Mutprobe: Die Angst des Springers vor dem Zehn-Meter-Brett
Füße voran, Arme an den Körper pressen. Geschwindigkeit beim Aufprall: 50km/h. Klar braucht es Überwindung. Zum Glück sitzt der Badeanzug perfekt.
Eine klassische Mutprobe. Die erste auf meiner Liste. So was lässt sich schnell erledigen, dachte ich. Klar braucht es Überwindung, aber vor allem: Ich bin schon mal vom Siebeneinhalber! Genau genommen fehlten also bloß noch zweieinhalb Meter Mut.
Es war Herbst, drum verschob ich das Vorhaben aufs nächste Jahr. Trotz des Dauerwinter-Gejammers war überraschend schnell wieder Sommer, und ich stellte fest, dass ich keinen Badeanzug hatte. Mit Bikini kannst du so einen Sprung vergessen. Da bist du unten und der Bikini noch nicht.
Man macht sich ja keine Vorstellung davon, wie schwer es ist, den richtigen Einteiler zu finden. Es kamen Temperaturen von über 30 Grad, ich trug die jüngste Ladung bestellter Badeanzüge (zu bieder, zu grell, zu sportlich, zu dekolletiert) zur Retourenannahmestelle.
Als ich schließlich ein teures Exemplar besaß, schoss mir durch den Kopf, wie unprofessionell es wäre, einfach zu springen. Ein guter Journalist liest sich ein. „Die sicherste Technik: Füße voran, Arme an den Körper pressen, Körperspannung aufbauen, um ein Nachvornekippen zu vermeiden.“ Missglückte der Sprung, könnten Trommelfellverletzungen oder Brüche die Folge sein. Die Geschwindigkeit beim Aufprall beträgt 50 km/h. Unklug, jetzt zu springen, wo die lästige Schnittwunde an meinem Zeigefinger gerade verheilte, entschied ich.
Der Turm ist wieder geöffnet
„Da gucke ich die Öffnungszeiten nach und lese, die Saison ist vorbei!“ Das war Anfang September. Lautstark ärgerte ich mich. Kurz darauf legte mir ein Kollege einen Artikel hin, in dem stand, dass das Freibad seine Saison wegen des tollen Wetters verlängert habe.
Auf den weitläufigen Wiesen räkeln sich Paare, auf der Rutsche jauchzen Kinder. Der Sprungturm wirft einen bedrohlichen Schatten. Aus den Augenwinkeln verfolge ich, wie andere Schrauben, Köpfer, sogar Arschbomben vom Zehner machen.
Mit einem Mal schrecklich hungrig, kaufe ich eine Portion Pommes, nach der ich mich – oberste Baderegel! – erstmal eine Stunde auf meinem Handtuch ausruhe. Der Turm ist wieder geöffnet, da entsinne ich mich einer weiteren: Warmschwimmen! „Letzte Chance“, schallt deutlich später die Stimme des Bademeisters durchs Megafon.
"Alter, ist die eingeschlafen?"
Die Sprossen fühlen sich feindselig an. Der Weg empor erscheint endlos. Bereits auf halber Strecke denke ich: Oha. Zehn Meter plus fünf zum Grund, macht bei einer Körpergröße von 1,73 Meter gut 16 Meter Gesamthöhe – ein optischer Schock. Wie ich da am Rand der nassen Betonplattform stehe, weiß ich wieder, dass ich nach meinem Siebenersprung meinte, mein Brustkorb würde platzen. Ich war elf. „Bauchklatscher aus der Höhe, da wird die Wasseroberfläche zu Beton“, hatte der Bademeister kommentiert.
Sein Kollege blickt zur Uhr. „Alter, ist die eingeschlafen?“, witzelt jemand. Ein anderer versucht, mich durch Buh-Rufe zu erschrecken. Ich spüre die Blicke unzähliger Halbstarker auf mir. Meine Zehen krallen sich an die Kante. Unerträgliche Sekunden. Mir ist, als passierte alles in Zeitlupe. Ich höre Gejohle, Gegröle. Rücken gerade!, denke ich, gebe mir große Mühe, unbeeindruckt auszusehen, als ich Stufe für Stufe die Leiter wieder hinunterklettere.
Das Wort Pussy dringt an mein Ohr, ein Typ bietet mir an, in seiner Badewanne zu üben, irgendwer klopft auf meine Schulter, einige klatschen. Ich habe die ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich glaube, es ist das Mutigste, das ich je gemacht habe. Und ich bin froh, dass ich dabei den perfekten Badeanzug trage.
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