Grachten im Wandel: Amsterdam wird clean
75 Kilometer Kanäle hat die niederländische Hauptstadt zu bieten – weit mehr als Venedig. Was Touristen so gerne fotografieren, war jahrzehntelang eine gigantische Kloake. Doch bald sollen die Grachten zum Bade laden.
Plötzlich hebt sich der Kranarm über dem Wasser in die Höhe, schwankt hin und her, dann öffnet sich die fünfzackige Greifzange und taucht mit lautem Platschen ein. Etwas erschrocken starrt ein junges Touristenpaar auf die Szene. Eben noch streunten die beiden durch die morgendliche Stille des pittoresken Quartiers Jordaan, liefen über eine Brücke zur nächsten Gracht, und nun sehen sie dies: einen Bagger – montiert auf einer Drehscheibe im Bug eines blauen Boots –, der seine Zähne tief im Wasser versenkt.
Und was holt er dort heraus? Statt Schrecken macht sich Staunen breit in den Gesichtern der Reisenden: In der Luft baumelt – ein Fahrrad. Einen Reifen hat es nur noch, und ob es dunkel lackiert ist oder bloß Schlamm seine wahre Farbe bedeckt, lässt sich auf die Schnelle nicht erkennen. Denn nach einem kurzen Schwenk fällt das „fiets“ mit Krachen in ein zweites Boot. Schwarz und flach ist dieses, mit einer Vertiefung in der Mitte, wo das Rad auf einige Schicksalsgenossen trifft. Wieder dreht sich der Kran in Richtung Wasser. Die Touristen zücken ihre Kameras.
Die SB24, Teil der Flotte der städtischen Wasserbehörde Waternet, gehört wohl zu den am meisten fotografierten Schiffen Amsterdams. „Ein Boot, das Fahrräder aus dem Wasser zieht, gibt es schließlich nur hier“, sagt Jan de Jonge, einer von zwei Männern an Bord. De Jonge ist mit einem blauen Overall und einer Schwimmweste bekleidet. Sein Grofvuil(„Sperrmüll“)- Boot fischt jedes Jahr 12 000 Räder aus den weltberühmten Kanälen, ganz so, als wüchsen sie dort auf dem Boden. „Heute waren es schon mehr als 50“, ruft de Jonges Kollege Richard Matser aus seinem Baggerstuhl herüber. Matser hat gleich ein weiteres fiets an der Angel, als er seinen Greifarm ganz ohne Radar oder andere Hilfsmittel wieder ins Wasser taucht.
Manchen Besuchern der niederländischen Hauptstadt bestätigen solche Szenen wahrscheinlich, was sie ohnehin zu wissen glauben: Die Grachten von Amsterdam sehen malerisch aus, romantisch gar, aber sie sind sagenhaft schmutzig. Eine zweieinhalb Meter tiefe Kloake, in der Anwohner und Betriebe Abwasser und anderen Unrat entsorgen. „Der Fremde, der im Herbst ihre unangenehmen Ausdünstungen einatmet, erklärt die Stadt ohne Umschweife zum ungesündesten Ort der Welt“, ekelte sich der deutsche Pfarrer F. W. Dethmar 1838 bei einem Amsterdambesuch.
Längst aber stimmt dieses Bild nicht mehr. Der Kampf gegen Fahrradwracks zeigt, dass man die Grachten, mit drei Millionen Besuchern im Jahr einer der touristischen Höhepunkte Europas, pflegt. Und das längst nicht nur, weil Amsterdam in diesem Jahr das 400. Jubiläum des Kanalsystems begeht. Seit 2010 gehören die Grachten als „Meisterstück der Stadtplanung“ auch zum Weltkulturerbe.
In einem Essay zum Jubiläum weist der Historiker Roelof van Gelder jedoch darauf hin, ein solcher „Masterplan“ entspreche kaum der Realität. Die 165 Kanäle, mit rund 75 Kilometern etwa doppelt so lang wie diejenigen von Venedig, entstanden vielmehr in drei Runden zwischen 1585 und 1670. Von 1613 datiert nur der entscheidende Teil der großen Drei (Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht), die sich als halbmondförmiger Gürtel um das alte Zentrum mit seinem spinnennetzgleichen System kleinerer Grachten legen.
