Gesellschaft: Bürger-King
144 Ratskeller gibt es in Deutschland. Es ist der beliebteste Name für Gasthäuser. In Berlin sind noch sechs geöffnet: Unser Autor hat sie alle besucht
Es ist eine alte Frage, und beantwortet hat sie bis heute eigentlich keiner: Was ist deutsch? Sollen wir es etwa mit Richard Wagner halten: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“? Oder ist das typisch Deutsche die unvergleichliche Brauereiendichte in diesem Land? Oder heißt deutsch sein, dass im Gasthaus jeder seinen Kaffee selbst bezahlt? Man sieht, die Sache ist schwierig, und vielleicht sollten wir eher dem Kabarettisten Matthias Deutschmann vertrauen, der besonders intensiv nach dem deutschen Wesen fahndete (schließlich trägt er schwer an seinem Namen) und zu dem resignierten Ergebnis kam: „Man sucht nach den Wurzeln und greift ins Leere.“
Die zweite Frage ist nicht weniger kompliziert: Wo ist Deutschland besonders deutsch? Wo ist das Deutsche ganz bei sich? Im tiefen deutschen Wald? Auf der Wartburg? Auf dem Loreley-Felsen? Im Hofbräuhaus? Am Brandenburger Tor?
Zum Glück gibt es die Statistik. Und die führt, wenn nicht zum Marken- und Wesenskern des Deutschen, so doch zumindest in seine Randbezirke. Die Statistik belehrt uns immerhin, was der Deutschen Lieblingsname für ihren Lieblingsort, das Gasthaus, ist: „Ratskeller“ (gefolgt von „Linde“ und „Krone“; Italiener heißen am häufigsten „Roma“ und Griechen „Akropolis“). 144 „Ratskeller“ finden sich auf Deutschlands Restaurant-Karte von A wie Aachen bis Z wie Zell an der Mosel. Hier also könnte man fündig werden: Wenn Gaststätten so oft „Ratskeller“ heißen – was sagt das über die Deutschen?
Offenbar, dass sie gerne Kellerbewohner sind, sich dort aufhalten, wo es ein wenig duster ist, abgeschieden von der bösen Welt da draußen und ihrem Geschrei. Wo der Ratsherr sich zufrieden niederlässt nach stadträtlicher Tat. Wo Bier und Wein in Strömen fließen und in der Ratsherrenpfanne Deftiges brät.
Jedenfalls muss das früher so gewesen sein. Zumindest im ältesten „Ratskeller“ Deutschlands, der mittlerweile 600 Jahre alten Institution in Bremen, in der es sich die hanseatischen Kaufleute gut gehen ließen, ihre Geschäfte abwickelten und die schon Heinrich Heine besang: „Glücklich der Mann, der den Hafen erreicht hat / Und hinter sich ließ das Meer und die Stürme / Und jetzo warm und ruhig sitzt / im guten Rathskeller zu Bremen.“ Wilhelm Hauff hatte in seiner Novelle „Phantasien im Bremer Rathskeller“ gar ein erotisches und alkoholisches Delirium beschrieben, die Geschichte eines gnadenlosen Besäufnisses. Auch Friedrich Engels ist oft im „Ratskeller“ gewesen, wo er sich mit den „Philistern“ stritt, den Bremer Honoratioren, hauptsächlich aber, um auf Hauffs Spuren zu wandeln: „Vorgestern Abend hatte ich große Knüllität im Weinkeller von zwei Flaschen Bier und zweieinhalb Flaschen Rüdesheimer 1794er“, schrieb er an seine Schwester Marie.
Man muss indessen nicht nach Bremen reisen, um in den Genuss solcher Knüllitäten zu kommen, auch in Berlin ist an „Ratskellern“ kein Mangel. Da die große Stadt ja zusammengewachsen ist aus vielen kleineren Orten, ist so manches Rathaus übrig geblieben. Und wo ein Rathaus steht, da ist der „Ratskeller“ nicht weit. Meist ist er sogar direkt im Rathaus, im Souterrain. Sechs Keller sind es insgesamt noch in Berlin, früher waren es mehr, aber manch einer hat inzwischen geschlossen, etwa der im Roten Rathaus oder der in Spandau. Und in Schmargendorf wurde kürzlich dem Wirt gekündigt, weil er mit den Pachtzahlungen in grobem Rückstand war, nebenbei wohl auch deshalb, weil sich dort politische Rechtsaußen allzu wohl gefühlt hatten.
Aber sechs sind es noch, und so lässt sich in Berlin trefflich erkunden, was es denn nun auf sich hat mit diesen „Ratskellern“, dieser Urform des Deutschseins.
