Kambodscha: Das Geheimnis von Angkor Wat
Im Januar 1864 erforscht Adolf Bastian Ruinen im kambodschanischen Dschungel, und der Weitgereiste ist überwältigt: Dies sind die größten Sakralbauten der Welt! Als Erster entschlüsselt er ihre Rätsel.
Der erste Eindruck, den dieses Monument auf mich macht, ist überwältigend“, notiert Adolf Bastian. Nur selten lässt sich der deutsche Forschungsreisende – ansonsten stets nüchtern, kühl und abwägend – zur Euphorie hinreißen. Doch diese atemberaubenden Tempelanlagen seien größer als irgendetwas, was Griechen und Römer uns hinterlassen haben, so Bastian weiter. Indes geben sie ihr Geheimnis nicht leicht preis. „So dicht war der alles überwuchernde Dschungel hochgeschossen an diesem einst zivilisierten Ort, daß wir uns für jeden Schritt vorwärts den Weg mit einem Buschmesser freischlagen mußten“, schreibt Bastian später in seinem Bericht über die Ruinen von Angkor im kambodschanischen Urwald.
Vor 150 Jahren, im Dezember 1863 war er endlich, nach Wochen mühsamen Fortkommens, im kleinen Provinzort Siem Reap angelangt. „Von August bis November können sämtliche Reisen nur mit dem Boot unternommen werden; im Rest des Jahres trocknet die flache sumpfige Gegend vollständig aus und läßt sich nur mit Ochsenkarren oder auf Elefanten durchqueren“. Als Bastian die riesige Ebene erreicht, ist das Land nicht mehr für Boote passierbar, aber noch zu feucht für Karren. Dann endlich, nach einem quälenden Fußmarsch gen Norden durch dichten Wald, erreicht er „Nakhon Vat“, wie Bastian die Ruinen des größten Tempels Angkor Wat nennt.
Er verbringt den Januar 1864 dort. Wie beeindruckt er von der Tempelanlage aus Sandstein, Laterit und Ton tatsächlich ist, vermag er nicht gut in Worte zu fassen. Seinem Bericht jedenfalls ist das Staunen später nur schwer zu entnehmen, das ihn erfasst hat. Er notiert eher beiläufig die riesigen neunköpfigen Steinschlangen, die die Eingänge zu den Tempeln bewachen, die elefantenköpfigen Skulpturen, Löwen-Chimären und geflügelten Drachen überall.
Die Tempel und breiten Terrassen bestehen aus riesigen Steinblöcken, die symmetrisch behauen und ungeachtet ihrer Größe akkurat zusammengefügt sind. Sie müssen, ähnlich wie im Fall der Pyramiden, von weit her, aus Steinbrüchen in den mehr als 100 Kilometer entfernten Bergen im Norden herbeigeschafft worden sein. Bastian, der ähnliche Bauten aus Mexiko kennt, vergleicht die Ruinen von Angkor mit den imposanten Zeugnissen der Hochkulturen in der Neuen Welt. Für ihn ist die Tempelstadt im kambodschanischen Urwald ohne Zweifel eine der größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation.
Angkor, das im achten nachchristlichen Jahrhundert entstand, war über mehr als sechs Jahrhunderte der Mittelpunkt des Khmer-Reiches, das sich über die Grenzen des heutigen Kambodscha hinaus ausdehnte. Angkor Wat war dabei die größte der zahlreichen Tempelanlagen einer riesigen kulturellen und religiösen Metropole im Süden Asiens, in der rund eine Million Menschen gelebt haben dürften. Durch Überbevölkerung, Misswirtschaft und fehlende Anpassungen an eine sich verändernde Umwelt geschwächt, ging Angkor unter, als andere Reiche wie etwa im benachbarten Siam aufblühten.
