Erster Weltkrieg: Auf den Spuren des Großvaters
Der Großvater hinterließ eine Schachtel mit Fotos, Postkarten und einem verblichenen Militärpass von 1916. Das machte unseren Autor neugierig – und er begab sich nach Frankreich, auf eine Reise in die Vergangenheit.
"Vous êtes très gentil“, bedankt sich die ältere Dame, nachdem ich ihr gerade die Dose Bohnen aus dem obersten Regal gereicht habe. Vom Alter arg gebeugt, wäre sie da nie rangekommen. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, warum ich hier bin? Der französische Nachbar auf dem Campingplatz hat mich jedenfalls mitten im Satz stehen lassen, als ich ihm sagte, ich sei wegen meines Opas gekommen. Der war im Ersten Weltkrieg als deutscher Kanonier genau hier am Chemin des Dames, einem unscheinbaren Höhenzug zwischen Laon und Reims – 900 Kilometer von Berlin entfernt und 90 Kilometer vor Paris.
Chemin des Dames: Der Name hat in Frankreich einen ähnlichen Klang wie Verdun. Hunderttausende ließen zwischen 1914 und 1918 ihr Leben an diesem eher unscheinbaren Höhenzug, der seinen strategischen Wert dadurch erhielt, dass er 50 Meter aus der ansonsten platten Ebene aufragt. „Sie müssen wissen, der Erste Weltkrieg ist für viele Franzosen auch nach 100 Jahren noch ein Trauma, viel mehr als der Zweite“, sagt Yves Fohlen, der durch das örtliche Museum führt.
Fohlens Arbeitsplatz thront über der Drachenhöhle, einem einstigen unterirdischen Steinbruch ungefähr in der Mitte des Höhenwegs. Der Parkplatz ist voll, alle Autokennzeichen sind französisch. 45 000 Besucher kommen jedes Jahr, darunter nur 2000 Deutsche. Fohlen führt sie durch das weit verzweigte Höhlensystem, in dem sich Deutsche und Franzosen damals auch unter der Erde bekriegten, manchmal nur wenige Meter durch eine Mauer getrennt. Rostige Helme sind am Rand des Pfades drapiert, Bajonette, Gürtelschnallen. Der deutsche Teil des Labyrinths ist leicht zu identifizieren. „Latrine“ steht heute noch in schwarzen Buchstaben an der Wand oder „Telefonzentrale“.
20 Kilometer weiter, am östlichen Ende des Chemin, liegt Juvincourt. Der kleine Ort hat 2000 Einwohner, im Ersten Weltkrieg fielen 20 seiner Bürger, im Zweiten waren es drei. So ist es hier überall, und das erklärt vielleicht, warum der Blick für Franzosen auf den Ersten Krieg, den sie den Großen nennen, ein anderer ist als hierzulande. Juvincourt ist ein Bauerndorf, die Schule ist im Rathaus untergebracht, Mädchen links, Jungs rechts, in der Mitte hängt die Trikolore schlaff vom Mast. Die Häuser sind in der für die Picardie typischen Feldsteinoptik errichtet. Sie sehen alt aus, sind es aber nicht. 90 Prozent der Provinz Picardie wurden im Ersten Weltkrieg zerstört, auch Juvincourt.
Am 21. April 1917 ging die 52. Infanteriedivision auf den Feldern südlich des Ortes in Stellung. Nur eine von 41 deutschen Divisionen, die auf 30 Kilometern Breite die Franzosen abwehren sollten, aber eine, für die ich mich interessiere, seit ich weiß, dass mein Opa zu dieser Division gehörte. Zwei Wochen zuvor waren die Franzosen zu einer Großoffensive am Chemin des Dames angetreten. Es war nicht die erste Schlacht um diesen Höhenzug und nicht die letzte. In den ersten zehn Tagen ihrer Offensive schossen die Franzosen aus 3500 Rohren 6,5 Millionen Granaten auf die deutschen Stellungen.