Anfangs ging es dabei um Schutz vor möglichen Angreifern. Im Zuge der Stadtausbreitung wurde ihre äußere Grenze stets weiter verschoben. Kurz darauf wurde Transport zum Motiv: Im Amsterdam des 17. Jahrhunderts, einem globalen Handelszentrum, brachte man Waren aus allen Ecken der Welt über die Grachten zu ihren Bestimmungsorten. Den Einheimischen wurden die Wasserstraßen bald zum viel besungenen Symbol ihrer Stadt. Vielen erging es wie dem Komponisten Pieter Goemans, der aan de Amsterdamse grachten „mein ganzes Herz für immer verpfändete“. Und weil mehr und mehr Besucher diese Ansicht teilten, brachte es der Grachtengürtel zur Attraktion.
Zurück zu Jan de Jonge und Richard Matser. Auf ihrem flachen Beiboot liegen zwischen den Fahrrädern: ein Mofa, ein Kühlschrank, ein Einkaufswagen und kleine hölzerne Boote. Einige Passanten am Ufer schauen kritisch, denn längst nicht alle Amsterdamer begrüßen, dass die Stadt Jagd macht auf verwahrloste Privatboote, um die Grachten aufzuräumen. Schon 200, sagt Jan de Jonge, seien dieses Jahr entfernt worden. Gemeindebeamte fotografieren sie und setzen sie auf eine Liste, welche die SB24 abarbeitet.
Schiffer de Jonge tuckert seit 26 Jahren an Bord von Müllentsorgungsbooten über die Kanäle. Ein halbes Arbeitsleben. Was er daran mag? „Immer an anderen Orten sein, keinen Bürojob haben. Und trotzdem abends nach Hause gehen zu können, anders als mein Vater, der Binnenschiffer war.“ Dann deutet er mit dem Kopf auf die offene Luke, wo ein paar Stufen ins Innere des Bootes führen. An der Treppe kleben Ajax-Amsterdam-Sticker, unten dudelt das Radio. „Wir haben alles dabei, Kaffee, Kühlschrank, wir sind unabhängig.“
Neben der SB24 kümmern sich ein paar kleinere Boote um den Abfall, der auf dem Wasser treibt, gerade nach einem gigantischen Event wie dem Koninginnedag zum Thronwechsel neulich.
Doch das Bemühen um die Grachten reicht weiter. Wie wäre es, wenn man darin schwimmen könnte? Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft, so schwebt der Wasserbehörde Waternet vor, sollte das möglich sein. Im vergangenen Spätsommer gab es einen Vorgeschmack: ein Wohltätigkeitsevent namens „City Swim“, das 2000 Teilnehmer auf eine zwei Kilometer lange Schleife durch das bräunliche Wasser schickte.
Die Schwimmer hätten sich völlig zurecht nicht von der unappetitlichen Farbe abschrecken lassen, findet der Hydrologe Maarten Ouboter. „Das Wasser ist trübe, weil es zum Teil aus der Amstel stammt, die durch ein Gebiet mit Torfböden fließt“, erklärt er. Wassersystemexperte Ouboter steht unter seinen Kollegen bei Waternet im Ruf, er wisse alles über sein Spezialthema. Natürlich haben die Grachten keinen Schwimmbadstandard, betont er. Doch im Grunde stimmt er dem „City Swim“-Flugblatt zu, das für die Teilnahme mit Neoprenanzug, Schwimmbrille, Ohrstöpseln und natürlich geschlossenem Mund nur ein geringes Risiko auf bakterielle Zwischenfälle in Magen und Darm in Aussicht stellte.
Eigentlich ist Maarten Ouboter, ein jugendlich wirkender 52-Jähriger mit rotblonden Locken, so etwas wie ein Schwimmmeister der Zukunft. Er leitet die Maßnahmen zur Verbesserung des Grachtenwassers. Häufig fährt er nun mit seinem Team auf einem Inspektionsboot durch die Stadt, oder er entnimmt mit seinen Kollegen an Brücken Proben des Oberflächenwassers. Vor dem Schwimmevent führten sie mithilfe von Elektrodenmessung eine vollständige Analyse durch. Keinen Zweifel lässt Ouboter, dass sich die Qualität verbessert. Entscheidend sei, sagt er, dass inzwischen 40 Prozent der Hausboote an das Klärsystem angeschlossen sind. Der Rest soll bald folgen.
Bislang verklappten die Hausboote ihre Abwässer ungefiltert in die Grachten. Eine Ahnung von der Dimension dieses Problems bekommt man im Stadtteil Zeeburg im fernen Osten Amsterdams. Hier draußen, wo zwei Kanäle zusammenfließen, endet das Netz der Wasserstraßen. Und was erblickt man auf seinen letzten Metern? Hausboote. Zwischen 2500 und 3000 davon zählt Amsterdam. In den 60er und 70er Jahren waren sie eine populäre Maßnahme gegen die Wohnungsnot in der Stadt. Im Ausland gelten sie seither als Symbol des kreativen Nonkonformismus ihrer Bewohner.