Philipp Wilhelm Adolf Bastian ist seit Jugendtagen gefesselt von Geschichten über fremde Völker. Geboren wurde er 26. Juni 1826 in Bremen als zweites von neun Kindern einer Kaufmannsfamilie. Doch er bricht mit der Tradition, studiert Jura, Medizin und Naturwissenschaften. Als Schiffsarzt beginnt er 1850 seine Reisen um die Welt, verbringt acht Jahre in Australien, Neuseeland, in der Südsee, Süd- und Nordamerika, Indien, Vorderasien und Afrika, bevor er mit reichem wissenschaftlichen Material und erstaunlich umfassenden völkerkundlichen Beobachtungen nach Bremen zurückkehrt und seine Erlebnisse niederschreibt. Als 1860 sein dreibändiges Werk „Der Mensch in der Geschichte“ erscheint, das er seinem im Vorjahr verstorbenen Idol Alexander von Humboldt widmet, begründet es seinen Ruf als erster deutscher Völkerkundler. Kurz darauf zieht er wieder los. Von Bangkok aus, wo er vom siamesischen König selbst von der geheimnisvollen Stadt der Khmer erfährt, macht er sich nach Angkor auf.
Bastian ist fasziniert von diesen versunkenen Tempeln, deren Ruinen weit verstreut sind in der mit dichter, tropischer Vegetation bewachsenen Ebene. Tatsächlich finden sich nirgendwo auf der Welt größere sakrale Bauten. Und nirgendwo sind solche Bauten reicher verziert mit feinsten Ornamenten und beinahe lebensgroßen Figuren im Halbrelief. „Sobald das Morgenlicht in den Umgängen deutlicheren Schein verbreitete, begab ich mich mit dem Maler dorthin, um die charakteristischen Szenen und Episoden abzeichnen zu lassen oder die Verzierungen und Inschriften mit Kohlenwachs auf Papier abzureiben.“ Bastian arbeitet wochenlang wie besessen.
Im Februar 1864 reist er weiter durch den Süden Kambodschas und Vietnams; doch er hält sich nicht mehr lange auf, will zurück nach Europa, um von seiner unglaublichen Entdeckung zu berichten. Als er endlich in London ankommt, Zentrum für Forschungsreisende aus aller Welt, um vor der Royal Geographical Society seine Entdeckung von Angkor zu verkünden, der Schock: Adolf Bastian erfährt, dass ihm ein anderer zuvorgekommen ist – gleichsam um Haaresbreite, angesichts des jahrhundertelangen Vergessens von Angkor. Bereits im Januar 1860 hatte der französische Naturforscher Henri Mouhot die Ruinen von „Ongcor“ oder „Nokhor“, wie er sie nennt, erreicht.
Mouhot, verheiratet mit der Nichte des schottischen Afrikareisenden Mungo Park, war mit Unterstützung der Royal Geographical Society Ende 1859 in Kambodscha eingetroffen. Er durchstreift Gebiete, die vor ihm noch nie ein Europäer gesehen hatte. Seine Aufzeichnungen spiegeln die Qualen, die der Forschungsreisende auf sich nehmen musste. Moskitos umschwärmen ihn und seine beiden Begleiter in ihrem Kanu so zahlreich, dass er mit einem Schlag immer eine Hand voll erwischt. Die überschwemmte Marsch entlang des Flusses macht es mitunter unmöglich, festen Grund zu betreten, die Ufer, an denen sich „die Natur von ihrer reichsten Seite zeigt“, bleiben dann unerreichbar. Und als er den Wald betritt, findet Mouhot einen jungen Chinesen, aus 19 Wunden blutend. Ein Tiger hatte ihn mit seinem letzten Atemzug so zugerichtet, das mächtige Tier war bereits tödlich getroffen. Auch Mouhots Beine sind wund, seine Hosen färben sich rot, doch bei ihm sind es Blutegel, die ihn so peinigen.
In einem Dorf nahe der alten Königsstadt Luang Prabang in Laos stirbt Henri Mouhot im November 1861, im Alter von nur 35 Jahren, an einem tropischen Fieber. Doch seine Diener sorgen dafür, dass seine Aufzeichnungen – Tagebücher und Notizen, Zeichnungen und Karten – zurück nach Europa gelangen, wo sie seiner Witwe übergeben werden.
