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Zum Mond, zur Freiheit. Schlüpfende Meeresschildkröten orientieren sich am Mondlicht.
© imago/Bluegreen Pictures

Meeresschildkröten in Australien: Die schönsten Schlüpfer der Welt

Intime Einblicke am Strand von Heron Island: Hunderte Schildkröten kriechen aus dem Ei, und alle schauen zu.

Am frühen Abend entsteht am Strand von Heron Island Unruhe. Menschen gestikulieren, schütteln Schirme und schreien Silbermöwen an. Tagsüber war kaum jemand auf der australischen Insel unterwegs, weil Sturm und Regen weißen Sand und türkisfarbene Gewässer in eine an die Nordsee erinnernde Sinfonie aus Grautönen verwandelten. Nun starren Urlauber abwechselnd in schmale Wasserrinnen, die die Ebbe zurückgelassen hat, und zum Himmel.

Gegenstand der Aufregung sind mehrere Dutzend frisch geschlüpfte Meeresschildkröten. Vermutlich hielten sie den bewölkten Himmel für abendliches Dämmerlicht – ein Fehler. Unzeitig früh und dazu bei Niedrigwasser haben sich die Jungtiere auf den Weg in den jetzt noch weit entfernten Pazifik gemacht. Aus dem Wasser ragende Riffe versperren den Zugang ins offene Meer, kein Mondlicht hilft bei der Orientierung.

So wird der unter besten Bedingungen schwierige Weg der Neugeborenen zum Buffet für Möwen. Eine Schildkröte nach der anderen greifen die Vögel vom Strand und aus den Pfützen, obwohl Urlauber neben ihnen herlaufen, sie schreiend und Fäuste schüttelnd gegen die Möwen verteidigen.

Eine Handvoll Babys hat es schließlich ins Meer geschafft, den Rest haben die Vögel verschlungen. Natur muss man aushalten können; das ist eine der zentralen Botschaften, die Heron Island vermittelt. Die 30 000 Menschen, die jedes Jahr hierherkommen, sollen so wenig wie möglich ins Ökosystem eingreifen. Das fällt schwer, wenn zwischen Dezember und Mai Grüne Meeres- und Karettschildkröten schlüpfen.

Nebensache traumhafter Strand

80 Kilometer vom Festland entfernt liegt Heron Island im südlichen Abschnitt des Great Barrier Reef. Die Landfauna besteht vor allem aus Vögeln und saisonal aus Schildkröten. Hinzu kommt eine faszinierende Unterwasserwelt, 60 Prozent der im Great Barrier Reef vorkommenden Fischarten sind rund um Heron heimisch. Angesichts der Artenvielfalt vergisst man schon mal Nebensächlichkeiten wie den normalerweise traumhaften Strand.

Je weiter man sich in Australien nach Süden bewegt, desto gemäßigter werden die Temperaturen; das gilt auch fürs Wasser. Was die Reptilien ebenfalls um die Insel hält: Dieser Teil des Riffs war weniger von den schweren Korallenbleichen der vergangenen beiden Sommer betroffen als die nördlichen Abschnitte.

Anreise im Wasserflugzeug

Gäste erreichen die Insel von Gladstone aus per Wasserflugzeug oder mit dem „Heron Islander“ – einem 30 Meter langen Boot, das eigens für „sanfte Fahrten in rauen Gewässern“ konzipiert wurde, wie eine Broschüre behauptet. Damit ist es spätestens vorbei, wenn der Islander aufs offene Meer steuert und klar wird, warum auf jedem Tisch Stapel von Spuckbeuteln liegen.

Sobald die Urlauber mit grünen Gesichtern in Heron an Land gehen, erwartet sie eine Geräuschkulisse aus Schreien und Pfiffen. Rund 200 000 Vögel leben im australischen Sommer auf der 300 mal 800 Meter großen Insel, sie ist von Federvieh wie belagert. Auf Bäumen, in der Luft, im Gebüsch und vor den Füßen: Überall flötet, zirpt und kreischt es. Sturmtaucher stoßen abends geisterhaft klingende Rufe aus, mit denen sie ihre Paarbindung bekräftigen.

Neu auf Heron: Menschliche Anteilnahme

Zur Insel, zum Staunen. Blick auf das Great Barrier Reef auf dem Weg nach Heron Island.
Zur Insel, zum Staunen. Blick auf das Great Barrier Reef auf dem Weg nach Heron Island.
© Stefanie Bisping

Die ganze Insel steht unter Schutz, nichts darf eingeschleppt, mitgenommen oder verändert werden, mahnt Suzanne, eine der Natur-Guides im einzigen Resort auf Heron. Als Erstes zeigt sie zwei dunkelgraue tote Vögel, die neben einem Baumstamm vor dem Restaurant verrotten.

