Richard David Precht: Der Tierpark, meine große Liebe
Richard David Precht kennt hier jedes Gehege, jede Seekuh, verehrt den Ex-Direktor und sagt: Berliner, besucht euer fantastisches Naturtheater!
Der Kuttengeier ist ein athletischer Vogel, sagt Richard David Precht, sehen Sie, wie der da hinten herumläuft? Der gehört zu den größten Altweltgeiern – so wie der Schneegeier dort oben. Und sehen Sie den Gänsegeier da, dessen Gefieder so einen Milchkaffeeton hat? Nein, nicht der mit diesem bisschen farbigen Kopf, das ist ein Wollkopfgeier. Ah, sagt Precht, und da!, der Geselle mit den komischen Troddeln am Schnabel, das ist ein Neuweltgeier, ein Königsgeier ist das!
Allein vor der riesigen Greifvogelanlage des Berliner Tierparks könnte Richard David Precht Tage verbringen. Hat er ja auch schon gemacht. Kurz nach der Wende saß der Kölner hier eine Zeit lang von morgens bis abends auf einer Bank. Neben ihm lagen Schreibzeug und Bücher, die er für seine Promotion zu Robert Musil brauchte: „Die Souveränität der Kunst“, „Perspektiven der Kunsttheorie“, solche Sachen.
Precht war damals noch nicht der Intellektuelle für alle Fälle, der er heute ist, und an der Voliere mit ihrer Graslandschaft und der imposanten Rückwand aus Elbsandstein hing noch ein Schild, auf dem der NVA für ihre Unterstützung gedankt wurde. „Wenn Sie hier nur kurz stehenbleiben, sehen Sie gar nichts. Aber nach ein paar Stunden kriegen Sie die Hackordnung unter den Tieren mit und all sowas“, sagt Precht. Also wanderte sein Blick regelmäßig von seinen Notizen zu den Vögeln hinter dem grobmaschigen Gitter. Und manche der Vögel schauten zurück. „Es gab da diesen Rabengeier, der mich immer beobachtete.“
Precht hat Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte studiert, bekannt geworden ist der 48-Jährige mit dem Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“, in dem er philosophische Fragen und Erkenntnisse aus der Hirnforschung zusammenführt. Doch seine größte Passion ist die Zoologie, sind Fische und Greifvögel. Der Duft eines Löwenkäfigs löst bei Precht Glücksgefühle aus. Schon als Kind wollte er Zoodirektor werden, und zwar genau hier in Friedrichsfelde.
70, 80 Mal hat er den Tierpark schon besucht. Im Sommer zieht es ihn besonders zu den Adlern, im Winter zu den Kamelen auf ihren eingeschneiten Wiesen. Der Tierpark ist für Precht der schönste Zoo Europas, wenn nicht der ganzen Welt – beinahe gleichauf mit dem in Chicago. Weitläufig, grün und ruhig sei es hier, kaum ein interessantes Tier fehle. Und weil er die Anlage so sehr liebt, macht Precht sich große Sorgen. Aber dazu später mehr.
Direkt neben der Greifvogelvoliere befindet sich das Alfred-Brehm-Haus von 1963, 5300 Quadratmeter groß und mit einer Tropenhalle im Zentrum. Precht steht vor einer der zwei Felsenanlagen im Innern und blickt hinüber zu der Raubkatze hinter Geländer und Wassergraben. „Das ist ein Sumatratiger, die kleinste noch lebende Unterart des Tigers“, sagt er. „Den kann man daran erkennen, dass er ganz eng gestreift ist – eine Katze, die wirklich im Regenwald lebt.“ Dann schaut er an die Decke. „Durch die Öffnung dort wird die Anlage mit Tageslicht angestrahlt.“ Gründungsdirektor Heinrich Dathe, von 1954 bis 1990 im Amt, habe alle Tiere wie auf einer Bühne präsentieren wollen. Der Tierpark als Naturtheater. Auch im denkmalgeschützten Brehm-Haus sei das „grandios gelungen“. Der Bau erinnert Precht an Le Corbusier, „er ist das Meisterstück von Heinz Graffunder, der auch den Palast der Republik entwarf.“
Wie seine Faszination begann
Mit einem Bild des Brehm-Hauses begann einst Prechts Faszination. Er sah das Foto in einem Tierparkführer, den er 1974 bei einem Besuch in der DDR geschenkt bekam. Precht wuchs in Solingen auf, die Eltern waren Linke, standen zwischenzeitlich der DKP nahe. Wovon er in dem Büchlein las, beeindruckte den kleinen Richard David nachhaltig, nicht nur die monumentalen Gebäude des Tierparks, sondern vor allem dessen Fläche von 160 Hektar. „Das war ja zehn Mal so groß wie die Zoos in Hannover und Wuppertal, die ich bis dahin kannte. Noch heute ist der Tierpark der größte innerstädtische Zoo der Welt.“ Der geliebte Großvater hatte Prechts Interesse an Tieren geweckt, obwohl die vielen Zoobesuche eher eine Verlegenheitshandlung waren. Der Opa wusste nicht recht, was er sonst tun sollte mit dem Jungen.