Die Familie vermacht die Aufzeichnungen der Royal Geographical Society, 1864 erscheinen die „Travels in the Central Parts of Indo-China, Siam, Cambodia and Laos“. Als Bastian kurz darauf in London seinen Bericht über die Ruinen von Angkor abliefert, ist Mouhots posthumes Werk in aller Munde. Anschaulich schildert er den Besuch in der vom Urwald überwucherten Tempelstadt. Überdies ist sein Buch mit detaillierten Abbildungen illustriert, gefertigt nach seinen eigenen Skizzen. Die staunende Leserschaft erhält erstmals einen lebhaften Eindruck der versunkenen Tempelstadt.
Durch Mouhots Buch populär gemacht, wird Angkor bald zum Ziel vor allem französischer Expeditionen. Dass Frankreich in seinem Kolonialreich ein einzigartiges Kulturdenkmal von großer historischer Bedeutung zu bieten hat, bewirkt immerhin, dass die Bauwerke – nach und nach von der Vegetation befreit und teilweise wieder aufgebaut – zum herausragendsten Denkmal der Geschichte Südostasiens avancieren. Als dagegen Bastian endlich 1868 in Deutschland die Studien und Beobachtungen während seiner „Reise durch Kambodja nach Cochinchina“ veröffentlicht – ausführlich, aber uninspiriert erzählt, vor allem ohne eine einzige seiner Zeichnungen –, macht dieses Werk kaum Eindruck.
Tatsächlich haben weder Henri Mouhot noch Adolf Bastian Angkor entdeckt. Die Geschichte des Forschungsreisenden, der auf eine lange untergegangene Tempelstadt stößt, ist eine eurozentrische Verklärung. Angkor war nie vergessen, am allerwenigsten bei der einheimischen Bevölkerung. Die bis heute dort ansässigen Khmer wussten auch lange nach dem Niedergang ihres historischen Reiches um die Existenz der alten Tempel, gleichsam der Seele des Landes.
Angkor Wat wurde, wie auch einige andere Bauten, durchgehend als heilige Stätte verehrt. Mouhot wusste, wonach er suchte; zumal er gewissenhaft in seinen Aufzeichnungen festhielt, dass nicht einmal er der erste Europäer dort war. Er stützte sich auf den Bericht eines französischen Missionars, dessen wenig mitreißender Stil allerdings nur ein kleines Publikum gefunden hatte.
Doch für Mouhot bleibt Angkor ein Rätsel; er hält die Tempelstadt für ein Werk des Altertums, kann kaum einschätzen, welche enorme architektonische Leistung der Khmer diese einstige asiatische Metropole darstellt, größer noch als alle des Vorderen Orients und anderer Hochkulturen. Es ist der weitgereiste Adolf Bastian, der das Geheimnis entschlüsselt. Er erkennt als Erster, dass die religiösen Wurzeln der Tempelstadt im Norden Indiens liegen. Während seines Besuches in Angkor Wat entdeckt er in einer der umlaufenden Galerien das längste Relief der Welt, das höchst kunstvoll ausgeführt einen populären indischen Schöpfungsmythos darstellt – das sogenannte „Buttern des Milchmeeres“, wie es bei Bastian heißt. Dieser Milchozean ist ein Urmeer der hinduistischen Mythologie.
Für Bastian liefert dieses Relief, aber auch andere Symbole und Hinweise auf indische Götter die Belege dafür, dass es in Angkor zur Verschmelzung des Hinduismus und des Buddhismus kam. Dabei wird die Mythologie der Skulpturen und steinernen Zeugnisse, die durchgehend aus dem Brahmanismus stammen, durch Symbole des Buddhismus ergänzt. Bastian erkennt und benennt als Erster, dass indische Einflüsse den religiösen Grundstein der Hochkultur von Angkor legten. Auch entziffert Bastian als Erster die in Pali verfassten Inschriften, einem sprachlichen Verwandten des klassischen Sanskrit.
