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Kompakt. Jaguare werden nur 70 Zentimeter hoch, aber bis zu 160 Kilogramm schwer.
© AFP

Jaguar in Brasilien: Die Pfoten-Diskussion

Im riesigen Feuchtgebiet des Pantanal lebt der bedrohte Jaguar – und Lilian Rampin sorgt dafür, dass sich Viehzüchter mit ihrem Feind versöhnen.

Vor ein paar Monaten stand Lilian Rampin zum ersten Mal vor den Viehzüchtern im Pantanal. Eines der größten Feuchtgebiete der Erde, so groß wie die alte Bundesrepublik. Die Ebene liegt an der Grenze zu Paraguay und Bolivien, und Lilian aus São Paulo war mittendrin. „Ich, noch nicht mal 30, eine zierliche Frau, die einzige im Raum.“

Wahrscheinlich trug sie ihre Arbeitskleidung, die tarngrüne Weste mit dem aufgestickten Jaguar, die blonden Haare offen, und ihre kleinen Ohrstecker glänzten wie jetzt. „Da haben mir die Blicke schon gesagt, dass Sie mich nicht ernst nehmen.“ Lilian Rampin, Biologin, Fachgebiet Raubkatzen, versuchte es trotzdem. Sie sagte: „Bitte hassen Sie mich nicht, aber ich möchte mit Ihnen über den Schutz der Jaguare reden.“

Und dann ging es los. Die Viehzüchter grollten, schimpften, verdrehten die Augen und winkten mit den Händen ab. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie schwer es ist, unser Vieh vor den Raubkatzen zu schützen?“ – „Was bilden Sie sich ein, die Jaguare töten unsere Rinder, die Tiere bringen mich um mein Geld.“ Nein, gibt Lilian Rampin im Nachhinein zu, das erste Treffen, das verlief „sehr sehr schlecht“. Sie kam sich vor wie, als würden manche Züchter sie genauso gern wie die Jaguare vor die Türen ihrer Güter setzen.

Was hatte Lilian Rampin vorgeschlagen? Sie hatte den Großbauern vom Oncafari-Projekt erzählt – der Name ist ein Wortspiel von Onca, dem portugiesischen Wort für Jaguar, und Safari. Eine Mischung aus Öko-Tourismus und Privatforschung, bei der man beide Seiten zusammenbringt, den Jaguar schützt und Touristen anlockt. Aus dem Hauptfeind Nummer eins könnte eine Investition in die Zukunft werden.

Sie hatte ja selbst nicht an diese Mischung aus Safari und Forschung geglaubt. Vor knapp zwei Jahren, als ihr Doktorvater anrief. „Lili, ich habe einen Job für dich. Fahr ins Pantanal, dort bekommst du einen Jeep und wirst Jaguare an dich gewöhnen.“ Lilian Rampin dachte: „Der spinnt! Jaguare fliehen und verstecken sich, das haben wir doch an der Universität so gelernt.“ Ein „habituation project“ wie Oncafari zu initiieren, wie das im Fachjargon heißt, wäre doch unmöglich.

Im November 2012 kam sie trotzdem. Sie stieg frühmorgens mit ihrem Freund an der Atlantikküste in den Wagen, nach 14 Stunden kamen sie an, es war stockdunkel, und Lilian Rampin sollte sofort mit einem Auto die Gegend erkunden. Im Zoo von São Paulo hatte sie Jaguare erforscht, vier alte Exemplare, eines sogar 18 Jahre, wo sie in der Natur nur zehn Jahre alt werden. Die rührten sich so betagt nicht vom Fleck. Hier draußen war sie es nun, die sich nicht bewegte. Doch nichts geschah.

In der zweiten Nacht fuhr sie allein los. Nach Norden, ein paar Kilometer, da passierte es. „Ich sah zwei Jaguare, 30 Meter neben der Piste, Mutter und Tochter, sie fraßen gerade an einem Kadaver. Ich war wie paralysiert. Dann nahm ich mein Notizbuch heraus, schrieb meine Beobachtungen auf, allein im Auto, die Scheinwerfer an, das Fernglas zur Hand.“ Sie gibt zu, ein paar Tränen seien geflossen, aber vor allem sei ihr klar geworden, dass diese verrückte Idee, die Tiere an sie zu gewöhnen, nicht so ausweglos war. Und sie blieb im Pantanal.