Das erste Mal in Friedrichsfelde war Precht an einem neblig-diesigen Oktobertag im Jahr 1980. Am Morgen passierte die Familie gemeinsam den Grenzübergang Friedrichstraße, dann fuhren er und sein jüngerer Bruder mit der U-Bahn allein zum Tierpark – und blieben dort bis zum Abend. Der 15-jährige Richard David musste damals feststellen, wie unfertig der Park noch war, und dass nicht alles so großartig aussah, wie er es sich ausgemalt hatte. „Trotzdem bin ich mit tiefer Liebe nach Hause gegangen.“
Bis zum nächsten Besuch vergingen neun Jahre, dann aber wurde Precht, wie beschrieben, zum Dauergast vor der Greifvogelvoliere. Nach dem Mauerfall pendelte er zwischen Köln und Berlin, verbrachte viel Zeit bei Freunden in Mitte. „Das war damals unglaublich aufregend, ein Abenteuerspielplatz für die Kinder des Westens.“ Die Atmosphäre jener Berliner Jahre beschrieb er 2003 in seinem Roman „Die Kosmonauten“, der von der Liebe zweier Zugereister erzählt. Um Geld zu verdienen, wird der männliche Protagonist – Tierparkpfleger.
Auch eine Figur, die stark an Direktor Dathe erinnert, taucht in dem Buch auf. Precht selbst ist Dathe nie begegnet, aber er hat mit vielen Weggefährten gesprochen. Wenn er von ihm erzählt, hört man Bewunderung heraus. „Er war ein hervorragender Zoologe und verstand es, die Interessen des Tierparks zu vertreten.“ Charmeur, Entertainer und Machtmensch sei er gewesen, DDR-weit bekannt dank einer Fernsehsendung. „Der SED, in die er nie eingetreten ist, blieb er immer sanft verdächtig.“
Für die Staatsführung war der Tierpark natürlich ein Renommierobjekt, „ähnlich der Stalin-Allee“. Doch das ändere nichts an Dathes Lebenswerk. Als unser vierstündiger Spaziergang an diesem Samstagnachmittag beginnt, deutet Precht gleich hinter dem Eingang auf die weiten Wiesen und beschatteten Flächen links des Wegs, die nur durch einen Graben von den Besuchern getrennt sind. „Die Bison- und Kamelanlagen hier sind kunstvoll und typisch für Dathes Konzept“, sagt er. „Er wollte möglichst ohne Zäune arbeiten, Absperrungen sollten nicht als Hindernisse wahrgenommen werden. Und die Tierhäuser sollten echte Kunstwerke oder versteckt sein.“
1990 musste der Direktor von einem Tag auf den anderen gehen, weil er mit seinen 80 Jahren laut Einigungsvertrag zu alt war für den Posten. Kurz darauf starb er. „Wie man ihn behandelt hat, war eine Riesensauerei.“ Es ärgert ihn auch, wie mit dem Andenken an den Gründer umgegangen wird. Im Brehm-Haus bleibt er neben einer Dathe-Büste stehen. „Das ist fast der einzige Hinweis auf den Mann, der das alles möglich gemacht hat. Vergleichen Sie das mal mit der Art, wie im Frankfurter Zoo an Bernhard Grzimek erinnert wird.“
Precht ruft: "Eine Seekuh!"
Weiter geht es ins Dickhäuterhaus. „Der Tierpark ist der einzige deutsche Zoo, der sowohl asiatische als auch afrikanische Elefanten besitzt“, erzählt Precht. Das Gebäude selbst (auch von Architekt Graffunder) findet er weniger gelungen, vor allem sei es innen nach heutigen Massstäben nicht geeignet für die Haltung von Elefanten. Es riecht nach dem Heu, das die Tiere gerade bekommen. Kinder wuseln durch die Gegend. Precht läuft auf das große Wasserbecken in der Mitte zu. „Eine Seekuh!“, ruft er, während er durch ein Sichtfenster auf den riesigen Hintern derselben blickt, und dann beginnt wieder einer jener atemlosen Precht’schen Vorträge, bei denen man in ein paar Minuten mehr lernt als früher in einer ganzen Stunde Bio-Unterricht: „Das ist auch ein Highlight, denn Seekühe sind selten in Tierparks. Gehören zur Familie der Sirenen. Die hier stammt aus dem Amazonas. Solche Seekühe heißen Manatis. Liegen den ganzen Tag im Wasser und fressen, weit über eine Tonne schwer sind die. Hinten haben sie diesen gewaltigen Plattschwanz. Eine andere Seekuh-Art: die Dugongs, die leben im Roten Meer, haben einen gegabelten Schwanz. Man teilt deshalb ein in Rundschwanz-Seekühe und Gabelschwanz-Seekühe...“
An den Wänden des Gebäudes stehen Elefanten angekettet in Einzelzellen. „Schau’n Sie, was die machen!“ Precht ahmt jetzt die Bewegungen der Tiere nach. Er beugt sich nach unten, lässt seine Arme schaukeln, wankt mit den Beinen hin und her. „Das ist eine Verhaltensstörung, wegen der Gefangenschaft.“ Zwar seien Elefanten sehr gefährlich, doch in neuen Häusern gebe es bessere Möglichkeiten, sie unterzubringen. „Im Zoo Köln können sie wie in der Natur als Herde leben, ganz ohne Ketten.“
Precht hat sich intensiv mit der Kritik an Zoos auseinandergesetzt, das Thema taucht in „Noahs Erbe“, einem frühen Buch von ihm, auf. „Es gibt Tiere, die kann man im Zoo nicht artgerecht halten, etwa Eisbären und Delfine. Bei anderen ist es kein Problem, wenn die Bedingungen stimmen.“ Im Tierpark seien diese noch nicht optimal, aber ziemlich gut.