Im 19. Jahrhundert jedoch mochten westliche Gelehrte kaum glauben, dass die Khmer diese monumentalen Bauten als ihr religiöses Zentrum schufen. Damals hielt etwa der Indologe Richard Otto Franke die Lehrreden Buddhas für „fade Schwätzerei und wirren Unsinn“; er konnte sich nicht vorstellen, dass außerhalb Europas eine jahrtausendealte weltreligiöse Tradition bestehen und sich erhalten haben sollte, älter als jene des Abendlandes. Es ist Adolf Bastian, der durch seinen Besuch und seine Studien in Angkor den Grundstein zu unserer heutigen Erkenntnis über die Beziehung dieser Religionen legt.
Nach seiner Rückkehr macht Bastian rasch Karriere und wird zum Begründer der Ethnologie, „der Lehre vom Menschen in seinen geselligen Verhältnissen“; 1866 wird er in Berlin Dozent, dann außerordentlicher Professor für Völkerkunde. Nach weiteren Jahren auf Forschungsreise, diesmal nach Amerika, begründet Bastian die „Zeitschrift für Ethnologie“ und die Berliner Gesellschaft für Anthropologie. Er wird Direktor des 1886 im neuen Museumsgebäude errichteten Königlichen Museums für Völkerkunde (im Krieg zerstört, heute befindet sich dort der Parkplatz des Martin-Gropius-Baus). Rastlos bricht Bastian immer wieder zu langen Reisen in alle Weltregionen auf, kehrt mehr als einmal schwerkrank zurück – „wahrhaft eine wandelnde Leiche“, wie ein Freund bemerkt.
Geradezu sammelwütig erhöht er den Bestand ethnologischer Objekte von 5000, die einst aus der königlichen Kunstkammer stammen, auf 40 000 bei Einweihung des Museums. Bastian macht das Berliner Haus so zu einem der bedeutendsten weltweit; er liefert den Grundstock jener auf bald mehr als 400 000 Objekte angewachsenen Sammlung, die irgendwann im Humboldt-Forum gezeigt werden soll.
Bereits 77 Jahre alt, bricht Adolf Bastian zu seiner letzten Reise zu den Westindischen Inseln auf, wo er am 3. Februar 1905 auf Trinidad stirbt. Heute ist er allenfalls einigen Fachleuten bekannt, die ihm zu Ehren 2005 in Dahlem eine kleine Ausstellung und einen großformatigen Begleitband zusammenstellten. Darin machen sie paradoxerweise gerade Bastians überaus vielschichtiges Werk und die Vielzahl seiner Schriften dafür verantwortlich, dass er in Vergessenheit geriet. „Don Bombastian“ schrieb, oftmals in Eile ausgeführt, über 100 meist mehrbändige Bücher und über 300 Artikel. Ein unübersichtliches Geflecht von Theorie und Begriffen, bis heute tun sich Forscher schwer an dieser „Geisterbahn wissenschaftlicher Ideen“, wie einer bemerkte.
Immerhin: Bastians wohl bedeutendste Idee von der Universalität der menschlichen Mythologien, einer gemeinsamen mythologischen Sprache der Menschheit, wirkt bis in die Gegenwart. Als einem der wenigen seiner Zeit war Bastian der Untergang jener Kulturen bewusst und gewiss, die im 19. Jahrhundert vermehrt in Kontakt mit der westlichen Zivilisation gerieten. Er sprach vom „Weltbrand“ und bewahrte im ethnologischen Museum wenigstens die Zeugnisse jener Kulturen, die ansonsten ohne jegliche Spuren geblieben wären. Für ihn diente das Museum mithin nicht nur zur Ausstellung, vielmehr sah er in ihm ein Laboratorium zur Wiederbelebung jener untergegangenen Kulturen.
In diesem Sinne Bastians sind seine Sammlungen bisher allerdings weitgehend unerschlossen geblieben. So versteckt im Dschungel die Tempelanlagen der Khmer einst Jahrhunderte überdauerten, so wartet das Werk und Wirken Adolf Bastians noch auf seine Entdecker.
Matthias Glaubrecht
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