Zwischen dem Ende der Kanäle und dem Ijmeer liegt auf einem schmalen Streifen Land die Poldermühle Gemaal Zeeburg. Wenn Maarten Ouboter erklären soll, wie das funktioniert mit dem Wassersystem, beginnt er hier. Die Maschinenhalle der Mühle ist gigantisch. Darin befinden sich vier massive grüne Pumpen, die dem Kanalsystem mithilfe eines Siphons frisches Wasser aus dem Ijmeer zuführen können. „Damit regulieren wir den Wasserstand und den Sauerstoffgehalt“, erklärt Ouboter.
Bis vor kurzem geschah diese Frischwasserinfusion im Sommer in vier Nächten pro Woche. Während Bewohner und Besucher sich an den Ufern zu Tausenden in Cafés niederließen, wurden die Grachten „gespült“, wie Maarten Ouboter das nennt. Den Fischen – Zander, Hecht, Barsch oder Brachsen – gab das genügend Sauerstoff, und die Menschen freuten sich, dass die malerischen Kanäle weniger unangenehm rochen. Seit die Stadt den direkten Ausfluss der Wohnboote reduziert hat, ist das „Spülen“ der Grachten nur noch eine Stand-by-Maßnahme für den Notfall.
Wer sich dieser Tage auf eines der Amsterdamer Rundfahrtboote begibt, bekommt von alledem wenig mit. Die Frauenstimme vom Band erzählt vom Anne-Frank-Haus und vom Goldenen 17. Jahrhundert, ab und an ergänzt der Kapitän hinter dem Steuer über Bordmikrofon ein paar Anekdoten. Wim Olbers zum Beispiel, der einst Binnenschiffer auf dem Rhein war und heute für die Reederei Lovers Touristen über die Kanäle fährt. Während er das Boot durch die Herengracht lenkt, weist er auf die prunkvollen Gebäude, in denen einst die reichsten Händler lebten. „Heute ist es noch immer sehr teuer“, sagt Olbers, der es liebt, seine Kunden zu unterhalten. „Sechs Millionen für ein Haus. Also finden Sie hier Anwälte, Bänker und andere Kriminelle.“
Käpt’n Olbers ist eine kernige Erscheinung: dunkelblaue Uniform mit goldenen Streifen auf den Schulterklappen, kurze blonde Haare, Sonnenbrille. Frühling, das ist eine schöne Zeit, mit der Chance auf ein gutes Trinkgeld für seine Geschichten. In großen Gruppen strömen die Menschen auf sein Boot, viele kommen direkt von den Blumenteppichen des Keukenhof-Parks oder von den nahegelegenen Windmühlen. 120 Personen, jeder Platz an Bord ist besetzt. Schon zum 15. Mal erlebt Wim Olbers den Saisonbeginn auf den Grachten. Routine.
Just in diesem Frühjahr kündigen sich auch in seinem Metier neue Zeiten an. Im Stadthaus wird an Plänen gebastelt, um die Personenfahrt auf den Kanälen neu zu strukturieren. Ein anderes Lizenzssystem peilt man an, mehr Konkurrenz, was auch den alteingesessenen Reedereien wie der von Wim Olbers nicht gefallen dürfte. Genehmigungen sollen kürzere Zeit gültig sein – und die langen Boote von mehr als 20 Metern in ein paar Jahren ganz verschwinden. Es heißt, sie sorgten für Stau und Unsicherheit auf den Grachten.
Tatsächlich geraten sie sich ab und an ins Gehege, die mehr als 170 Ausflugsboote Amsterdams. Für die Gäste ist eine Grachtenrundfahrt ein einziges gemächliches Cruisen, für den Kapitän aber bedeutet sie Maßarbeit. Ganz wie ein Taxifahrer Funkkontakt mit der Zentrale unterhält, gibt auch Wim Olbers regelmäßig per Telefonhörer der Reederei seine Koordinaten durch. Und mehrmals muss er sein Schiff mit einigem Fingerspitzengefühl unter einer schmalen Brücke hindurch navigieren, hinter der zwei Kollegen die Räume noch enger machen.
Nach einer Stunde Fahrt legt Olbers am Steg seiner Reederei beim Bahnhof an. Die zweite von sechs Touren liegt hinter ihm. Am Abend folgt noch ein Dinner-Cruise oder die „Candle Light Tour“. Ihm selbst seien die Grachten egal, sagt Olbers. Er findet sie so spektakulär wie ein Fabrikarbeiter das Fließband. Und doch weiß auch der Kapitän: Das Grachtensystem ist sein und Amsterdams großes Kapital.
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