainbiking, Reiten, Skifahren, Rennrodeln, Bungeespringen. Und eben „Hydro Attack“, eine Art U-Boot in Haiform mit Chauffeur.

Mehr hat Mary nicht gefehlt zu ihrem Glück vor schneebedeckten Gipfeln am Lake Wakatipu.

In einem Plastikhai mit 80 Stundenkilometern eine Viertelstunde über den See zu rasen, dann abzutauchen und sich schließlich fünf Meter hoch zu katapultieren – das ist hier ein Beruf. Fallschirme in Rucksäcke packen, den ganzen Tag lang – auch einer. Wie man Menschen Seile so um die Fußgelenke schlingt, dass sie sich möglichst bequem in die Tiefe stürzen können, das wird sogar in Prüfungen abgefragt.

Riesiger Freizeitpark. Alte, Stubenhocker, Extremsportler und indische Großfamilien kreischen bei einer Fahrt mit dem Jet-Boat über den Shotover River.
Riesiger Freizeitpark. Alte, Stubenhocker, Extremsportler und indische Großfamilien kreischen bei einer Fahrt mit dem Jet-Boat über den Shotover River.
© mauritius images

Bungeespringen als Sehenswürdigkeit

In Queenstown werden Sicherheitsstandards für eine ganze Industrie entwickelt, die dann weltweit gelten. 40 Prozent aller touristischen Einnahmen haben nach Angaben der Kommune mit Abenteuern, mit Adrenalin zu tun. Wie funktioniert ein Ort, der von einem Hormon lebt?

Ein paar Kilometer vom See mit den künstlichen Haien entfernt ist das deutlich zu spüren. Da führt eine Brücke über den Kawarau River. Für Queenstown eine Sehenswürdigkeit wie anderswo Ritterburgen.

Gerade quatscht Phil Clifton, 57, angegrauter Pferdeschwanz, Sonnenhaut, einen jungen Chinesen diese Brücke hinunter. So nennt er das. Seit 20 Jahren verdient er sein Geld damit, Leuten die Angst vor dem Abgrund zu nehmen.

Nicht nach unten schauen, sagt Phil zu dem Jungen. Unten, wo das Wasser türkis glitzert wie im Katalog. Mach einen Köpfer, wie im Schwimmbad. Und vor allem: Warte nicht zu lange.

Hier wurde Bungee erfunden

Die Füße zusammengebunden, als hätte ihn eine Foltermiliz festgenommen, die Hand auf der Magengrube, wann immer er den reißenden Fluss unter sich erblickt, schwankt der Junge hin und her. Auf dieser Brücke hat A. J. Hackett 1988 das professionelle Bungeespringen erfunden.

Die Idee hat er sich von den Vanuatu, die im Südpazifik leben und mit Kletterpflanzen springen, abgeschaut. An der Universität von Auckland hat er geforscht, wie das ideale Seil beschaffen sein müsste. Und sich schließlich vom Eiffelturm geworfen, im Smoking, natürlich illegal.

Selbst Formel-1-Raser fürchten sich vor dem Abgrund

Ein Tandemsprung aus 5000 Metern Höhe. Das Schwierigste dabei: den Mund schließen, während einem der Wind die Lippen auseinanderdrückt.
Ein Tandemsprung aus 5000 Metern Höhe. Das Schwierigste dabei: den Mund schließen, während einem der Wind die Lippen auseinanderdrückt.
© Nzone Skydive

Seitdem haben sich mehr als 350 000 Menschen freiwillig von der Kawarau Bridge geschmissen. Es gibt weit höhere Bungees auf der Welt, 321 Meter in Colorado beispielsweise. Aber nur diese Brücke mit ihren lächerlichen 43 Metern wurde zum Pilgerort.

Wenige Meter hinter der Brücke hängen Neugierige auf Sitzsäcken ab und beobachten auf einer Großbildleinwand, was auf Phils Plattform passiert.

Manch einer springt wegen des Gruppendrucks. Es gibt Popcorn und Drinks, „Flüssiger Mut“ heißt einer.

Aus den Lautsprechern läuft, wirklich wahr, Gloria Gaynor "I will survive".

Das Gefühl nennt sich Angst. Scheißangst.

Der Junge mit den zusammengebundenen Füßen wankt weiter, inzwischen schlackern seine Beine. Wer hier noch nie stand, versteht gar nichts. Das Gefühl nennt sich Angst. Scheißangst. Selbst gewieften Abfahrtskiläufern und gestandenen Formel-1-Rasern wird an Phils Abgrund flau. „Das Einzige, was dich aufs Bungeespringen vorbereitet, ist Bungeespringen“, sagt er.

Ursprünglich hat der Körper diese Schutzmechanismen für reale Gefahrensituationen entwickelt. Das hier ist regulierte Gefahr. Die Angst jedoch ist echt. „Es ist völlig unnatürlich, sich von einer Brücke zu stürzen“, sagt Phil. Er spricht jetzt von den doppelten Sicherungen, er nennt Unfallstatistiken.

