WG statt Altersheim: Das Zusammenleben von Demenzkranken
Vergesslich sind sie alle, das bringt ihre Krankheit mit sich: Vier Frauen und ein Mann, die nun im hohen Alter zum ersten Mal in einer Wohngemeinschaft leben. Ein Besuch in Brandenburg.
Lucie hat jetzt auch ein Auto. Es parkt direkt am Küchentisch, wo sie an diesem Nachmittag mit ihren Mitbewohnern Platz genommen hat. „Ob Lucie damit auch fahren kann?“, fragt Käte ungläubig in die kleine Kaffeerunde. Kann sie. Und als wollte Lucie es allen beweisen, steht sie kurz danach auf, klemmt sich hinters Steuer und fährt los. Gut, ein bisschen Hilfe braucht sie bei der Lenkung, aber ohne ihr Auto käme sie inzwischen gar nicht mehr heil von der großen Küche bis in ihr kleines Zimmer.
Denn das Auto von Lucie ist in Wahrheit ein Rollator, doch das klingt den vieren am Tisch zu sehr nach Krankheit, nach Bedürftigkeit, nach Alter. Also sagen sie Auto. Beate zum Beispiel. „Oh, Lucie hat ein Auto“, sagt sie. Ganze dreimal während dieser einen Kaffeepause. Und weil Beate nicht nur vergesslich ist, sondern auch ähnlich schlecht auf den Beinen wie Lucie, haben sie nun schon zwei Autos in ihrer Wohngemeinschaft.
Vier Frauen und ein Mann leben hier zusammen in Brandenburg an der Havel, alle haben Demenz, alle in unterschiedlicher Ausprägung. Zusammen sind sie weniger allein mit ihrem Schicksal, das so viele im Alter ereilt. 1,5 Millionen Deutsche leiden darunter, dass die Leistung ihres Gehirns immer mehr nachlässt, dass sie sich an immer weniger erinnern können und die Orientierung zunehmend verlieren. Im Jahr 2040 werden es doppelt so viele sein, denen es ähnlich geht wie Lucie, Käte oder Beate. Die gepflegt und betreut werden müssen – und das nicht unbedingt im Heim.
„Viele Ältere können sich zwar vorstellen, in alternativen Wohnformen zu leben, aber nur zwei bis drei Prozent tun es auch“, sagt Frank Weidner, der Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln. „Weil immer noch die Idee vorherrscht, dass es nur die Alternativen Zuhause oder Heim gibt.“ Dabei gibt es die Alternative WG für Demenzkranke schon seit Ende der 90er Jahre. In Berlin haben unterschiedliche Träger seither um die 250 solcher Wohnungen gegründet. Nicht ganz so viele sind es im Land Brandenburg, wo es wegen der ländlichen Strukturen schwieriger ist.
In der Stadt Brandenburg hat die Wohnungsbaugesellschaft fußläufig von Zentrum und Bahnhof vor sieben Jahren in einem Gebäudekomplex sechs WGs aufgebaut, von denen die Johanniter-Unfall-Hilfe drei betreut. Unter anderem die im dritten Stock. Zwei Bäder, ein Wohnzimmer, eine Gemeinschaftsküche mit angrenzender Terrasse und für jeden Bewohner ein eigener Raum. Käte hat sich eine bordeauxfarbene Schlafcouch in ihr Zimmer gestellt, dazu einen Tisch, einen Fernseher, Kleiderschrank und Kommode. An den Wänden hängen selbst gestickte Stillleben, im Hintergrund dudelt ein Radio. Alles mitgebracht aus ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung um die Ecke. Wenn sie aus dem Fenster im dritten Stock schaut, sieht sie es noch, ihr früheres Zuhause. „Zuerst dachte ich, dass es wehtut, wenn ich rüberblicke“, erzählt sie. „Aber das war nie so. Hier habe ich alles, was ich brauche.“
Aktiv sein - jeden Tag
93 Jahre alt musste Käte werden, bis sie in ihre erste WG zog. Im vergangenen Dezember an ihrem Geburtstag war es soweit, weil sie alleine nicht mehr alles in den Griff bekam: Kochen, der Haushalt, die gesundheitlichen Probleme. Ein Senioren-Auto wie Lucie braucht Käte zwar noch nicht, aber ihr Gedächtnis und auch ihr Blutdruck waren schon einmal besser. „Ich brauche keine Angst zu haben, dass etwas passiert und werde immer umsorgt“, sagt sie.
Zum Mittag hatte sie heute Fisch mit Salzkartoffeln. Das Essen bringt meist ein Dienstleister in die WGs. Ab und zu kochen sie gemeinsam, dann hilft ein Betreuer. Den ganzen Tag und die ganze Nacht ist ein Pfleger da. Morgens, mittags und abends kommt zusätzlich noch eine Fachkraft, die bei Bedarf die nötigen Medikamente verabreicht. „Es ist ein großer Vorteil von betreuten WGs, dass eine Hilfs- oder Pflegekraft in der Nähe ist und trotzdem keine Atmosphäre wie in einem Heim aufkommt“, sagt Forscher Frank Weidner. „Die Bewohner können sich gegenseitig unterstützen und fühlen sich vor allem nicht alleingelassen.“
Etwas los ist immer. Manchmal spielen sie Rommé, ein anderes Mal basteln sie oder erzählen im Kreis mit einer Betreuerin von den alten Zeiten, jeder nach seinen Möglichkeiten. Biografiearbeit nennt sich das. Denn je mehr sie sich erinnern, je mehr sie unternehmen, desto aktiver arbeitet das Gehirn. Desto langsamer schreitet die Krankheit voran.
