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Noch bis zum 4. Mai dauert die Re:publica 2012.
© dpa

Gesundheits-Apps auf der Re:Publica: Der Arzt für die Hosentasche

Symptome eintippen, Diagnose bekommen: Auf der Re:publica erklären Wissenschaftler und Unternehmer Chancen und Nebenwirkungen von Gesundheitsapps. Sehen Sie hier außerdem Live-Bilder von der Web-Konferenz.

Die gesundheitsschädigenden Auswirkungen von zu viel Medienkonsum sind hinreichend bekannt. Das begann damit, dass pädagogische Gruselliteratur Kinder vor eckigen Augen warnte, sollten sie zu viel fernsehen. In Zeiten des Internets warnen Mediziner und Psychologen vor sozialer Vereinsamung, einmal ganz abgesehen von den vielfältigen negativen Folgen des Sitzens in gebeugter Haltung. „Intensive Facebook-Nutzung“, warnt auch Kai Sostmann, Leiter des Kompetenzzentrums E-Learning der Charité, „kann besonders bei Menschen, die eine Prädisposition dafür haben, zu einem vermehrten Auftreten von Depressionen führen.“

Doch die Risiken und Nebenwirkungen streift Sostmann auf der diesjährigen Re:publica nur kurz, auf der Konferenz treffen sich schließlich vornehmlich die Netzoptimisten. Die Sequenz von Vorträgen, zu der auch Sostmanns Beitrag gehört, beschäftigt sich mit der Frage: Wie kann das Web 2.0 dazu beitragen, unsere Gesundheit zu verbessern? Denn in der Tat gibt es inzwischen einen beachtlichen Markt von Apps, Plattformen, Webseiten und „Serious Games“, ernsten Spielen, die alle zum Wohle der Gesundheit ihrer Nutzung arbeiten – oder ihnen zumindest helfen mit ihren Krankheiten besser umzugehen.

Sehen Sie hier Live-Bilder von der Re:publica:

Ansgar Jonietz berichtet von einem Patienten, der einen MRT-Befund seiner Schulter zugeschickt bekam. Darin hieß es: „In der flüssigkeitssensitiven Sequenz Nachweis eines ausgeprägten Knochenmarködems.“ Mit einer solchen Diagnose kann der Normalbürger so gut wie nichts anfangen. Er fragt sich weiterhin, ob er krank ist, und wenn ja wie schwer. Da die Dresdner Medizinstudenten Anja Kersten und Johannes Bittner diese Erfahrung häufig in ihrem Freundeskreis und in der Verwandtschaft machten und Befunde „übersetzten“, gründeten sie gemeinsam mit dem Informatiker Ansgar Jonietz das Portal „Was hab' ich“. Die Idee und auch die Webseite sind denkbar einfach: Auf www.washabich.de können Patienten ihre in medizinischer Fachsprache verfassten Befunde einschicken.

Video-Vorschau: Was es auf der Re:publica zu erleben gibt:

Die Emails erreichen ein Team von inzwischen 484 Medizinstudenten und 110 Assistenz- und Fachärzten, die die Befunde übersetzen und an die Patienten zurücksenden. Das gesamte Team arbeitet ehrenamtlich, eine Monetarisierung des Start-ups ist nicht geplant. Vor einem Jahr gegründet, hat www.washabich.de inzwischen einige Aufmerksamkeit erregt. Im Moment erscheint deshalb auf der Webseite die Ansage „Zur Zeit ausgelastet“ - nach dem letzten Fernsehbericht regnete es über 2000 Anfragen. Die große Nachfrage erklärt sich Ansgar Jonietz aber auch durch eine grundlegende Veränderung im Verhalten der Patienten: „Der Patient von heute möchte mitentscheiden können“, sagt er. Die Möglichkeit, sich im Internet zu informieren, habe längst zu einer „Emanzipation“ geführt. „Die Leute glauben nicht mehr an den 'Gott in Weiß'“.