Zeit für eine Pause in der Caféteria. Das einstöckige Gebäude atmet die Atmosphäre der 60er und 70er Jahre. Eine Seite des Speisesaals ist ganz mit Holz verkleidet, mit Ausnahme der quaderförmigen Aquarien, die in die Wand eingelassen sind. Die Becken erregen sofort Prechts Aufmerksamkeit, besitzt er doch selbst ein großes Aquarium. Er deutet auf ein Paar Seepferdchen. Das mit dem prallen Bauch sei das Männchen, erzählt er, denn das trage die Jungen aus. „Das sind sanftmütige und sehr anhängliche Tiere. Ihr Liebesspiel dauert ewig. Tagelang ringeln die sich hoch und runter, führen Tänze auf.“
Die Caféteria ist fast leer, und das an einem Samstag. Daran kann nicht nur das regnerische Wetter schuld sein. „Der Tierpark hat ein Imageproblem“, sagt Precht, während er mit seiner Tasse Kaffee an einem der vielen unbesetzten Tische Platz nimmt. Etwa eine Million Besucher gibt es jährlich, im West-Berliner Zoo sind es drei Mal mehr. Klar, die geografische Lage ist ungünstig: „Welcher West-Berliner oder Tourist verirrt sich hierher?“ Precht findet: Die Stadt muss begreifen, was für eine großartige Anlage sie hier hat und diese, so wie sie ist, viel offensiver vermarkten. Völker der Welt, schaut auf diesen Zoo!
Die bisherigen Ideen, aus den roten Zahlen herauszukommen, überzeugen ihn nicht. Er fürchtet, dass der Tierpark „vermätzchend“ wird. „Da gibt es dann eine Bimmelbahn und an jeder Ecke eine Bespaßung, bei der Kinder auf irgendwelche Knöpfe drücken müssen.“ Ein noch schlimmeres Szenario: Dass McKinsey kommt, ein Teil des Geländes verkauft oder eine Achterbahn gebaut wird.
Bisher hat Direktor Bernhard Blaszkiewitz, der 1991 auf Dathe folgte, jede Entwicklung in Richtung Disneyland verhindert. „Das muss man ihm hoch anrechnen“, sagt Precht, der nicht von allem, was Blaszkiewitz macht, begeistert ist. Vor allem nicht von den Bauten, die unter dessen Ägide entstanden sind. Die meisten sähen aus wie irgendwas zwischen Garagenanbau, Sporthalle und JVA. Zu viele Klinkerwände, zu viele Zäune, zu wenig Charme.
Zum Beispiel die Voliere für Riesenseeadler. Viele Meter hoch ist sie, so wie auch die Tiere mit ihrem wuchtigen gelben Schnabel und dem braun-schwarzen Gefieder eine stattliche Größe haben. Die Vögel leben in Nordostasien, entlang der Küste, von Kamtschatka bis Korea. „Ich finde, das muss sich widerspiegeln in einer solchen Anlage, mit einer Felsrückwand und der entsprechenden Vegetation, Kiefern und so weiter“, sagt Precht. „So dass man sich als Besucher in eine andere Sphäre versetzt fühlt.“
Mittlerweile ist es halb acht, vor einer halben Stunde haben die Häuser des Tierparks geschlossen, aber die riesige Anlage wird abends nicht abgeriegelt. Kaum einem Menschen begegnet man jetzt noch. „Im Zoo hätten sie uns schon rausgeschmissen.“ Precht spaziert an Davidshirschen, Japanmakaken und mongolischen Pferden vorbei. Der Himmel ist leicht bedeckt, Wind streift durch Farne und Bäume am Wegesrand. In der Gibbonanlage, einem Teich mit kleinen Inseln und einem asiatisch anmutenden Häuschen darauf, hockt ein Affe träge zwischen Bambusrohren. „Das Kontemplative“, sagt Richard David Precht, „mag ich am meisten am Tierpark.“
Björn Rosen
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