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Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ ist das meistgeklickte Video des Jahres.
© pa/Photoshot

Miley Cyrus auf der Abrissbirne: Die nackte Kanone

Miley Cyrus hat dieses Jahr ihr Image gewechselt – vom anständigen Mädchen zur Skandalnudel. Doch womit kann ein Popstar noch schocken?

Na toll, dieses Bild werden wir jetzt ewig im Kopf haben: Miley Cyrus nackt auf der Abrissbirne. Sehen wir künftig eine Stahlkugel mit Kette, werden wir uns automatisch Frau Cyrus dazudenken. Ihr Musikvideo „Wrecking Ball“ ist 371 Millionen Mal angeklickt worden und damit das meistgesehene des Jahres. Aber ich denke, das war gar nicht ihre primäre Absicht. Das Video steht eher für das verzweifelte Bemühen einer Generation, sich von ihren leider ziemlich coolen, weil popsozialisierten Eltern abzugrenzen.

Es ist ja natürlich, dass sich eine heranwachsende Generation von der vorigen abgrenzen will. Das bedeutet: ein Geheimnis schaffen, eigene Codes kreieren, Konflikte inszenieren. Früher gab es dafür ein einfaches, effektives Mittel – nämlich Pop- und Rockmusik. Hier griff die Zehn-Jahres-Regel, also: Etwa alle zehn Jahre tauchte eine neue, die Alten verstörende Stilrichtung auf.

Das lässt sich durchdeklinieren von Rock’n’Roll über Beat und die Hippie-Bewegung, über Punk und Techno bis hin zur Übertragung der US-amerikanischen Hip-Hop-Gangstarapper nach Deutschland. Dass Jugendliche mit neuen Musikstilen so gut provozieren konnten, lag auch daran, dass die Erwachsenen mit ihrem Eintritt ins wahre Leben, also mit Job, Partner, Kindern und Haus, auch ihren eigenen Rock-’n’-Roll-Lifestyle abgelegt haben – und sich dann entweder der Hochkultur, sprich Klassik und Jazz, zugewandt haben oder aber, bei geringerer Bildung, freiwillig ins Schlager- und Volksmusiklager gewechselt sind. Die waren dann saturiert, und man konnte sie gut schocken mit neuartiger Musik.

Den Gefallen tun wir heutigen Erwachsenen unseren Kindern leider nicht mehr. Wir interessieren uns weiterhin für Pop- und Rockmusik, informieren uns auch. Im Gegensatz zu unseren eigenen Eltern früher haben wir den massiven Vorteil, dass wir dank des Internets sehr schnell direkte Zugänge in alle Szenen bekommen, die uns sonst womöglich verschlossen blieben. Ich sehe das an mir selbst: Ich kenne keinen Musikstil von Dubstep bis Minimal Techno, bei dem ich der Meinung wäre, ich hätte ihn nicht verstanden. Klar mag ich das nicht alles, aber ich begreife, worum es jeweils geht, was die Akteure wollen.

Unsere Generation ist extrem übergriffig. Wir eignen uns Codes der Jugendlichen einfach an, besetzen sie, auch sprachlich. Da gibt es jetzt zum Beispiel das blöde Wort „Babo“. Das verstehen wir vielleicht nicht direkt, aber küren es dann eben zum „Jugendwort des Jahres“ und adaptieren es somit. Ein anderes Beispiel: Wenn ich im Hotel einchecke, sagen mir Menschen in meinem Alter Sätze ins Gesicht wie „Da drüben können Sie gut chillen“. Chillen! Die reden wie meine Töchter, sind aber 20 Jahre älter.

Ein ikonenhaftes Bild

Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ ist das meistgeklickte Video des Jahres.
Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ ist das meistgeklickte Video des Jahres.
© pa/Photoshot

Pop- und Rockmusik reicht heute nicht mehr aus, um sich von seinen Eltern zu distanzieren. Meine eigene Tochter hat in ihrer Abgrenzungsnot angefangen, Mainstream-Countrymusik zu hören. Dolly Parton und so einen Quatsch. Das hat bei meiner Frau und mir allerdings Lachkrämpfe ausgelöst, und das war dann auch nicht zielführend.

Es braucht also andere Mittel zur Provokation. Jungs tauchen gern in Egoshooter oder ähnliche Computerwelten ab, die Papi nicht mehr versteht. Bei Mädchen kann das leichte Bekleidung sein. Die ärgert Eltern enorm.

Dass sich Popstars nackt ausziehen, ist spätestens seit Madonna nicht weiter aufregend, wobei die im Gegensatz zu Miley Cyrus ein stimmiges Gesamtkonzept hatte. Aber Madonna kam aus einer anderen Ecke. Sie war vor ihrem Nacktsein kein Teenie-Sternchen – sie war nicht Disneys brave „Hannah Montana“, die unschuldige, anständige Schülerin.

Ich glaube nicht, dass hinter „Wrecking Ball“ ein cleverer Marketingmanager steht. Aus meiner eigenen Zusammenarbeit mit Künstlern weiß ich: So was kann man niemandem einreden. Das Grundbedürfnis der Provokation und Abgrenzung kommt von Miley Cyrus selbst, die Berater haben höchstens dabei geholfen, ein ikonenhaftes Bild zu schaffen.

Ich bin überzeugt, der nackte Ritt auf der Abrissbirne und auch ihr „Twerking“ genanntes Powackeln bei den Video Music Awards hat enorm viel mit Billy Ray Cyrus zu tun. So heißt Mileys Vater, ein Countrysänger, und was uns Deutschen gar nicht so klar ist: In den USA wird Billy Ray Cyrus als ziemlich coole Sau gehandelt. Da scheint es umso schwieriger, sich irgendwie von diesem lockeren Vater abzugrenzen. Ach, fast möchte man sich aus Solidarität gleich mitausziehen.

Manchmal kippt es allerdings ins Lächerliche. Im Video gibt es zum Beispiel eine Szene, in der sie mit ausgestreckter Zunge leidenschaftlich einen Vorschlaghammer ableckt. Da hat sie es übertrieben. Mich erinnert das an den Loriot-Sketch „Weihnachten bei Hoppenstedts“, in dem der kleine Junge vor seinen Eltern partout kein Weihnachtsgedicht aufsagen will und stattdessen immer „Zicke-Zacke, Hühnerkacke“ sagt.

Das wirkt dann nicht mehr provokant, sondern eher niedlich.

Der Autor, 48, managt mit seiner Firma Motor Entertainment Künstler. Gerade erschien im Berlin-Verlag sein Buch „Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten: Die Wahrheit über die Popindustrie“.

Tim Renner

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