Lichtverschmutzung: Die dunklen Städte in der Rhön
Wer Sterne sehen will, braucht Dunkelheit. In der Rhön kämpfen Aktivisten deshalb gegen Lichtverschmutzung. Ein Bürgermeister ist strikt dagegen
Über den Golfplatz von Hofbieber hat sich die Nacht gelegt wie ein schwarzes Tuch. Nur eine Laterne wirft ihren matten Schimmer auf den Weg, der an den Grüns vorbeiführt. „Lichtverschmutzung“ schnaubt Sabine Frank und zieht weiter Richtung Dunkelheit.
100 Meter den Hang hinab hat die Nacht das Licht der Laterne verschluckt. Unten im Tal, wo sich die letzten Berge der Rhön in der Ebene verlieren, blitzen die Lichtkegel vorbeifahrender Autos auf. Sonst: Schwärze. Sabine Frank bleibt stehen und legt den Kopf in den Nacken.
Jeder dritte Deutsche, das sagt eine Studie, hat noch nie die Milchstraße gesehen. In der Rhön spannt sie sich silbrig schimmernd von Horizont zu Horizont. Statt ein paar Dutzend Sternen wie am Himmel über Berlin blinken hier zwei- bis dreitausend. Der Laie sieht ein Wimmelbild. Sabine Frank sieht ein Netz aus unsichtbaren Pfaden, Sternbildern und Geschichten.
Für Frank, 43, braune Haare, wache Augen, ist es ein besonderer Abend. Seit 2007 veranstaltet die Hobby-Astronomin Sternenführungen auf dem Golfplatz ihres Heimatorts Hofbieber. Doch dies ist die erste, seit die Rhön, das Mittelgebirge an der Kreuzung von Bayern, Hessen und Thüringen, offiziell zu einem Sternenpark ernannt wurde.
Die International Dark-Sky Association (IDA) zeichnet mit diesem Titel Regionen aus, in denen es nachts besonders dunkel wird. Weltweit sucht sie nach Inseln im Lichtermeer der modernen Zivilisation, propagiert den Kampf gegen die Lichtverschmutzung: gegen zu helles Licht, überflüssiges und solches, das buchstäblich sein Ziel verfehlt und sinnlos in die Atmosphäre strahlt. Der IDA und ihren Mitstreitern geht es nicht nur um den ungestörten Blick auf die Sterne. Sie wollen der aus ihrer Sicht vergessenen Hälfte des Umweltschutzes zu ihrem Recht verhelfen: dem Schutz der Nacht. Die falsche Beleuchtung zerstöre „natürliche Nachtlandschaften“, sie schade nachtaktiven Tieren und Pflanzen. Und auch dem Menschen.
2006 entstand im US-Bundesstaat Utah der erste Dark Sky Park, 2009 folgte der Galloway Forest Park in Schottland, der erste in Europa. Dass die IDA Anfang August auch die Rhön zum Sternenpark ernannte, liegt vor allem daran, dass Sabine Frank auf einer ihrer Sternwanderungen vor fünf Jahren den Steinbock nicht finden konnte.
Der Steinbock ist ein Sommersternbild, knapp über dem Horizont. Normalerweise eine leichte Übung für Frank. Doch an diesem Abend war der Steinbock weg.
Erst traute sie ihren Augen nicht, aber dann, so erzählt sie heute, dämmerte es ihr. In Fulda, gut zehn Kilometer westlich von Hofbieber, war ein Gewerbegebiet gebaut worden. Neue Häuser und viel neues Licht, das von unten in den Himmel drückte. Der Steinbock, da ist sich Frank sicher, wurde Opfer der Lichtverschmutzung. Sie beschloss, dem „Artensterben am Himmel“ nicht länger tatenlos zuzusehen.
Frank begann zu messen. An 150 Orten in der Rhön streckte sie ein kleines schwarzes Gerät in Richtung Sterne, das den Grad der Dunkelheit in Zahlen übersetzt. Die Werte überraschten sie selbst. An den dunkelsten Stellen der Rhön ist es so dunkel wie an den dunkelsten Stellen Namibias.
In einem Sternenpark, so schreibt es die IDA vor, müssen 80 Prozent der betroffenen Kommunen einem Beleuchtungskonzept zustimmen. Wenn sie neue Straßenlampen installieren oder alte austauschen, soll das Licht wenig Blauanteil enthalten und nach oben abgeschirmt werden. Das Anstrahlen von Gebäuden ist möglichst zu vermeiden, und wenn überhaupt, dann von oben nach unten.
Also schrieb Frank an die Bürgermeister der Rhön, tingelte durch Kommunalversammlungen. Sie erzählte von Zugvögeln, die das Licht am Boden aus der Bahn wirft, und von Insekten, die an Straßenlaternen verglühen. Sie berichtete von Menschen, die im Schlaf nicht mehr ausreichend Melatonin produzieren, weil das blaustichige Licht ihr Hormonsystem durcheinanderbringt. Und sie erklärte, dass die Kommunen Energie und damit Geld sparen könnten. Frank hat viel Überzeugungsarbeit geleistet. Die Urkunde, in der die IDA den Sternenpark Rhön offiziell anerkennt, hängt jetzt in ihrer Wohnung an der Wand.