Tatsächlich stammen die Beinbrüche im örtlichen Krankenhaus überwiegend davon, dass einer die Schwelle übersehen hat, als er losrannte, um den Sohn beim Abenteuer zu fotografieren.

Zusehen wie die Seile geknüpft werden

Manchmal empfiehlt Phil den Zögernden einen Besuch bei Jaan Gardiner, dem Herrn der Seile. Wie an einem Marktstand lässt sich dort zuschauen, wie die Gummibänder entstehen, an denen Menschenleben hängen. Bis zu drei Stunden knüpft und flicht Jaan an einem langen Seil.

Jedes muss gleich aussehen, damit Phil und die anderen keinen Schreck bekommen. Jeder Knoten muss exakt so viel Platz haben, dass er sich nicht am Nachbarknoten aufschubbert. „Ich gebe mich meiner perfektionistischen Zwangsstörung hin“, sagt Jaan. So entstehen kleine Kunstwerke.

Das Gummi für die Seile kommt aus Malaysia. Jaan braucht es nur kurz zwischen den Fingern zu dehnen, dann weiß er, wie lange es halten wird. Ist es besonders weich, versieht er es mit einem kleinen Zettel.

Es darf nicht ganz so viele ins Glück befördern. 400 Sprünge Lebenszeit hat ein von Jaan geknüpftes Bungeeseil normalerweise, 250 Sonnenstunden hält es aus. Für jedes wird einzeln Tagebuch geführt.

Keiner schubst - man muss selbst springen

Der junge Chinese steht noch immer am Abgrund. Phil wird ihn nicht schubsen. Das ist Prinzip bei A. J. Hackett. Es sei denn, einer greift im Sprung zurück, dann bugsiert ihn ein sanfter Kniestoß ins Aus. Und verhindert, dass er selbst mit dem Hinterkopf auf der Plattform landet oder seinen Jumpmaster mitreißt.

Je selbstbestimmter der Sprung, so die Philosophie, desto größer das Glück. Und das verkaufen sie hier schließlich am Fließband, an jedem Tag im Jahr, bei Eis und Schnee, außer an Weihnachten. 120 Euro kostet eine Dosis Adrenalin in der größten Glücksfabrik der Welt.

Traut er sich?

Der Junge springt, Phil wusste es, mit den Füßen voraus. Phil nennt das „Fahrstuhlsprung“. Das drückt den Magen zusammen und ruckelt am Schluss, wenn es einen ohnehin kopfüber wirft. Machen die Asiaten oft, weil sie das Schwimmen nicht gelernt haben.

Schon baumelt er an der Schnur, schreit erst – wie alle –, als es vorbei ist, greift dann eine Stange, die ihm aus einem Schlauchboot gereicht wird, und erklimmt, wieder an Land, die vielen Stufen zurück nach oben. Er glüht. Nach überstandenen Gefahrensituationen schüttet der Körper eine Menge Glückshormone aus.

Es kommt nur ganz selten vor, dass sich jemand verweigert. Maximal einer am Tag, bei 160 Sprüngen, sagt Phil. Das sind die Abende, an denen er schlecht gelaunt nach Hause kommt. Ein Nichtspringer ist für Phil immer auch eine persönliche Niederlage.

Ein Zertifikat für Mut

Alle stürzen sich hier von der Brücke in die Tiefe. Zehnjährige, Blinde, Dicke. Ein jetzt 97-jähriger Franzose springt jedes Jahr an seinem Geburtstag. Die älteste Frau ließ sich neulich mit 91 aus Phils Armen fallen. Ab 75 ist der Sprung kostenlos. Einige kommen nach einer Scheidung, vor einer Operation. Samstags rücken die Junggesellenabschiede an. Manche sparen jahrelang auf einen Flug ans andere Ende der Welt.

Wer gesprungen ist, bekommt ein Zertifikat. Wo sonst kann man sich schriftlich attestieren lassen, dass man außergewöhnlich ist?

Einmal mutig sein und dann ein Leben lang darüber reden. Als wären es Starautogramme, waschen sich die Glückseligen abends in der Stadt die Markierungen „Uhrzeit, Gewicht“ nicht mehr von den Handrücken. Und zwinkern einander zu, nur sie wissen, was sie geleistet haben. Sie glauben, nein, sie sind sich ganz sicher, von nun an unverwundbar zu sein. Das feiern sie mit sehr viel Alkohol.

Diese Stadt ist ein Kurort

Morgens in Queenstown, Schichtwechsel. Die Sonne geht über den Remarkables auf, den Bergen vor der Stadt. Müllmänner beseitigen die Kotze der Nacht. Coladosen und Schnapsflaschen. Die Jungen drängen in die Betten, die Alten in die Busse. Die Stadt trägt Funktionsjacke.

