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Sonntagsinterview: „Als ich klein war, wollte ich glattes Haar“

In einer römischen Bar trägt ein Cocktail ihren Namen, in Indien macht sie Yoga, ihr Geld liegt in New York: Taiye Selasi über Vielehe, viel Dekolleté und Beyoncé.

Taiye Selasi, 33, hat Internationale Beziehungen in Oxford studiert. Die Schriftstellerin prägte den Begriff „Afropolitan“ und meint damit Weltbürger mit afrikanischen Wurzeln. Selasis hochgelobtes Debüt „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ (S. Fischer) erschien gerade in 15 Ländern. Sie lebt momentan in Rom.

Frau Selasi, was haben Sie heute morgen um 11 Uhr gemacht?

Ich saß im Flugzeug von London nach Berlin.

Sie schicken sonst täglich um 11:02 Uhr eine SMS an Ihre Zwillingsschwester, eine Anspielung auf Ihr Geburtsdatum am 2. November.

Ich habe ihr schon gestern Nacht um elf geschrieben. Man könnte meinen, wir seien intelligente Menschen, aber wir schreiben uns seit sieben Jahren jeden Tag peinliche Dinge wie „Ich liebe dich“ oder sogar „Für immer 11/02“. Sie wohnt in den USA, wir sehen uns nur fünf Mal im Jahr.

Es gibt das Klischee, dass ein Zwilling die Schmerzen des anderen fühlt. Stimmt es?

Ja. Mit 19 ist uns etwas Verrücktes passiert. Ich war in Boston, sie arbeitete in Washington. An jenem Tag hatte ich einen Termin in der 36. Etage. Als ich den Fahrstuhl betreten wollte, konnte ich plötzlich nicht mehr atmen, rannte wieder raus und nahm die Treppe. Bis zur neunten Etage hat es Spaß gemacht, in der 36. war ich völlig am Ende. Meiner Schwester habe ich das am Abend erzählt, sie fragte mich: „Wann war das genau?“ Sie steckte zur selben Zeit in einem Fahrstuhl fest.

Boston war nur eine Ihrer Stationen. Wie die Figuren in Ihrem Roman, der auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht, sind Sie überall zu Hause: in London, wo Sie geboren wurden, in Yale und Oxford, wo Sie studiert haben, und in New York, Accra und Rom.

Delhi! Sie haben Delhi als Wohnort vergessen.

2005 haben Sie für junge Schwarze, wie Sie selbst es sind, den Begriff „Afropolitan“ geprägt. In einem Essay haben Sie diese Menschen so definiert: „eine lustige Mischung aus Londoner Mode, New Yorker Jargon, afrikanischen Wertevorstellungen und akademischen Erfolgen“. Warum brauchen Sie ein Label?

In dem Essay ging es um sehr persönliche Erfahrungen. Wie ist es, wenn man sich nicht nur als schwarz empfindet? Wie ist es, nicht nur ein Zuhause zu haben? Mich an so vielen Orten aufzuhalten, hat mein Anderssein sowohl unterstrichen als auch befreit. Ich war überall fremd und dadurch nirgends. Inzwischen nehme ich meine Wurzellosigkeit weniger ernst als damals.

Fanden Sie es unfair, dass Sie nicht mit einem Wort sagen konnten, wo Sie herkamen?

Ich fühlte mich oft ausgegrenzt. Ich wuchs in den USA auf, ohne mich als Amerikanerin zu bezeichnen. Nicht nur, weil ich keinen amerikanischen, sondern einen leicht britischen Akzent habe. In Yale gibt es pro Semester nur einen Kurs über afrikanische Geschichte, und der behandelt die Zeit von 1883 bis zur Gegenwart. Ein ganzer Kontinent wird auf eine Ära reduziert! Mir wurde in Boston nachgesagt, ich benähme mich wie eine Weiße, weil ich Verben konjugiere. In Ghana lachten meine Cousins darüber, dass ich Wörter wie die Weißen aussprach. Das kann für ein junges Mädchen schmerzhaft sein.

Welches Stereotyp hat Sie am meisten verletzt?