Frank hat auch einen Brief nach Geisa geschickt, an Martin Henkel. Aber Martin Henkel hat sie nicht überzeugt.
Der Bürgermeister schaut gern "Star Trek"
Geisa ist ein schmuckes 4500-Einwohner-Städtchen im thüringischen Teil der Rhön. Die Kopfsteinpflastergassen sind sauber, die Altbaufassaden bunt und aufgeräumt, das Rathaus frisch saniert. Henkel, 39, hat sein Amtszimmer im ersten Stock, er trägt Anzug und lila Krawatte.
Zur Entspannung sieht Henkel oft „Star Trek“. Er betrachtet auch gern den Sternenhimmel. Besonders mag er den Blick von seinem Balkon aus, wenn oben die Milchstraße funkelt und unten das Schloss von Geisa, von Strahlern prachtvoll illuminiert. Von unten nach oben.
Auf Henkels Tisch liegt ein dicker Aktenordner, aus dem er eine Karte der Rhön fischt. Grün sind die Gemeinden, die den Beleuchtungsrichtlinien zugestimmt haben. Blau sind die Gemeinden, die noch abstimmen müssen. Geisa ist der rote Fleck im Norden der Rhön. Rot heißt abgelehnt.
Aber Geisa hat nicht einfach abgelehnt. Ende Juli schickte Henkel auch einen Brief an die IDA, nach Tucson, Arizona. Betreff: „Antrag auf Nichtanerkennung des Sternenlichtreservates ,Sternenpark Rhön‘“.
Der Antrag wurde nicht angenommen, doch für Henkel macht das keinen Unterschied. „Der Sternenpark existiert für die Stadt Geisa nicht“, sagt er. Man ahnt, dass es hier nicht nur darum geht, ob Geisa sein frisch restauriertes Schlossensemble nachts in Szene setzen darf. Es geht um Grundsätzliches.
„Wenn ich höre, dass sich die Lichtverschmutzung“ – Henkel malt Anführungszeichen in die Luft – „in den letzten 150 Jahren verzehnfacht hat, sage ich: Ja, da war was. Da wurde die Elektroenergie erfunden.“ Ein Sternenpark ist in seinen Augen „ganz klar fortschrittsfeindlich“. „Menschen sind da, wo Licht ist. Ohne Licht vertreibt man sie.“
Auch Martin Henkel hat die Geschichte vom verschwundenen Steinbock gehört. Auch er hat seine Schlüsse daraus gezogen. „Wenn die Dame sich motiviert fühlt, mobil zu machen, weil ein neues Gewerbegebiet, neue Arbeitsplätze entstanden sind, dann halten wir dagegen.“
Geisa, sagt Henkel, ist eine Stadt, die „dem demografischen Wandel trotzt“. Die Einwohnerzahl ist seit der Wiedervereinigung konstant, die Gewerbesteuereinnahmen stiegen von einer halben Million vor acht Jahren auf anderthalb im letzten Jahr. Ein bescheidener Aufschwung. Henkel befürchtet, dass die Beleuchtungsrichtlinien Geschäfte und Firmen abschrecken. Er sieht sie als Wettbewerbsnachteil, und davon hat Geisa in seinen Augen genug. Die Stadt liegt im Einzugsgebiet diverser Natur-, Landschafts- und Vogelschutzgebiete, und die Vorschriften, die damit verbunden sind, schnürten Geisa die Luft ab. Die Stadt verweigere sich nicht dem Naturschutz, sagt er, im Gegenteil. Aber als der Brief von Sabine Frank auf seinem Schreibtisch lag, habe sich sein Eindruck verstärkt, dass in der Rhön „das langfristige strategische Ziel verfolgt wird, einen großen Naturpark zu schaffen, indem man die Menschen möglichst zurückdrängt“.
Für andere Regionen in der thüringischen Rhön, wo es ein „Sterben auf Raten“ gebe, wo die jungen Leute weggingen, könne der Sternenpark ein Weg sein, um zumindest den Tourismus zu beleben, sagt Henkel. Für Geisa sei er nur eine weitere Einschränkung, die Entwicklung verhindere. Mit dieser Angst scheint er nicht allein zu sein. 2006 haben ihn die Einwohner Geisas zum Bürgermeister gewählt, mit etwas mehr als der Hälfte der Stimmen. Vor zwei Jahren wurde er im Amt bestätigt. Mit 97 Prozent.