Auf den riesigen Gütern im Feuchtbiotop, 1070 Kilometer westlich von São Paulo, leben wenige Menschen und viele Tiere. Das Gebiet steht seit Jahren unter Naturschutz, die Unesco hat es 2000 zum Welterbe erklärt. Hyazintharas, Sumpfhirsche, Kaimane, Jabirus – schwarz-weiß-rote Riesenstörche – und verhältnismäßig viele Jaguare bewohnen die immergrüne Landschaft. Die Raubtiere sind vom Aussterben bedroht, in Brasilien leben höchstens 1000 von ihnen, 70 Prozent davon im Pantanal.

Lilian Rampin arbeitet auf der Caiman Eco Lodge, sie gehört zu einer Fazienda, einem Großgut, das 530 Quadratkilometer groß ist, also beinahe zwei Drittel der Stadtfläche von Berlin hat. 180 Menschen arbeiten auf der Ranch, kümmern sich um die Rinder, gehen wissenschaftlichen Forschungen nach oder kochen für die Gäste.

Das Team von Oncafari lockt Touristen mit Naturexpeditionen an, streng limitierte Ausflüge mit zwei Jeeps, sechs Sitze pro Wagen, von den teuer bezahlten Safaris (eine Nacht kostet ab 700 Euro) wird die Forschung teilfinanziert, demnächst will Lilian Rampin ihre Ergebnisse publizieren. Beinahe eineinhalb Jahre ist sie nun hier, hat in einem Dreieck von 13 mal neun mal drei Kilometern geforscht und großartige Entdeckungen gemacht.

Die will sie gleich zeigen im Forschungszentrum, was sich schicker anhört, als es ist: ein eingeschossiges Haus mit drei Räumen für die Wissenschaftler. Noch sitzt sie auf der Veranda der Pousada, in der die Gäste übernachten, neben ihr liegt das Funkgerät, falls ein Mitarbeiter einen Jaguar sichtet, sie zwingt ihr Englisch zu präzisen kurzen Sätzen und schaut über den See auf die andere Seite, wo sie wohnt – im Gemeinschaftsquartier mit Bett, Schrank und Familienfotos auf dem Nachttisch. „Ich sehe die Jaguare öfter als meine Nichten“, sagt sie.

Es ist neun Uhr morgens, das heißt, Lilian ist bereits seit vier Stunden wach. Sie hat mit dem Team gesprochen, das nachts versucht hat, Jaguare zu finden. Einige der Tiere haben Halsbänder mit Sender, 2000 Dollar pro Stück, mit einer Antenne fahren die Wissenschaftler in die Nacht, um die Raubkatzen zu orten.

Sie erzählt von einem Fahrer, der einmal abends auf den Stufen einer Veranda saß, auf seinem Tablet E-Mails las oder einen Film sah, irgendwann hochguckte – und keine zehn Meter vor ihm stand ein Jaguar. Ganz ruhig bleiben, keine hektischen Bewegungen! Das Tier schaute nur und trollte sich davon. Oder als im Januar die Familie des Besitzers zu Besuch aus São Paulo kam, einer der Männer joggte morgens auf der Schotterpiste zum Tümpel, wo Dutzende Kaimane regungslos lagen, und erblickte auf der kleinen Brücke plötzlich einen Jaguar, der sich darauf gefläzt hatte, als gehöre ihm die Welt. Langsam zurückgehen, dem Tier nicht den Rücken zudrehen, dann passiert nichts. Für gewöhnlich greifen die Raubtiere keine Menschen an, sie sind „Opportunisten“, sagt Lilian Rampin. Was ihnen vor die Füße läuft, erbeuten sie. Ameisenbären, Kaimane, und ja, auch Rinder.

Die Viehzüchter hassen die Tiere. Einige sagen: „Wenn du einen Menschen im Pantanal umbringst, passiert nichts, tötest du aber einen Jaguar, kommst du ins Gefängnis!“ Die Regierung unter Sozialistenführer Lula hat ab 2003 scharfe Umweltschutzgesetze erlassen, hier draußen in der Wildnis ärgern sie sich darüber. Großgrund- und Plantagenbesitzer haben sich lange gegen die Einmischung gewehrt, in den 80er Jahren kam es insbesondere im Amazonasgebiet zu heftigen Auseinandersetzungen. Allein 1988 wurden 90 Umweltaktivisten ermordet, die gegen die Landnahme und Raubbau protestiert hatten – der berühmteste war Chico Mendes.