Im Westen gehen viele davon aus, dass Afrikaner unausweichlich arm sein müssen. Dahinter steckt die Annahme, dass uns Intelligenz fehlte, es also einen natürlichen Grund für die Armut Afrikas gibt.

Macht Sie das weiße Schönheitsideal wütend?

Nein, traurig. Schwarze Frauen glätten sich die Haare, bleichen sich die Haut. Als ich klein war, haben meine Schwester und ich uns Handtücher auf die Köpfe gelegt, um langes glattes Haar zu bekommen. White Girl’s Hair, nannten wir das. Alle Barbiepuppen hatten es, man konnte es kämmen und bürsten, unsere Haare nicht. Wenn sich heute eine schwarze Sängerin wie Beyoncé für hüftlange blonde Haare entscheidet, verurteile ich sie nicht. Ich finde es nur schlimm, wenn Mädchen sich gezwungen fühlen, so etwas zu tun, um geliebt zu werden.

Vor zwei Jahren haben Sie nach einem Hochzeitsfest einen Nervenzusammenbruch bekommen. Sie waren der einzige schwarze Gast und wurden prompt nach Ihrer Herkunft gefragt und beurteilt.

Das Schlimme war, dass ich dachte, ich wäre über solche Fragen erhaben. Ich habe meiner sogenannten Schande ins Gesicht gesehen, habe über Afropoliten geschrieben und bin zu heroischer Größe aufgestiegen – na ja, das glaubte ich jedenfalls. Dann fragte mich ein alter weißer Mann über meinen Vater aus. Er war der Meinung, afrikanische Männer seien rückständig, primitiv, stammesorientiert.

Ihr Vater war mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet.

Es ist natürlich unangenehm, dass der eigene Vater so ist. Wie kann ein gebildeter Mann wie er, ein Chirurg, polygam sein?

Haben Sie Ihrem Vater die Vielehe nachgesehen?

Ich muss, wenn ich weiter mit ihm in Kontakt bleiben will. Ich habe ihn ja erst mit zwölf kennengelernt. Meine Eltern hatten sich getrennt, als wir ein Jahr alt waren. Natürlich habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden, aber bisher konnte ich ihm nicht entlocken, wie er zu mehreren Frauen kam und was er sich dabei dachte. Ich werde es noch schaffen. Er bleibt mein Vater. Ein Afropolit ist er jedoch nicht.

Was fehlt ihm dazu?

Er hat eine traditionelle Sicht auf die Welt. Ich glaube nicht, dass ein Afropolit so unreflektiert die Vielehe praktizieren würde.

Ist Barack Obama ein Afropolit?

Sicher. Er hat eine familiäre Verbindung zu Afrika, ein globales Verständnis seiner eigenen Person und will, dass sich die Gesellschaft wandelt.

Ihre Mutter, die vor vier Jahren nach Ghana zurückgezogen ist, ist die eine?

Klar. Wir machen durch sie auch eine ganz typisch afropolitische Erfahrung: In den USA waren wir untere Mittelschicht, weil meine Mutter Kinderärztin war – ein genauso unterbezahlter Job in den Staaten wie Lehrerin. Meine Schwester und ich haben in Boston die Wäsche gewaschen, das Haus geputzt, Geschirr gespült. In Ghana gehört meine Mutter plötzlich zur Oberschicht. Sie hat einen Koch, einen Chauffeur und einen Hausmeister. Die Leute fragen oft nach meiner nationalen Zugehörigkeit, ob ich mich ghanaisch oder amerikanisch fühle. Dabei beschäftigt mich viel mehr, dass wir auf einmal die Klasse gewechselt haben. Ich fühle mit den Armen in Accras Slum Jamestown und nicht mit den Neureichen in den Villenvierteln.

Woher kommt das?

Es hieß bei uns immer: Arbeite hart, geh auf eine gute Uni, bezahle deinen Studienkredit ab. Vor Kurzem habe ich den erst abgestottert. Einige Menschen haben mich gefragt, warum ich nach der Universität als Fernsehproduzentin gearbeitet habe und nicht sofort als Schriftstellerin. Ganz einfach: Ich musste Geld verdienen.

Haben Sie einen Gegenstand, den Sie überallhin hin mitnehmen?

Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, das gefällt mir in jeder Situation. Wenn mein Flugzeug Verspätung hat, lese ich noch mal Stellen nach – zum Beispiel, wo Kundera schreibt, dass man nie genau wissen kann, was man will, weil man ja nicht alle Optionen kennt. Genau! Deshalb ziehe ich so viel umher in der Welt.

Welche der vielen Städte, die Sie kennen, ist Ihnen die wichtigste?

Momentan Rom. Weil ich da seit eineinhalb Jahren lebe und dort schreiben kann. Ich hatte 100 Seiten meines Buches in New York geschafft, aber es war mir klar, dass ich die nächsten 200 dort nicht vollenden würde. New York bedeutet Krach. Die Stadt ist schnell. Das kann inspirierend sein. Wenn man die langsame, einsame Arbeit des Schreibens verrichtet, lenkt eine Stadt mit solcher Geschwindigkeit ab. Eigentlich wollte ich nach Paris ziehen. In der Studienzeit hatte ich mal einige Monate dort gelebt und davon geträumt, zurückzukommen, um ein Buch zu schreiben. Paris und ein Roman gehörten für mich zusammen.

Eine Hemingway-Fantasie.

Es ist mir peinlich, aber ja, so war es, eine billige, alberne und romantische Vorstellung. Allerdings habe ich keine Bleibe gefunden. Dann kontaktierte mich ein Freund, er hätte da eine Wohnung hinter der Spanischen Treppe. Zuerst wollte ich nur drei Wochen bleiben …

… dann erlagen Sie dem Charme Roms.

Schon als ich vom Flughafen zur Wohnung fuhr, habe ich mich wohlgefühlt. Das Wetter ist toll, und es ist eine gesellige Stadt. Nachmittags kann ich aus meiner Schreibwelt auftauchen, ich mache eine passeggiata, spaziere ziellos durch die Altstadt, vorbei an unzähligen schönen Dingen. Abends besuche ich Freunde, wir essen zu sechst. In New York dauert es drei Wochen, bis wir uns auf einen Termin einigen können. Diese Kultur des Zusammenlebens gefällt mir. Buona sera, wie geht’s, wie war Dein Tag?

Hat Rom einen bestimmten Klang für Sie?

Es ist die klassische Musik, die ich beim Schreiben gehört habe: Meine Wohnung liegt neben der Accademia di Santa Cecilia, Italiens wichtigster Musikschule.

Ihr größter Erfolg in Rom: Ein Cocktail wurde nach Ihnen benannt.

In der Stravinsky Bar im Hotel de Russie, einem alten Hotel mit liebenswertem Barkeeper. Ein Freund behauptete, das sei die beste Bar Roms. Das konnte ich nicht glauben, weil ich die Jerry Thomas Project Bar nahe der Piazza Navona kannte – die haben das schönste Licht überhaupt, rote Wände, bernsteinfarbenes Glühen, großartige Drinks. Also wollte ich den Barkeeper in der Stravinsky Bar herausfordern. Ich bestellte einen Wodka Tonic, mein Lieblingsgetränk.

Nicht gerade ausgefallen.

Sah er auch so. Er sagte: „Sie beleidigen mich!“ Wir einigten uns, dass er etwas mit Wodka und Ingwer kreieren sollte. Das Resultat war unglaublich! Seitdem hat er ihn öfter in der Bar angeboten und Taiye genannt.

Klingt nach dolce vita.

Mein Leben in Rom ist leicht, weil ich mein Geld nicht dort verdienen muss. Ich mache zwar meine Arbeit dort, mein Steuerberater, mein Verlag und meine Bank befinden sich in New York. Mit der Bürokratie, all den Dingen, die viele an Italien hassen, komme ich zum Glück nicht in Kontakt.

Und mit dem italienischen Frauenbild?

Das ist so lächerlich rückständig, das kann ich nicht ernst nehmen. Wenn die Frau mit dem gigantischen Dekolleté Nachrichten vorliest, sitze ich schockiert vor dem Fernseher. Unglaublich.

Schwarze Frauen sieht man auf den Straßen Roms oder Mailand auch nicht viele.