Sabine Frank hält Henkels Argumentation für „reine Polemik“. Für Firmen sieht sie die Beleuchtungsrichtlinien sogar als Anreiz, böten sie doch die Chance auf eine ökologische Imagepolitur. Und vor allem handle es sich nicht um Vorschriften, sondern um Anregungen, ohne jede rechtliche Bindung. „Es ist eine freiwillige Selbstverpflichtung, eine Haltung.“
Henkel kontert: „Was jetzt freiwillig ist, wird morgen mit Zwang umgesetzt.“
„Der bringt mich in Wallung“, sagt Frank, und das ist ziemlich untertrieben. Dass Henkel ein „Bürgermeister in der falschen Region“ sei, dass seine Stadt beleuchtet sei „wie ein Atomreaktor“, dass es mit Geisa einen „Krieg der Sterne“ gebe, sind noch die freundlicheren Worte. Sie sagt auch, dass Henkel „Grenzen im Kopf“ habe.
Geisa war einst die westlichste Stadt des Warschauer Pakts
Bevor die Mauer fiel und Geisa in die geografische Mitte des wiedervereinigten Deutschlands rückte, lag die Stadt genau da, wo sich Westen und Osten Nase an Nase gegenüberstanden. Geisa war die westlichste Stadt des Warschauer Pakts. Keine drei Kilometer entfernt hatten die Amerikaner Point Alpha errichtet, ihren östlichsten Stützpunkt in Europa.
Die Grenze ist weg, Point Alpha längst eine Gedenkstätte, doch glaubt man Martin Henkel, dann sind die Erinnerungen von damals noch immer leicht entzündlich. Er findet es deshalb „sehr unglücklich“, dass im Naturschutz und auch im Sternenpark immer von „Zonen“ gesprochen werde: Kernzone, Pufferzone, Pflegezone. „Bei uns hingen früher überall die Schilder: ,Sperrzone, betreten verboten‘. Das haben die Menschen noch im Kopf. 1989 haben wir uns die Freiheit erkämpft. Jetzt kommen neue Truppen und wollen uns etwas vorschreiben.“
Ist der Streit um den Sternenpark in der Rhön also doch das, was man im Jahr 2014 kaum zu fragen wagt: eine Ost-West-Geschichte?
Das letzte Augustwochenende. Auf einer Wiese am Ortsrand von Gülpe haben die Sternliebhaber, die sich hier zum „4. Westhavelländer Astrotreffen“ versammeln, ihre Zelte aufgeschlagen. Hinter der kleinen Tribüne, dem einzigen Hinweis, dass hier mal ein Sportplatz war, fließt die Havel, vor den Zelten stehen Teleskope, sorgsam in Plastiküberzüge gewickelt.
Es ist Nachmittag, Sterngucker-Siesta. Einer zeigt stolz sein kleinwagengroßes Newton-Teleskop mit 3245 mm Brennweite. Ein anderer sagt, dass er aus Frankfurt am Main angereist sei, wo er nicht mal den Großen Wagen sehe. In Gülpe habe die Milchstraße in der Nacht zuvor einen Schatten auf seine Hand geworfen.
Gülpe hatte mal 600 Einwohner. Heute sind es 160. Das einzige Gasthaus öffnet nur auf Anfrage. Gülpe hat nicht viel, aber einen ziemlich dunklen Nachthimmel. Vielleicht den dunkelsten, den es in Deutschland gibt.
Andreas Hänel sitzt an einer Bierbank im Festzelt am Wiesenrand. Seine Füße stecken in bequemen Sandalen, das T-Shirt mit dem IDA-Logo spannt über dem Bauch. Der 60-jährige Hänel ist promovierter Astrophysiker, er leitet die Sternwarte in Osnabrück. Und er ist der deutsche Vorkämpfer gegen die Lichtverschmutzung.
Seit Februar ist das Westhavelland, eineinhalb Autostunden westlich von Berlin, Deutschlands erster Sternenpark. Auch hier habe es Widerstände gegeben, sagt Hänel, „massive Widerstände“. Das Licht sei eben ein sensibles Thema. Doch am Ende hätten sich alle Kommunen überzeugen lassen, „in einer sachlichen Diskussion“. Genau die vermisst Hänel im Streit mit Geisa. Henkel verbreite „Stammtischparolen“, doch in Wirklichkeit habe er die „Zeichen der Zeit“ nicht erkannt. Hänel sieht die Sternenparks nicht nur als Schutzzonen, sondern als Modell für die Beleuchtung von morgen: effektiv und umweltschonend. „Wir verlangen nichts Exotisches“, sagt er.
Am Nachmittag findet im Festzelt eine Pressekonferenz statt. Kurz vorm Ende steht aus dem Publikum ein Mann auf und bittet die Journalisten, das Wort vom „dunkelsten Ort Deutschlands“ doch lieber zu vermeiden. Stattdessen könnten sie der „funkelndste Ort“ schreiben, rät eine Frau, „Ort mit dem schönsten Sternenhimmel“ empfiehlt ein anderer. Und dass es in Gülpe auch am Tag sehr schön sei, das könne man doch ebenfalls einbauen. So ganz geheuer scheint den Menschen in Gülpe ihr Alleinstellungsmerkmal noch nicht zu sein.
Paul Munzinger
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