Wer überhaupt überlebt, hält so ein Trommelfeuer nicht lange aus. Kriegszitterer nannte man zu Hause die traumatisierten Opfer solcher Bombardements. „Sie müssen sich das vorstellen wie unter einem Amboss, auf den pausenlos eingeschlagen wird“, sagt Yves Fohlen in den Kasematten der Drachenhöhle. Den Ausdruck „posttraumatische Belastungsstörung“ kannte man noch nicht. Die Betroffenen konnten ihre Gliedmaßen nicht mehr kontrollieren, das Leiden war damals nicht behandelbar. Schwere Fälle blieben lebenslang auf Pflege angewiesen.
1917 hatte man bereits genug Kriegszitterer gesehen, weshalb die vorderen Gräben nur mit vergleichsweise wenigen Männern besetzt waren, die möglichst oft ausgetauscht wurden. Kam der Gegner, sollten ihm, sofern vorhanden, frische Truppen aus dem Hintergrund entgegentreten. Die Verteidigung war perfekt organisiert, weshalb sich an der Westfront im Ersten Weltkrieg kaum mehr etwas bewegte – nachdem die Deutschen zu Beginn noch überraschend durch das neutrale Belgien gestürmt waren und erst vor Paris gestoppt wurden.
Am Militärpass klebt Blut
Die französische Offensive scheiterte furchtbar, bis Mitte Mai 1917 fielen über 180 000 Mann oder wurden verwundet. Nun feuerten die Deutschen aus allen Rohren und griffen ihrerseits an. Sie verloren 160 000 Mann. Das Ganze wurde als taktischer Sieg deklariert, zumal auf französischer Seite komplette Divisionen meuterten und die Absetzung ihres kommandierenden Generals Nivelle erreichten.
Auch mein Opa war in Juvincourt. Er war zu einem Feldartillerie-Regiment dort versetzt worden. Für den Angriff der Franzosen kam er zu spät, für den Gegenangriff nicht.
Er sprach nicht oft in meinem Beisein von diesem Krieg. An eine Episode erinnere ich mich jedoch sehr gut. Ich muss ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, und meine Oma erzählte von einem Orden. Ich fragte also: „Opa, du hast einen Orden bekommen?“ Er nickte und zeigte auf die Rückseite seines Oberschenkels, dort sei er verwundet worden. „Am Hintern“, fragte ich ihn, weil die Stelle ziemlich weit oben war, „wie ist das denn passiert?“ Mein Opa beugte sich zu mir runter und sagte: „Beim Weglaufen, Junge, du musst dir eines merken: Es gibt Situationen im Leben, da musst du einfach weglaufen!“
Ich hakte nicht weiter nach, vermutlich fehlte mir die Fantasie, mir meinen Opa vorzustellen, wie er in Deckung rannte. Mitte der 1960er Jahre war er schon ein älterer Herr und nicht besonders gut zu Fuß. Zudem hatte er die Angewohnheit, den Hosenbund immer bis kurz unter die Brust zu ziehen, dadurch wirkte er kleiner, als er war.
Er starb dann auch bald, und die Erinnerung an ihn verblasste über die Jahre, abgesehen von dieser Episode mit seiner Verwundung. Mein Opa hinterließ einen aus einem Granatsplitter gefertigten Brieföffner, ein äußerst scharfkantiges Teil. Immer wenn ich den Öffner sah, dachte ich daran, wie er gesagt hatte: „Manchmal musst du weglaufen“. Einmal zeigte mir meine Oma eine Feldpostkarte von 1916, darin steckte eine getrocknete Blume. Darunter steht „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Dein Erich“. „Zu meinem 19. Geburtstag“, sagte sie. Er hatte meiner Oma versprochen, jeden Tag zu schreiben, aber daraus wurde nichts, und wenn, war es häufig belanglos. „Liebe Frida, mir geht es gut, muss heute wieder sehr viel schippen, darum morgen mehr“, diesen Satz habe er oft geschrieben, sagte sie.