Eine faltige Dame zeigt dem Portier im Hotel die Fotos ihrer Abenteuer auf dem iPad. Diese Stadt ist ein Jungbrunnen. Ein Kurort der besonderen Art. Der Taxifahrer erzählt, dass er jahrelang schwer depressiv war. Er sei oft umgezogen. „Queenstown ist der einzige Ort, wo ich leben kann“, sagt er.

Glück ist ansteckend.

Bürgermeister springen im Superman-Kostüm

Auch Clive Geddes ist heute, an seinem 70. Geburtstag, früh aufgestanden und sitzt im „Jack’s Point“, dem Clubhaus des örtlichen Golfplatzes. Neun Jahre war er Bürgermeister dieser ungewöhnlichen Stadt.

Er musste die Glücksmaschine in Gang halten. Das heißt im Superman-Kostüm aus Flugzeugen springen. Das heißt mit dem Wachstum der Stadt mitziehen. Keine andere Region Neuseelands entwickelt sich so rasant.

Queenstown kennt keine Nebensaison mehr, es gibt bereits halb so viele Hotelbetten, wie die Stadt Einwohner hat. Parkplätze sind knapp, Straßen verstopft, Wohnungen extrem teuer. 20 Hostels reichen nicht mehr. Manch ein Hausbesitzer vermietet Zimmer als Schlafsäle, 27 junge Leute, die in den Bars oder auf den Skihängen schlechte Löhne verdienen. Zusammengepfercht, 100 Dollar die Nacht.

Andere schlafen in ihren Autos. Erst kürzlich entschied der Gemeinderat, dass Gebäude 15 Stockwerke hoch werden dürfen. Der Flughafen erlaubt neuerdings Abendflüge. Queenstown liegt zwar am Ende der Welt, aber es ist gut erreichbar.

Wird die Glücksfabrik zu voll?

Einst war Queenstown das unberührte Neuseeland aus der Werbung - heute strömen Abenteurer aus aller Welt in das idyllische Goldgräberstädtchen.
Einst war Queenstown das unberührte Neuseeland aus der Werbung - heute strömen Abenteurer aus aller Welt in das idyllische Goldgräberstädtchen.
© Alamy

Geddes kam nicht hinterher. Privatwirtschaft handelt eben schneller als die Regierung. Er wollte jungen Familien Kredite vom Staat ermöglichen. Das Parken und den öffentlichen Nahverkehr kostenlos machen. Klappte alles nicht.

Noch immer ist die Brücke, die auf die Autobahn führt, einspurig. Bürger fürchten, dass die Stadt sich selbst zerstört. Und jetzt wird auch noch der Gehsteig vor Queenstowns beliebtestem Burgerladen erweitert, weil die Schlangen so lang sind. Auf Gemeindekosten.

Das Neuseeland aus der Werbung

Als Geddes in den Siebzigern nach Queenstown zog, gab es kaum Jobs. Wandern und Skifahren waren die wichtigsten Attraktionen. Wie die Goldgräber zuvor, die auch blieben, als das Gold ausging, war er fasziniert von Queenstowns Schönheit. Von unberührter Natur, Bäumen, die nur hier wachsen und lange harte Blätter gegen inzwischen seltene Vögel ausgebildet haben.

Von diesem Neuseeland aus der Werbung. Mit Geddes blieben viele andere Pioniere, die jene Rekorde aufstellten, mit denen die Stadt heute wirbt. Sind es jetzt zu viele Menschen geworden? Zu viele Nationen?

Autounfälle und Prügeleien

Die Einwohner kommen sich vor wie Fremde.

Neulich schossen Unbekannte auf ein Flugzeug, sie fühlten sich wohl vom Motorenlärm gestört. In letzter Zeit, sagt ein Sprecher der örtlichen Polizei, seien Autounfälle durch Touristen Queenstowns größtes Problem. Und betrunkenes Chaos.

Es gibt kaum Armut, keine der berüchtigten neuseeländischen Gangs hat sich hier angesiedelt. Dafür aber drei oder vier Prügeleien pro Nacht, auf den drei oder vier kleinen Straßen der Innenstadt.

Heiratsanträge in der Luft

Man muss Queenstown, diese Glücksfabrik, ab und zu verlassen, rät Geddes zum Abschied. Hinter ihm landen Fallschirmspringer in Tandems zwischen grasenden Schafen. Manche machen sich auf dieser Wiese Heiratsanträge, platzieren ein Schild für den Einfliegenden am Boden. Eine junge Inderin in den Flitterwochen stakst gerade auf silbernen Schuhen durchs Gras. Eben noch, im Flieger, hat sie vor lauter Angst ihren Mann verflucht. „Ich wünschte, ich hätte ihn nie geheiratet.“

Jetzt weint sie. Das Glück mag hier künstlich sein, doch die Freudentränen sind echt.

Der Artikel erschien zunächst in der aktuellen Ausgabe

des Abenteuermagazins „Free Men’s World“.

Das Abenteuermagazin gibt es jetzt am Kiosk.
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© Free Men's World

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