Gendergerechtigkeit: „Die Krise ist ein Brennglas für Ungleichheiten“
Das digitale Semester fordert alle, und manche noch ein bisschen mehr. Naile Tanış, Frauenbeauftragte der UdK Berlin, spricht über Corona und Diskriminierung.
Naile Tanış ist die hauptberufliche Frauenbeauftragte der Universität der Künste Berlin. Sie hat Rechtswissenschaften studiert und ist Volljuristin. Vor ihrer Tätigkeit als hauptberufliche Frauenbeauftragte arbeitete sie über viele Jahre als Geschäftsführerin bei dem Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK e.V.).
Die Coronakrise hat und hatte durchaus positive Auswirkungen: Wir fliegen weniger, konsumieren lokaler, die Luft ist sauberer. Aber in Sachen Gendergerechtigkeit hat uns Corona echt zurückgeworfen, oder?
„Re-Traditionalisierung“ ist das Schlagwort, das in Bezug auf Frauenrechte aktuell immer wieder aufkommt. Zu denken gegeben hat mir, was eine Kollegin gesagt hat: „Vielleicht waren wir auch vor Corona weit davon entfernt, uns von traditionellen Mustern emanzipiert zu haben, nur war uns das nicht bewusst.“ Vielleicht funktionierte es vorher einfach einigermaßen.
Jahrzehntelang sind unsere Strukturen so gewachsen: Frauen arbeiten vermehrt in Teilzeit, weil sie sich zu einem größeren Teil um Kindererziehung kümmern. Dieses System hat sich irgendwie getragen. Aber jetzt ist uns das durch die Krise schlagartig bewusstgeworden und uns allen auf die Füße gefallen. Daher würde ich weniger von Zurückwerfen sprechen als vielmehr von einem Brennglas, das uns in der Krise die Augen öffnet.
Also liegt in der Krise auch eine Chance für den Feminismus?
Natürlich kann es eine Chance sein, wenn uns die Augen geöffnet werden. Zentral ist aber, dass das Augenöffnen nicht nur bei Frauen stattfindet. Mir ist es ein Anliegen, dass wir darauf hinwirken, dass Frauen im öffentlichen Raum und am öffentlichen Diskurs angemessen teilhaben.
Als UdK-Frauenbeauftragte bin ich auch Mitglied der Landeskonferenz der Frauenbeauftragten an Berliner Hochschulen (Lakof). Da wurde stark diskutiert, während des Lockdowns ein Signal zu senden: Arbeiten im Home Office bei gleichzeitiger Kinderbetreuung ist kein privates Problem!
Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, für dessen Lösung alle gefragt sind. Und es ist wichtig, dass das im öffentlichen Bewusstsein ankommt. Aber es ist schwierig, sich für Gleichstellung zu engagieren oder auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, wenn man keine Zeit hat.
Daher klingelte bei Ihnen vermutlich permanent das Telefon?
Ich muss zugeben, dass auch mir zu Beginn dieses Corona-Semesters überhaupt nicht klar war, wie groß der Bedarf an Beratungen und Gesprächen letztendlich sein würde. Nachdem Schulen und Kitas geschlossen wurden und die UdK Berlin in den Notbetrieb umgestellt hat, gab es noch zwei Wochen Schockstarre, in der alle probiert haben, die Situation in den Griff zu bekommen. Aber dann ging es los. Die Anfragen wurden immer mehr – per Telefon, Mail oder Video Call.
Teilhabe an der Online-Lehre, Studieren oder Arbeiten mit Kind, womöglich zu Hause auf beengtem Raum – was konnten Sie tun, um Studentinnen, Mitarbeiterinnen und Lehrenden die Sorgen im Corona-Semester zu nehmen?
Über mein Büro bieten wir – auch unabhängig von Corona – eine Notfallbetreuung für Kinder an, „Kids Mobil“. Die kann zum Beispiel eine Studentin in Anspruch nehmen, wenn sie einen UdK-Auftritt oder eine Prüfung hat. Oder eine Dozentin, um ihre Lehre wahrzunehmen, auch wenn ihre Kinder leicht erkrankt sind.