Meine Oma überlebte ihren Erich um 20 Jahre, dann starb auch sie, und wir lösten ihre Wohnung auf. Dabei erbte ich einen Schuhkarton mit alten Postkarten. Ich fand darin die Karte mit der Strohblume, zwei Orden, ein kleines Heft mit rotem Einband und ein paar Fotos. Sie zeigten meinen Großvater als jungen Mann. Er trug eine schlecht sitzende Uniform und eine Tellermütze. In der Hand hielt er eine Zigarette, vielleicht wollte er überspielen, dass der Oberlippenbart kaum mehr als ein Flaum und seine Züge noch weich waren.
Das rote Heft war sein Militärpass. Demnach wurde mein Opa am 3. März 1916 in Spandau eingezogen. Er war 20 Jahre alt. Irgendwie hatte er es geschafft, seine Musterung hinauszuzögern, weil er als Drucker in der Reichsdruckerei gebraucht wurde. Jedenfalls hat meine Oma das so erzählt. Ihm wurden Waffenrock, Hose, Unterhose, Mütze, Halsbinde, Hemd und ein paar Stiefel einschließlich Putzzeug ausgehändigt. Er wurde an der Feldkanone und an der Haubitze ausgebildet.
Stimmt die Geschichte mit dem Eisernen Kreuz?
Acht Wochen später befand sich mein Opa bereits in Frankreich. „Stellungskämpfe in den Argonnen“, steht in seinem Pass. Ich blätterte weiter, las von Lazarettaufenthalten – insgesamt drei –, von weiteren Gefechten, zwei Heftseiten waren durch einen Fleck verklebt, bei dem es sich allem Anschein nach um Blut handelte. Vielleicht hatte mein Opa den Pass in der Gesäßtasche getragen, als es ihn dort traf. Ich sah, dass ihm am 11.6.1918 das Eiserne Kreuz verliehen worden war, zweiter Klasse, ein Orden, der im Ersten Weltkrieg 5 196 000 Mal ausgegeben wurde, und dass ihn am 4. Oktober 1918 tatsächlich ein Granatsplitter am rechten Bein traf, bei „Abwehrkämpfen zwischen Argonnen und der Maas“. Weshalb viel dafür spricht, dass es sich um einen amerikanischen Splitter handelte. Denn dort hatten die Amerikaner inzwischen eingegriffen. Das Kriegsende erlebte er im Lazarett in Berlin-Lichterfelde, im selben Krankenhaus, in dem ich rund 40 Jahre später geboren wurde.
Ich habe Glück, überhaupt geboren worden zu sein. Weil dieses Geschoss leicht sein Ende hätte sein können, bevor er die Chance gehabt hatte, ein Kind – meinen Vater – zu zeugen. Und weil Millionen diese Chance nie bekommen haben. Mir war auch klar, dass an der Geschichte meines Opas irgendetwas nicht stimmen konnte: Sein Militärpass bewies, dass er seinen Orden schon hatte, als er möglicherweise weglaufend von einem Granatsplitter getroffen wurde. Leider konnte mir mein Großvater nicht mehr erzählen, wie es war. Aber mithilfe seines Passes ließ sich sein Weg wenigstens ein bisschen rekonstruieren.
Als mein Opa 1916 in den Ersten Weltkrieg eintrat, hatte man bereits begriffen, dass es wenig Erfolg versprach, Menschenmassen ins gegnerische Feuer rennen zu lassen. Das Maschinengewehr machte solche Attacken sinnlos. Inzwischen versuchte man, den Gegner aus der Ferne zu zermürben. Und es gab nur eine Waffe, die das konnte: die Kanone. Weshalb man 1916 dringend Kanoniere brauchte.