Das Gesundheits-Web 2.0

Diagnose, immer öfter auch per Smartphone. Was kann das Internet bei gesundheitsfragen leisten, welche Gefahren gibt es?
Diagnose, immer öfter auch per Smartphone. Was kann das Internet bei gesundheitsfragen leisten, welche Gefahren gibt es?
© dpa

Das Wissen, selbst für die eigene Gesundheit zu sorgen und den Ausführungen ihrer Ärtze zu folgen, fehlt vielen Patienten allerdings oft schon bei sehr grundsätzlichen Fragen. Der E-Learning-Spezialist und Mediziner Kai Sostmann zeigt jetzt das Bild eines Burgers. „Wer weiß, wie viele Kalorien der hat?“, fragt er in den Raum. „1000?“, antwortet jemand zaghaft. Es sind nur rund 250, klärt Sostmann auf, für den Tageskonsum eines Kindes sind es aber trotzdem sehr viele, besonders, wenn noch ein Cola hinzu kommt. Übergewicht ist gerade unter weniger gebildeten Menschen ein großes Problem. Das liegt daran, das gesundes Essen manchmal mehr kostet. Aber auch an mangelndem Wissen. Und hier, meint Sostmann, kann das Web 2.0 helfen. Beim Diäthalten können heute schon Apps für das Smartphone den Menschen zur Seite springen. Sie vermessen etwa, wie viele Kilometer man gegangen oder gejoggt ist und errechnen den Kalorienverbrauch. Wer dabei eine Pulsuhr trägt, die mit dem Handy kommuniziert, kann das noch genauer erfassen. Weiter kombiniert mit einer App wie „Diet Coach“ lässt sich leichter mithalten, wie viel Energie man an einem Tag schon zu sich genommen hat und wie viel man verbraucht hat.

Auch für Menschen mit schwerwiegenden oder chronischen Erkrankungen gibt es bereits eine Reihe von Hilfestellungen aus dem Web. Apps, die an die Medikamenteneinnahme erinnern etwa. Oder das Computerspiel „Power Defense“, bei dem Kinder lernen, was bei Diabetes in ihrem Körper passiert. Oder die App iTriage, bei der man seine Symptome eingeben kann und gleich eine Reihe möglicher Diagnosen ausgespuckt bekommt. Und natürlich eine Unzahl von Selbsthilfegruppen und Beratungsangeboten in sozialen Netzwerken. Die sammeln sich zum einen bei den großen Anbietern Google und Facebook. Oder auf eigenen Plattformen wie „Patients like me“.

Die amerikanische Webseite ist wohl im datenschutzsensiblen Deutschland nur schwer denkbar. Hier pflegen kranke Menschen öffentlich ihre Patientenakte, tragen ein, welche Befunde sie bekommen und welche Medikamente sie nehmen und halten Buch über ihr Befinden, sowohl das rein körperliche, als auch den seelischen Zustand. Kai Sostmann sieht das mit Blick auf den Datenschutz kritisch, gibt aber zu, dass ein solches Portal enorme Vorteile hat, für Patienten ebenso wie für Ärzte. „HIV-positive Patienten zum Beispiel nehmen häufig einen richtigen Medikamenten-Cocktail, da gibt es viel Abstimmungsbedarf“, sagt er. „Ich als Mediziner kann außerdem hinein schauen und meinen Patienten mit anderen vergleichen.“

Dass die im Schnitt kränkere Gruppe der deutschen Senioren bald in geschützten oder nicht geschützten Communities im Netz medizinische Daten austauscht, ist aber wohl nicht erwartbar. Zwar suchen heute schon 80 Prozent der Internetnutzer nach Gesundheitsinformationen im Netz, sagt Sostmann. Nur 32 Prozent nutzen dafür allerdings soziale Netzwerke und nur sechs Prozent sind aktiv und kommentieren selbst. Sostmann zitiert eine Studie der Unternehmensberatung PWC, die zeigt, dass die über 60-Jährigen sehr vorsichtig im Umgang mit Gesundheitsdaten sind. „Die Jungen sind bereit“, sagt er. Doch die sind noch nicht so oft krank.

Die Charité sieht das Gesundheitsweb 2.0 erst einmal als Forschungsthema an. Angebote von Kliniken, Ärzten oder Behörden gibt es bislang kaum. Erst wolle man in Ruhe wissenschaftlich erforschen, wo sich Vorteile ergeben könnten, sagt Sostmann. Ein Projekt, mit dem man den Nutzen von „Serious Games“ für chronisch Kranke erproben will, ist in Vorbereitung. Langfristig hält der Charité-Wissenschaftler weder komplett öffentliche Seiten wie „Patients like me“ noch die großen Sozialen Netzwerke für geeignete Plattformen zum Austausch sensibler Gesundheitsdaten. „Ich glaube, das wird sich auf kleinere, spezialisierte Plattformen verlagern – oder gleich in Peer-to-peer-Netzwerken organisiert“, sagt er. In jedem Fall wird das Web 2.0 wohl nur eine Ergänzung zum realen Kontakt mit dem Mediziner bleiben. Vom virtuellen Arzt in der Hosentasche sind die meisten Angebote doch noch ziemlich weit entfernt.

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