Nach der Mittagsruhe gibt es Kaffee, Kekse und Rührkuchen. Herbert, Beate und Lucie sitzen schon am Tisch, als Käte aus ihrem Zimmer schleicht. „Na Schnecke, kommst du auch schon!“, begrüßt sie Beate, die nur darauf gewartet zu haben scheint, dass sie wieder jemanden necken kann. „Sei nicht so vorlaut“, sagt Käte. „Das musst du gerade sagen“, sagt Beate. Herbert und Lucie sagen nichts, was zum einen damit zu tun hat, dass man bei Beate und Käte nur schwer dazwischenkommt und zum anderen an der Schwere der Krankheit liegt.
Käte zählt zu den fittesten. Sie benötigt weder Hilfe beim Waschen oder bei den Toilettengängen noch beim Anziehen und Essen. Für einen Heimplatz fühlt sie sich viel zu aktiv, in der WG hat sie ganz andere Freiheiten. „Hier komme ich gar nicht erst auf trübe Gedanken“, sagt sie. Und wenn es doch mal zu viel wird, schließt sie einfach die Tür ihres Zimmers und zieht sich auf ihre Couch zurück. Aber im Moment ist es ihr eher zu ruhig.
Zuletzt sind wieder Plätze in der WG frei geworden. Wenn sich der Zustand der Bewohner so stark verschlechtert, dass sie nichts mehr selbstständig erledigen können, müssen sie eben doch ins Heim oder in ein Krankenhaus. Deshalb hofft Käte jetzt auf Karlchen. „Ein Neuer, der bald kommen soll“, erzählt sie Beate, die es in fünf Minuten wieder vergessen haben wird. Und hier sind sich die beiden Damen einmal einig: „Hoffentlich ist der nicht so ruhig wie Herbert.“
Alte Volkslieder - die kennen sie alle
Mit den unterschiedlichen Launen der Bewohner muss man erst einmal klarkommen. „Jeder Tag ist eine Herausforderung“, sagt eine Betreuerin der WG. „Man muss sich jeden Tag neu auf die Patienten einstellen.“ Oft haben die Bewohner ihr Gesicht über Nacht vergessen, oft sind sie an einem Tag glücklich und am nächsten faul und übellaunig. Und manchmal haben sie sich gar nicht im Griff. „Wir hatten hier auch schon Patienten, die jeden Tag die Polizei gerufen haben, die schreien, weil sie verängstigt, verunsichert sind. Das bringt die Krankheit mit sich“, erzählt die Frau, die in Brandenburg an der Havel von Anfang an dabei ist.
Um die 400 Euro kostet ein Zimmer hier im Monat, je nach Pflegestufe kommt noch etwas hinzu für die Betreuung. Den Pflegedienst können die Angehörigen der Bewohner dabei selbst wählen, genau wie mögliche zusätzliche Unterhaltungsangebote. Der Sohn von Käte hat sich zum Beispiel mit anderen Angehörigen zusammengetan und einmal in der Woche eine Musiktherapeutin engagiert.
Als Beate hört, dass es heute wieder soweit ist, zeigt sie den anderen am Kaffeetisch einen Vogel. Singen? Nicht mit ihr. „Sei nicht so störrisch und mach mit“, sagt Käte zu ihr. „Ich bin nicht störrisch“, antwortet Beate. Zickig, das ja; aber nicht störrisch. Das bekommt nun auch die Therapeutin zu spüren, die mit der Gitarre auf den Rücken geschnallt in der Haustür steht. „Ach Gott, nee“, sagt Beate nun noch ein bisschen lauter. „Darauf habe ich gar keine Lust. Ich geh’ in mein Zimmer.“
Die anderen aber haben Lust. Es kommen sogar noch zwei Bewohner aus den Nachbar-WGs dazu. Die Therapeutin drückt jedem ein Instrument in die Hand, und dann geht es los. Haben die Männer und Frauen auch manches vergessen, die Texte der alten Volkslieder kennen sie aus dem Effeff. Lied Nummer eins: „Horch was kommt von draußen rein, hollahi, hollaho.“ Und tatsächlich kommt auf einmal jemand von draußen herein. Beate. Sie parkt ihr Auto neben dem Sessel, setzt sich hin und singt beim nächsten Lied aus voller Kehle mit: „Wir sind die Sänger aus Finsterwalde, wir leben und sterben für den Gesang.“
Dass sie Musik eben noch verabscheut hat, weiß Beate nicht mehr.
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