Die Reichweite der Geschütze wurde im Verlauf des Krieges beständig ausgedehnt, 1916 schoss die Feldartillerie beider Seiten schon zehn Kilometer weit. Das heißt, der Kanonier konnte sein Ziel gar nicht sehen. Vorgeschobene Beobachter ermittelten die Zielkoordinaten. Allein die deutsche Artillerie verfeuerte in diesem Krieg binnen vier Jahren 290,76 Millionen Granaten im Wert von damals 16,1 Milliarden Goldmark, das entspricht heute rund 80 Milliarden Euro.
Der Krieg meines Großvaters bei der Feldartillerie war also eine Art Rechenaufgabe mit vollkommen unkalkulierbarem Risiko für die eigene Person. Beide Seiten versuchten vor ihren Attacken die jeweils andere Artillerie auszuschalten. Der Tod kam aus heiterem Himmel angeflogen, der einzelne Soldat konnte dagegen nichts machen.
Auf dem Chemin des Dames gibt es ein Plateau. Ein Miteigentümer der Champagner-Kellerei Pommery im nahen Reims hatte dort unmittelbar vor dem Krieg ein schönes Anwesen erworben, er nannte es Kalifornien. Keine gute Investition. Am 24. Juli 1917 ging die 52. Infanteriedivision dort in Stellung. Das Plateau Californie gehört heute noch zur „Zone Rouge“, so nennt man in Frankreich die Regionen, die keiner Nutzung mehr zugeführt werden konnten. Dort wächst heute Wald, der Boden ist kontaminiert, immer noch werden Blindgänger gefunden.
Es gibt auf dem Plateau einen Rundwanderweg, der mitunter ein wenig beschwerlich ist. Es geht immerzu bergauf, bergab, erst nach einer Weile begreift man, dass es sich um Granattrichter handelt, einer neben dem anderen. Unterhalb des Plateaus lag Craonne, man erkennt den Ort lediglich am Friedhof mit seinen geborstenen Grabsteinen, das Dorf selbst ist bis auf wenige Ruinen verschwunden und in der Nähe neu entstanden.
Mein Großvater hatte zunächst Glück. Zu Beginn dieses Infernos lag er im Lazarett in Sissonnes, 20 Kilometer entfernt, weshalb, weiß ich nicht. Dort, wo das Lazarett war, ist heute eine französische Kaserne, das Areal ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Zugänglich ist der deutsche Soldatenfriedhof am Rand, schmucklose Kreuze in Reih und Glied, dazwischen 39 Steine mit dem Davidstern für die jüdischen Gefallenen. 14 694 deutsche Soldaten sind hier beerdigt.
Meine Oma hat übrigens behauptet, mein Opa habe das Eiserne Kreuz nach dem Krieg für ein paar Gramm Leberwurst eingetauscht. Außerdem sei er aus der Kirche ausgetreten, weil er nicht mehr an Gott glaubte.
Ich weiß auch nicht, ob diese Geschichte stimmt, denn ich habe in der Schachtel ein Eisernes Kreuz gefunden. Außerdem ein Abzeichen für Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, von Reichspräsident Hindenburg 1934 gestiftet. 1941, also sieben Jahre später, zog der einzige Sohn meines Opas, mein damals 20-jähriger Vater, in den Zweiten Weltkrieg, kämpfte in Russland und Italien. Möglicherweise hat mein Großvater ihm auch geraten, in manchen Momenten einfach wegzulaufen. Mein Vater fiel als Soldat nie durch besonderes Engagement auf, wurde in fünf Kriegsjahren nur einmal befördert, vom Gefreiten zum Obergefreiten. Aber es gelang ihm, am Leben zu bleiben.
Der französische Nachbar auf dem Campingplatz, der mich am Morgen so abrupt hatte stehen lassen, war dann doch ganz nett. Am Abend hat er mich wieder gegrüßt. Ist auch lange her, das alles.
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