zum Hauptinhalt
Eine Ampulle des Corona-Impfstoffs der Universität Oxford und des Pharmakonzerns Astrazeneca
© Russell Cheyne/PA Wire/dpa

Skepsis gegenüber Corona-Impfstoff: Dann gebt doch Astrazeneca für alle frei!

Astrazeneca-Dosen setzen Staub im Lager an, kaum jemand will sie. Den Luxus können wir uns nicht leisten: Wer will, soll sofort drankommen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sidney Gennies

Eine Mitarbeiterin im Impfzentrum Berlin-Tegel sagte kürzlich fassungslos: „Wir würden gerne sehr viel mehr Menschen impfen.“ Sie könnten auch. Problem: Es fehlt die Nachfrage. Sehr viel mehr wollen nicht.

Zumindest nicht, wenn es um den Impfstoff von Astrazeneca geht. Allein in Berlin liegen 29.000 Dosen des Corona-Impfstoffs von Astrazeneca ungenutzt herum. Deutschlandweit mehr als 650.000 Dosen. Ab April sollen mehr als fünf Millionen Dosen von dem Stoff zur Verfügung stehen, den offenbar keiner haben will. Astrazeneca hat ein Imageproblem.

Und damit hat Deutschland ein Problem, denn die Skepsis der Menschen dem Präparat gegenüber verzögert die ohnehin schleppend laufenden Impfungen. Das wirft die Frage auf, ob sich an dem sorgsam ausgetüftelten Plan, wer wann wo geimpft wird, festhalten lässt.

[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]

Der Impfstoff von Astrazeneca ist in Verruf geraten, weil seine Wirksamkeit im Gegensatz zum Impfstoff von Biontech/Pfizer nur mit knapp 60 Prozent, statt 95 Prozent angegeben wird. Zudem weckten Studien Zweifel daran, dass der Impfstoff gegen die Mutanten des Virus hilft.

Schon jetzt wird Astrazeneca nur an unter 65-Jährige verimpft, weil Daten fehlen, ob das Vakzin für Ältere sicher ist. Geimpfte berichteten von starken Nebenwirkungen. Folge: Gerade einmal zwei Prozent der Deutschen würden sich aktuell für Astrazeneca entscheiden, wenn sie die Wahl hätten. Nur: Die allermeisten Deutschen haben nicht die Wahl. Sie haben gar keinen Zugang zu irgendeinem Impfstoff.

Schuld daran ist auch die an sich sinnvolle Impfreihenfolge, die die Ständige Impfkommission festgelegt hat. Demnach werden zunächst die besonders gefährdeten alten Menschen und Hochrisikopatienten geimpft, parallel dazu Pflegende und Ärzte, weil sie besonders exponiert sind.

Was in der Theorie Sinn ergibt, scheitert praktisch an der Akzeptanz bei denen, die impfberechtigt wären. Genug hochwirksamen Impfstoff von Biontech gibt es nicht, Astrazeneca wollen vor allem die Pflegenden nicht – für die Alten kommt er wie erwähnt ohnehin nicht in Frage.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Statt den Stoff nun weiteren einzeln zu bestimmenden Berufsgruppen – Kita- oder Lehrkräften vielleicht – anzudienen, sollte die Impfreihenfolge lieber grundsätzlich überdacht werden.

Es wäre schön, aber ist eben nicht so, dass Deutschland sich den Luxus leisten könnte, wählerisch zu sein. Weder bei der Auswahl des Impfstoffs, noch bei der Auswahl der Geimpften. Und nicht zu vergessen: Jeder Geimpfte ist ein Fortschritt, und das sind noch viel zu wenige.

Leif Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung an der Berliner Charité, kommentierte auf Twitter folgendermaßen:

In der Rangliste der 20 Länder mit der höchsten Impfquote taucht Deutschland, wo der erste in der westlichen Welt zugelassene Impfstoff überhaupt entwickelt wurde, nicht einmal auf. Weniger als vier Prozent der Menschen haben hierzulande ihre Erstimpfung erhalten.

Wenn diese Geschwindigkeit beibehalten wird, kann beispielsweise eine 30-Jährige ohne Vorerkrankungen, die nicht in sensiblen oder vermeintlich systemkritischen Berufen arbeitet, Ende des Jahres auf die erste Spritze hoffen. Wahrscheinlicher ist: irgendwann 2022.

Und in irgendwelchen Lagern setzt ein wirksamer Impfstoff Staub an. Wer soll das verstehen?

In Berlin wird auch Astrazeneca verimpft. doch die, die dürfen wollen ihn nicht. Und die, die wollen, kriegen ihn nicht.
In Berlin wird auch Astrazeneca verimpft. doch die, die dürfen wollen ihn nicht. Und die, die wollen, kriegen ihn nicht.
© Reuters

Astrazeneca ist ohnehin deutlich besser als sein Ruf, schützt zuverlässig vor schweren Verläufen, auch wenn die Risikoreduktion nicht so hoch sein mag wie bei Biontech. Geimpfte hatten zwar Nebenwirkungen, doch die waren sogar erwünscht, weil sie zeigen, dass der Körper auf den Stoff reagiert.

Ins Krankenhaus musste niemand der Betroffenen. Und selbst der Virologe Christian Drosten, der sagt, er sehe keine Anzeichen, dass der Wirkstoff bei den Mutanten des Virus nicht helfe, dringt in der Frage nicht durch.

Was also spricht dagegen, dass sich in den Bundesländern in einer zentralen Datenbank alle registrieren können, die den Impfstoff wollen, den andere verschmähen?

Statt zu versichern, dass Astrazeneca wirke, könnte man es zeigen – und den jungen Menschen Hoffnung geben, die sonst noch lange Zeit vom Impfstoff ausgeschlossen wären. Die Bereitschaft bei jenen, die jetzt noch skeptisch sind, dürfte das nebenbei auch erhöhen. Impfneid funktioniert in beide Richtungen.

Zur Startseite