Die Seeschwalben bleiben hier liegen, bis sie restlos verwest sind. Nur ein paar Meter weiter sitzt ein weiterer Vogel unbeweglich am Boden. „Er wird bald sterben“, sagt Suzanne. Die Kadaver reichern den nährstoffarmen Sandboden an und nutzen somit dem Wald. Und weil der Mensch sich hier in nichts einmischen soll – ein paar Schildkröten-Retter schauen schuldbewusst drein –, darf weder Suzanne noch einer der Urlauber einen toten Vogel am Wegrand entfernen.

Zurückhaltung bitte

Die Hauptattraktion ist sowieso der Schildkrötenschlupf. Zwischen Oktober und März kommen weibliche Tiere jeweils drei bis fünf Mal zur Eiablage an Land. Acht Wochen später kriechen die Jungtiere aus den Nesthügeln. Rund 4000 Schildkröten leben permanent rund um Heron Island, sodass man nicht nur beim Schnorcheln und Tauchen, sondern schon vom Strand aus häufig einige gescheckte Köpfe der Grünen Meeresschildkröte aus dem Wasser auftauchen sieht.

Menschen müssen sich bei der Begegnung mit ihnen Zurückhaltung auferlegen. Besonders abends. Die wichtigste Regel lautet: Licht aus. Sobald es dämmert, müssen die Vorhänge zugezogen sein, damit kein künstliches Licht die Tiere auf dem Weg zum Meer desorientiert. Die zweite heißt: Abstand halten. Wer eine Schildkröte sieht, die an Land kommt, darf sie zwar beobachten, sich ihr aber nicht in den Weg stellen.

Fühlen die Tiere sich gestört, kehren sie unverrichteter Dinge ins Meer zurück. „Ein bis zwei Stunden nach der Flut am Abend ist die beste Zeit, um an Land kommende Schildkröten zu erblicken“, erklärt Suzanne und erinnert daran, den Respektabstand von einigen Metern einzuhalten. „Seit 120 Millionen Jahren leben Meeresschildkröten auf unserem Planeten, aber heute ist ihre Zukunft bedroht.“

Sturmtaucher hielten Menschen auf Abstand

Menschliche Anteilnahme ist ein relativ neues Phänomen auf Heron Island. Als die Insel 1843 vom ersten Europäer gesichtet wurde, von Captain Francis Price Blackwood, betrachtete er sie mit mäßigem Interesse; ihm ging es darum, schiffbare Kanäle zwischen den Korallenbänken des Great Barrier Reef zu finden. Der mitgereiste Geologe Joseph B. Jukes benannte die Insel nach den Reihern, die er in großer Zahl am Ufer sah. Die furchteinflößenden Schreie der Sturmtaucher hielten lange die Besatzungen der Schiffe davon ab, das Land hinter den Bänken zu erkunden.

Ein Segen für die Schildkröten, bis 1925 ein gewisser Mister Marsh die Insel betrat. Erfreut über die Massen von Tieren, die sich zur Eiablage den Strand heraufschleppten, baute er eine Abfüllanlage für Schildkrötensuppe. Zwei Jahre später waren die Tiere bereits so dezimiert, dass sich das Geschäft nicht mehr rentierte. Cristian Poulson, der für Angler Riff-Touren organisierte, entschloss sich 1932, die marode Fabrik in eines der ersten Resorts im Great Barrier Reef umzuwandeln.

Im oberen Stockwerk der Bar zeigen SchwarzWeiß-Fotos, wie sich Touristen in den 1950er Jahren die Zeit vertrieben: Eine Urlauberin in Shorts, Bluse und Sonnenhut reitet auf dem Panzer einer Schildkröte, eine andere posiert im Badeanzug auf einem Tier. „Aktivität der Vergangenheit; heute ist diese Praxis verboten“, vermerkt ein Schild. Zwar war die Insel seit 1943 Nationalpark, doch damals dachte man kaum an die Auswirkungen menschlichen Tuns auf die Natur.