Auch die Fazienda, auf der Lilian Rampin die Daten sammelt, gehört einem reichen Mann. Roberto Klabin studierte in den 1970er Jahren Jura, er stieg in das Papierunternehmen seines Vaters ein und kaufte 1985 die Ranch im Pantanal – um ein Naturschutzprojekt zu errichten. Er verbot die Jagd, richtete eine Piste für kleine Flugzeuge her und flog Wissenschaftler ein, die nach den seltenen kobaltblauen Hyazintharas forschen sollten. Das war das erste Projekt der Caiman Lodge.

Ein Paar dieser majestätischen Vögel fliegt über Lilians Kopf hinweg, als sie hinüber in ihr Büro geht. Die Papageien kreischen, Wasserschweine rennen vor der Forscherin weg. Einmal im Monat wertet sie die Kameras der Bewegungsmelder aus. Der erste steht gleich hinter den Hütten an einem Tümpel, 20 Kamerafallen gibt es insgesamt, jede nimmt zwischen 200 und 300 Bilder auf, vier Tage Sichtung im Büro, dazu kommen Videoclips, die manche Kameras aufzeichnen. Alle Tiere identifiziert sie anhand von Fotos und setzt Punkte auf einer Karte, wo die Jaguare gesehen wurden.

Wenn Touristen kommen, zeigt sie die Karte, die Schädel der Beutetiere, vom Aguti bis zum Tapir, sie klärt über das Projekt auf und fährt mit den Gästen im Mitsubishi-Jeep ins Gelände. Angelina Jolie und Brad Pitt waren vergangenes Jahr hier, Harrison Ford übernachtete schon mal vor Ort. Für Prominente ist die Abgelegenheit ein Geschenk. Eine 35 Kilometer lange tiefrote Buckelpiste führt zum nächsten Ort. Paparazzi können aus dem Busch keine unliebsamem Bilder schießen – zu viele Mücken und giftige Spinnen.

Namen von Stars lassen Lilian kalt. Bei Esperanca und Natureza schlägt ihr Herz höher. Wenn sie von der Jaguarmutter und ihrer Tochter redet, die sie in der zweiten Nacht gesehen hat und die selbst als Erwachsene zusammen Beute verspeisen, wird Lilian Rampin emotional. Oder wenn sie von Xavier erzählt, dem dominanten Männchen, das vor ein paar Wochen beinahe ein Weibchen getötet hätte, weil es Nachwuchs eines Konkurrenten großzog – und sie, Lilian, stand mit Fernglas gar nicht weit weg, hörte das tiefe Grollen der Tiere und durfte doch nicht eingreifen.

In dem relativ kleinen Dreieck haben die Forscher 24 Jaguare katalogisiert. Sie haben einige Thesen widerlegt, zum Beispiel, dass die Raubkatzen nie ihren Fraß teilen. „Ich habe einmal an einem Kadaver vier Tiere gesehen“, sagt Lilian Rampin. Als sie diese aufsehenerregende Entdeckung anderen Forschern mitteilte, erntete sie Spott und Ablehnung. Es war ein bisschen wie bei den Viehzüchtern: Sie war zu jung – und sie war eine Frau.

Nun will sie alles in einem wissenschaftlichen Blatt veröffentlichen, die statistischen Ergebnisse, die Fotos, die Beweise. Dass sich Weibchen durchaus auch ein Revier teilen, dass sie gelegentlich zusammen über die Lichtungen streifen – und damit das gängige Einzelgänger-Bild widerlegen.

Vor ein paar Wochen stand sie zum zweiten Mal vor den Viehzüchtern. Diesmal hat sie sich nicht um deren Gunst bemüht, sondern nur die Fakten aufgelistet: wie viele Besucher kamen, wie viel Geld ein Gast ausgibt, wie sie die Rinder schützen – indem sie die Herden besser mischen, alte mit jungen, schwache mit kräftigen Tieren. Eine Gruppe mit Büffeln würde der Opportunist nie angreifen. Bei den Alteingesessenen setzte sich plötzlich was in Gang. „Als ich erzählte, dass wir Touristen aus 24 Ländern hatten, waren sie plötzlich sehr interessiert“, sagt Lilian. Vielleicht klappt es jetzt, sie können ein Netzwerk unter den Farmen aufbauen, aus Oncafari ein groß angelegtes Projekt machen. Lilian Rampins Zahlen haben den Hass auf den Jaguar vorläufig gedämpft.

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