Rom ist wirklich wundervoll, aber es ist für eine Hauptstadt des 21. Jahrhunderts unentschuldbar homogen. Die Konsequenz ist, dass Italiener Westafrikaner nur als Verkäufer von imitierten Handtaschen wahrnehmen – und Pakistanis verkaufen Regenschirme und Spielsachen. Sie haben keine Vorstellung von Schwarzen aus der Mittelschicht. Was ich erlebe, ist nicht direkt Rassismus, eher Exotismus. Die Italiener fragen sich: Wer ist diese afrikanische Frau, die perfekt Englisch und so gut Italienisch spricht? Es kam vor, dass mir jemand ohne Sinn für die Absurdität dieser Aussage sagte: „Sie wirken gar nicht afrikanisch.“

Wie reagieren Sie in solchen Momenten?

Ich sage: „Sie wirken nicht sonderlich intelligent und als seien Sie wenig gereist.“ Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass ich die Stadt nur lieben kann, wenn ich mal rauskomme. Ein Wochenende in London, ein kurzer Aufenthalt in Paris, ein Monat in Indien, drei Wochen in Ghana.

Ähneln sich Accra, die Hauptstadt Ghanas, und Rom?

Sehr sogar. Als ich in Italien ankam, habe ich sofort die Miete überwiesen. Die Überweisung kam zurück, der Vermieter machte mich darauf aufmerksam, dass man in Rom die Miete bar begleiche. Wo habe ich das zuerst erlebt? In Ghana! Muss man große Summen bezahlen, rennt man mit einer Tasche voller Geld umher, als sei man in der Mafia. Auch die lauten Märkte, die frischen Früchte, der gegrillte Fisch, das Lachen der Menschen miteinander – das gibt es in Accra und Rom.

Wenn man lebt wie Sie, wird man dann süchtig nach räumlicher Veränderung?

Zuletzt war ich noch mal wo? Ach ja, in Korea. Als ich am Flughafen meinen Pass zeigte, suchte der Grenzbeamte eine leere Seite für seinen Stempel und sagte: „Sie haben ein Problem, Sie sind reisesüchtig.“ Er hatte recht. Andererseits finde ich es putzig, wenn Menschen vom Reisen reden. Die Vorstellung impliziert, dass man einen Ausgangspunkt hat, von dem man losfährt und wohin man zurückkehrt. Unsere nigerianisch-schottische Mutter hat uns von England nach Boston mitgenommen, aber wir sehen nun wirklich nicht aus, als kämen wir von da, mein Vater lebte in Saudi Arabien, ich mache Yoga in Indien. Was ist das? Reisen? Umziehen?

Wie erklären Sie es den Kindern in Ihrer Patchworkfamilie?

Wenn die mich nach meinem Beruf fragen, ist meine Antwort: Ich bin eine Forschungsreisende.

Was tun Sie auf einer Forschungsreise zuerst?

Ich stelle mich auf den Bürgersteig einer Hauptstraße, schaue sie einmal hoch und runter und mache ein Foto von diesem Blick. Habe ich nach meiner Ankunft in Berlin auch getan.

Mit welchem Ergebnis?

Dass ich so gern hier leben würde! Dabei bin ich zufrieden in Rom, habe mich gerade erst eingelebt, ich kann nicht schon wieder einen Umzug gebrauchen. Aber ich habe mir nun vorgenommen, den August in Berlin zu verbringen.

Woher wissen Sie, dass Sie in einer Stadt bleiben wollen?

Als ich vorhin in Charlottenburg aus dem Taxi stieg, fühlte ich einen Stich in meinem Herzen: Hier bin ich richtig. Eine gewisse Spannung löste sich in mir auf, die mich in anderen Städten einfach befällt. In Los Angeles, weil es keine Fußgängerkultur gibt. In Hongkong, weil es vertikal und grau ist. In Paris, weil jeder dort so perfekt und genervt aussieht.

Spüren Sie diesen Stich auch, wenn Sie an einem Flughafen sind?

Heute früh am Flughafen hörte ich die Ansage: „British Airways Flug 777 nach Delhi ist nun zum Einsteigen bereit.“ Nie, wirklich nie, verfehlen solche Ansagen ihre Wirkung – ich will sofort mit.

Ulf Lippitz, Julia Prosinger

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