Riffwanderung mit Aufklärung

Zum Strand, zur Bildung. Gäste auf Heron erkunden die Natur während eines Reef Walk.
Zum Strand, zur Bildung. Gäste auf Heron erkunden die Natur während eines Reef Walk.
© Stefanie Bisping

Heute dreht sich auf Heron alles um Schadensbegrenzung. Zum Essen treffen sich die Gäste im Shearwater Restaurant, das aussieht wie ein Vogelkäfig und durch dessen Gitter die Vögel von außen die speisenden Menschen innen betrachten.

Die schmucklosen Zimmer einerseits und der Informationsimperativ andererseits – im Besucherzentrum, durch Vorträge und geführte Aktivitäten – zeigen die Prioritäten. Natur sehen, verstehen, schützen. Touristen erkunden beim Bird Walk mit Suzanne die Vogelwelt und erforschen bei Ebbe die Miniaturwunder des Riffs.

Haie im Wasser

Meeresbiologin Nicole MacLachlan verteilt Schuhe und Spazierstöcke, die beim Reef Walk über den frei liegenden Meeresboden Halt geben, und führt die Gruppe vom Strand zur Riffkante. Immer schwieriger wird es, im erst knöchel-, dann knietiefen Wasser einen Weg um die Korallenbänke zu finden.

Nicole bleibt stehen, zeigt diverse Arten von Seegurken, hebt vorsichtig einen knallblauen Seestern auf und deutet auf kleine, dunkel gesprenkelte Epaulettenhaie, die im flachen Wasser zurückgeblieben sind und erst mit der einlaufenden Flut wieder ins offene Meer gelangen.

MacLachlan spricht von den verheerenden Schäden durch Plastik. 450 Jahre dauere es, bis eine Plastikflasche abgebaut, 600 Jahre, bis eine verlorene Angelschnur verschwunden sei; acht Millionen Tonnen Plastik gelangten jedes Jahr ins Meer.

Gefährlicher "bubble butt"

Wenn eine Meeresschildkröte davon etwas frisst, verstopft das Material ihren Magen und hindert sie daran, Nahrung herunterzuschlucken. Manche der Reptilien bekommen einen „bubble butt“, einen derart aufgeblähten Bauch von den Gasen, die bei der Plastikzersetzung freigesetzt werden, dass die Tiere nur an der Oberfläche treiben, aber nicht mehr abtauchen können. Die Folge: Die Schildkröten verhungern oder werden von Fressfeinden erbeutet.

Als Suzannes Grüppchen wieder Sand unter den Füßen hat, wissen die meisten, dass sie nie wieder eine Plastikflasche kaufen werden.

HINKOMMEN

Singapore Airlines fliegt über Frankfurt und Singapur nach Brisbane. Das Ticket kostet ab 1375 Euro. Von dort mit Virgin Australia oder Quantas weiter nach Gladstone (Ticket ab 165 Euro). Für den Bootstransfer von Gladstone nach Heron Island kommen 64 australische Dollar (etwa 42 Euro) hinzu.

UNTERKOMMEN

Das Heron Island Resort bietet Platz für 200 Gäste, Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück ab 220 Euro. Das „Turtle Package“ mit drei Nächten, Frühstück, einem Schnorcheltrip und Vorträgen kostet ab 330 Euro pro Person. Infos: heronisland.com

INFO
Auskünfte über das Gebiet auch auf queensland.com

SCHLUPF WELTWEIT
Nicht nur auf Heron lässt sich beobachten, wie die gefährdeten Tiere aus dem Nest kriechen. Im australischen Bundesstaat Queensland ist außerdem das Gebiet um die Stadt Bundaberg dafür bekannt. Die Saison beginnt Ende November und dauert zwei Monate.

In anderen Teilen der Welt kann man Baby-Schildkröten das ganze Jahr über sehen. Im Ras al-Dschinz im Oman schlüpfen die Jungtiere ab Mai aus ihren Eiern. Das Naturschutzgebiet nahe der Stadt Sur verfügt über ein Hotel.

Einer der wichtigstens Brutplätze weltweit ist der Tortuguero Nationalpark in Costa Rica. Hier hat man fast immer die Chance, frisch geschlüpfte Schildkröten zu beobachten. In der Nähe gibt es mehrere Unterkünfte. Infos unter tortugueroinfo.com

Auf der malaysischen Insel Palau Tioman kümmert sich das Juara Turtle Project um die Tiere. Wer im angegliederten Hostel übernachtet, wird auch für Naturschutzarbeiten rekrutiert. Siehe juaraturtleproject.com

Das Four Seasons auf der maledivischen Insel Kuda Huraa hat ein eigenes Schutzprogramm für Meeresschildkröten ins Leben gerufen.

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