Auf meine Anfrage hin hat die Hochschulleitung schnell beschlossen, für dieses Jahr das Gesamtkontingent an Betreuungsstunden für „Kids Mobil“ aufzustocken. Außerdem hat die Hochschule, gemeinsam mit der Karl-Hofer-Gesellschaft, einen Spendenaufruf organisiert und daraus einen Notfalltopf für Studierende eingerichtet, die etwa durch wegfallende Nebenjobs oder zusätzliche Studienkredite in finanzielle Not geraten sind.
Wenn Sie die Krise als Brennglas betrachten: Was funktioniert noch nicht gut?
Die Krise hat jede Form von Ungleichheiten, die vorher schon existierten, auch Diskriminierungen, verstärkt. Lücken sind größer und sichtbarer geworden. Das betrifft an der UdK Berlin auch Stellen, die es noch nicht gibt, weil leider keine Mittel dafür da sind. In der Krise habe ich beobachtet, wie sinnvoll ein Familienbüro oder eine psychologische Beratungsstelle wäre.
Es gab Studierende, die in Verbindung mit der Corona-Pandemie im Supermarkt oder in der U-Bahn rassistisch beleidigt oder auch körperlich angegriffen wurden. Ich bin froh, dass die uns bekannten Betroffenen sich an uns, ihre Hochschule, gewendet haben. Selbstverständlich haben wir als UdK Berlin mit einem öffentlichen Statement reagiert. Aber um Betroffene fachgerecht unterstützen zu können, wäre eine Anti-Diskriminierungs-Fachstelle sinnvoll.
Fühlen Sie sich auch zuständig für Betroffene von Rassismus? Schließlich lautet Ihre Berufsbezeichnung immer noch ganz klassisch „Frauenbeauftragte“.
Nach dem Berliner Hochschulgesetz – woher auch die Bezeichnung kommt – ist mein Auftrag in erster Linie, für Frauen zuständig zu sein. Und der Begriff „Frauen“ umfasst ja schließlich auch Frauen, die von Rassismus betroffen sind. Diskriminierung ist ja nicht nur eine Geschlechterfrage, sondern kann intersektionell mit verschiedenen Kategorien von Benachteiligung zusammenkommen.
Als ich mein Amt vor zwei Jahren übernommen habe, habe ich aber so oder so gesagt, dass ich mich auch geschlechterunabhängig zuständig fühle für Betroffene von Diskriminierung, Belästigung und Gewalt, insbesondere sexueller Art. Darauf habe ich einen Schwerpunkt gesetzt in den letzten zwei Jahren.
Ist die UdK Berlin diskriminierungssensibel genug?
Die große Herausforderung ist, dass sich alle – auch ich – immer wieder mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben alle unbewusste Denkmuster, Fallen, in die wir reintappen. Und es ist wichtig, sich unaufhörlich selbstkritisch zu hinterfragen. Innerhalb der UdK Berlin werden bei Studierenden wie Lehrenden Themen wie Rassismus oder Gendervielfalt breit diskutiert. Dieser Prozess hört einfach niemals auf. Und das ist anstrengend.
Wenn wir uns etwa unsere Stadt angucken: Berlin ist sehr divers. Aber bis wohin tragen wir das? Meine Perspektive ist natürlich immer die Geschlechterverteilung bis hoch zu den Lehrenden und Professorinnen. Wie viele Frauen haben wir da?
Aber man kann natürlich auch fragen: Wie divers sind wir nach anderen Kriterien? Sind wir zu weiß? Haben wir genug internationale Lehrende? Bilden wir eigentlich ab, was einerseits die Studierenden sind, was andererseits aber auch Berlin ist? Wie sind unsere Zugänge bei Bewerbungsverfahren und Aufnahmeprüfungen? Damit beschäftigen sich auch einige Initiativen aus der UdK Berlin. Aber es gibt eben noch viel zu tun. Das ist ein weites Feld.