Berlin: Zwei Leben im Sand
Das Strandbad Wannsee wird 100. Max Stehlin und Karl Heinz Clajus haben mehr als 80 Jahre davon erlebt – und erlitten
Ihre Freundschaft hält jetzt 83 Jahre. „Mensch, Max“, begrüßt ihn Karl Heinz Clajus auf der Schwelle. Max Stehlin, 86, war Schwimmmeister am Wannsee. Im Grunde ist er es immer noch. Er wohnt nach wie vor in der ehemaligen Dienstwohnung im Strandbad, die einst sein Vater, ebenfalls Schwimmmeister, 1924 zugewiesen bekam. Karl Heinz Clajus, 87, ist der Sohn des ersten Strandbaddirektors vom Wannsee. Hermann Clajus, einst SPD-Stadtverordneter, hat sich wie kein anderer für den Ausbau der ehemaligen Freibadestelle zum Volksbad verdient gemacht. Als die Nazis ihn am 18. März 1933 absetzen und festnehmen wollten, nahm sich Clajus im Verwaltungsgebäude am Wannsee das Leben.
An jenem Tag trafen sich Max und Karl Heinz um die Mittagszeit am S-Bahnhof Nikolassee. Max war auf dem Heimweg von der Schule, Karl Heinz wollte seinen Vater besuchen. Auf dem Wannseebadweg stießen sie auf den Tischler, SPD-Mitglied wie Clajus’ Vater. Er hatte Tränen in den Augen: „Geh’ nicht ins Strandbad“, sagte er zu Karl Heinz, „dein Vater lebt nicht mehr.“ Der Junge ließ sich nicht davon abbringen und wurde an der Pforte von SA-Wachen zurückgedrängt: „Scher’ dich weg, du hast hier nichts mehr zu suchen.“ Clajus senior konnte es nicht ertragen, das ihm die Nazis sein Lebenswerk nahmen. Clajus junior erhielt Hausverbot.
Dieses Erlebnis verbindet Max Stehlin und Karl Heinz Clajus bis heute. An den Tag, an dem sie sich kennenlernten, erinnern sie sich jedoch nicht. „Unsere Väter haben uns nicht zusammengesteckt oder so“, sagt Clajus. „Das kam einfach beim Spielen“, ergänzt Stehlin. Ihre Väter arbeiteten Hand in Hand, ihre Söhne verbrachten die ganzen Sommer dort. „Das war unser Paradies“, sagt Clajus.
Max hat fast sein gesamtes Leben dort verbracht, mit Ausnahme der Kriegsjahre. Als er zurück war, zweifelten Kollegen, ob der junge Stehlin mit dem Unimog die Strandkörbe aufstellen kann. Der Oberschwimmmeister aber sagte: „Lasst gut sein, der Max war mit Rommel in Afrika. Der weiß, wie man auf Sand fährt.“
Ihre Eltern gehörten zu den ersten, die sich vor 100 Jahren ins Wasser stürzten, nachdem das Baden am Wannsee nicht mehr verboten war. Clajus als Anhänger des Arbeitersports und Wandervogel, Stehlin als erster Schwimmmeister, zusammen mit seinem Vater. Eines der ältesten Fotos vom Wannsee zeigt Familie Stehlin vor ihrem Strandzelt. Max und seine Frau halten es in einem Album in Ehren. Karl Heinz Clajus verwahrt das Foto, das ihn und Max und einen dritten Jungen zeigt – aufgenommen, kurz nachdem sich die Kinder zusammentaten.
Fast täglich nahmen sie kleine Harken in die Hände, um im Sand nach Münzen zu suchen. „Der Eiswagen war immer eine sichere Quelle“, sagt Clajus. In den großen Ferien kamen auch die Kinder-Ferienkolonien an den Wannsee, Arbeiterkinder, zumeist aus den Mietskasernen in Moabit, die Clajus Senior aufzupäppeln gedachte. In seiner Amtszeit klappte das auch. Erst nach der Machtübernahme durch die Nazis war damit Schluss.
Die Jungs von einst erinnern sich auch an die politischen Schlägereien zwischen Nationalsozialisten auf der einen, Kommunisten und Sozialdemokraten auf der anderen Seite um die Hoheit im Strandbad. 1930 ging das schon los. „Einmal haben mein Vater und die Schwimmmeister die Nazis in die Zwingerboxen für die Hunde gesperrt“, erinnert sich Max Stehlin. Karl Heinz Clajus lacht, aber es klingt ein bisschen bitter. Denn für ihn und seine Familie bedeutete der Tod des Vaters einen schweren Schlag. Erst nach 1945 kehrte Familie Clajus ins Strandbad zurück. Mittlerweile lebten sie in einer kleinen Wohnung in Reinickendorf. „Bis wir dann am Wannsee waren, gab es normalerweise keine freien Strandkörbe mehr“, erinnert sich Clajus. Max Stehlin hatte aber vorgesorgt und noch einen Korb freigehalten. „Am Wannsee musste ich immer an meinen Vater denken“, sagt der Sohn, „meine Mutter ist es schwer gefallen, sich dort aufzuhalten.“
Max Stehlin und Karl Heinz Clajus pflegen ihre Erinnerungen und hadern mit der Sanierung, die jetzt zu großen Teilen abgeschlossen ist. Auf der einen Seite freuen sie sich, dass die Gebäude wieder schön aussehen. Auf der anderen Seite tut es ihnen Leid um die vielen hundert Bäume, die gefällt wurden. „Kurz nachdem die Gebäude fertig waren, Anfang der Dreißiger, als rundherum alles kahl war, hat Vater Stehlin gesagt: ,Kannste dir vorstellen, wie’s wird, wenn alles mal wieder bewachsen ist?’ Vater Clajus antwortete: ,Na, da bin ich aber guten Mutes, dass ich das noch erleben darf.’“
Die Bäume wuchsen am Wannsee, ohne dass Strandbaddirektor Clajus das erleben durfte. Jetzt sind sie wieder weg und sein Sohn findet das „hirnrissig“. Trotzdem – das Jubiläum in der kommenden Woche will er sich nicht entgehen lassen.
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