Der Inbegriff des „Ratskellers“ ist in Charlottenburg zu finden, im Rathaus an der Otto-Suhr-Allee, dem mächtigen Jugendstilbollwerk aus dem Jahr 1905. Gleich links vom Haupteingang geht es hinab in den Keller, ein paar Stufen nur, aber es ist, als beträte man eine andere Welt, als wäre die Zeit für 100 Jahre stehen geblieben, eingeschlafen wie im Dornröschen-Reich. Dunkles Holz täfelt die Wände, Nussbaum, Eiche, Palisander, Bleiglas-Butzenscheiben dimmen das Licht im riesigen Saal mit der grünen Auslegeware, an der Decke wölben sich die Gewölbe. Goldgerahmte Spiegel hängen schwer an der Wand, und goldgerahmt sind auch die stattlichen Gemälde. Überall prangt reicher Blumen- und Pflanzenschmuck – unbeeindruckt von der Jahreszeit. Man muss die Blütenpracht nicht gießen, sie ist aus Stoff. Übermannshoch sind die wuchtigen Tischlerarbeiten an den Eckbänken, wie gotisches Chorgestühl nehmen sie sich aus. Hier in diesen Nischen kann, wer will, in aller Traulichkeit zusammensitzen, Geschäfte im Verborgenen machen, heimliche Liebesschwüre tun, Flasche um Flasche leeren und grässliche Intrigen spinnen.
Allzu viele scheinen das indessen nicht zu wollen. Für Hundertschaften von Gästen sind hier die weißen Tischdecken ausgebreitet. Vergeblich. Nur zwei esswillige Gäste verlieren sich im weiten Saal. Und so entdeckt kaum jemand, dass sich beim Blättern in der Speisekarte eine wahre Zeitreise unternehmen lässt. Denn hier ist alles immer noch da, was die Gastronomie der vergangenen Jahrzehnte vergessen hat: das Ragout Fin und das Cordon Bleu, der Toast Hawaii und der Ratsherrentoast, das Eisbein mit Erbsenpüree und die Kartoffelsuppe Kaiser Wilhelm, der gebackene Camembert mit der roten Cocktailkirsche und die Birne Helene. Nicht zu vergessen: die Charlottenburger Abendbrotplatte, ein Arrangement von Wurst, Käse, Bauernbrot, „raffiniert garniert“. Man liest das alles und staunt, und dass da draußen auf der Otto-Suhr-Allee Autos des Baujahrs 2011 vorbeifahren, scheint in diesem Moment wie aus einer fernen Welt.
Auch in Köpenick steht ein „Ratskeller“. Auch hier geht es ein paar Stufen hinab in die andere Welt. Wieder dunkle, große Gewölbe, wieder Butzenscheiben, diesmal sogar aus farbigem Glas, was den Sälen eine eigentümliche Schummrigkeit verleiht. Dazwischen, in all dieser altfränkischen Gediegenheit, werfen rote Glasbausteine, von innen beleuchtet, ein sündiges Licht in den Raum, als wäre er ein verschwiegenes Boudoir. Die Speisekarte hingegen will davon gar nichts wissen, besinnt sich vielmehr auf alles, was deftig und kräftig ist, von der Landente übers Spanferkel bis zum geräucherten Eisbein an Schwarzbiersoße, von dem man hier weiß, dass es die Leibspeise des Schusters Wilhelm Voigt gewesen ist, der sich im Rathaus Köpenick als angeblicher Hauptmann die Stadtkasse erschwindelte. So ist auch hier der „Ratskeller“ eine Trutzburg der Vergangenheit, die neuen Zeiten müssen draußen bleiben. Ein Ort des Widerstands gegen die Moderne und ihre Zumutungen, Zuflucht ins Gestern, Schutzraum.
So ähnelt ein Berliner „Ratskeller“ dem anderen, geschnitzt aus immer dem gleichen Holz. Der im Reinickendorfer Rathaus zum Beispiel, erbaut 1911, mit seinen Säulen und dem roten Plattenboden. Oder der in Schöneberg, der nur mittags geöffnet hat und – besonders preiswert – dem Rathaus als Kantine dient. Und schließlich der in Zehlendorf. Ein für Ratskellerverhältnisse erstaunlich schmuckloses Verlies. Auch er dient – Selbstbedienung! – als Kantine.
Einer aber fällt ganz und gar aus der Reihe. Er steht in Eichwalde, residiert gar nicht im Rathaus, sondern ein paar Häuser davon entfernt, und er ist auch kein Keller, man muss vielmehr drei Treppenstufen zur Eingangstür nach oben steigen. Die größte Besonderheit aber trägt er schon im Namen: „Ratskeller Santorini“. Ein Grieche hat ihn gepachtet, aus den Lautsprechern tönen Sirtaki-Klänge, kein Gewölbe, keine Butzenscheiben, sondern große, helle Fenster. Auch die Speisekarte macht keinerlei Konzessionen ans Ratskellerhafte, sondern bleibt sich griechisch treu – von Gyros bis Souflaki. Und nach dem Essen gibt es einen Ouzo. Wer hätte das gedacht: Ein Grieche rettet eine deutsche Wirtschaft.
Vielleicht ist der „Ratskeller Santorini“ ja ein Vorgriff auf das zukünftige Schicksal des gesamten deutschen Ratskellerwesens: dass Tradition und Beständigkeit allein keine Ewigkeit verleihen. Die Zeichen sind nicht zu übersehen. Der „Ratskeller“ in Bochum zum Beispiel ist zu einer Diskothek geworden. Im „Ratskeller“ Recklinghausen wird jeden Freitag Partynacht gefeiert, Eintritt für Männer ab 25 Jahren, für Frauen ab 23. Der „Ratskeller“ in Vetschau soll zu einem Altenheim umgebaut werden. Und der „Ratskeller“ Rostock lockt mit einer Striptease-Show „für alle Frauen“.
Wolfgang Prosinger
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