Hilfe für Obdachlose: Zu wenig Raum in der Herberge
Im langen, harten Winter waren die 30 Unterkünfte der Berliner Kältehilfe stark überbelegt. Die Trägerorganisationen fordern die Finanzierung von zusätzlichen Plätzen
Sie ist entwurzelt, und das schon seit Jahren: Dagmar Schröder (Name geändert) fühlt sich nicht als Teil der Gesellschaft. Sie ist nicht mit dem politischen System in Deutschland einverstanden. Es ist ihrer Ansicht nach an vielem Schuld: Daran, dass ihre Tochter als Teenager an einer schweren Krankheit gestorben ist und auch daran, dass sie selbst schon so lange keine Wohnung findet und sie kein Einkommen hat. Dagmar Schröder, eine eher kleine Frau mit grauem Kurzhaarschnitt in Strickjacke und Jeans, ist seit 2009 obdachlos. Wenn man mit der eloquenten Mittfünfzigerin spricht, merkt man schnell, dass sich ihre Sätze zwar gut anhören, aber oft für Außenstehende keinen Sinn ergeben. Die kalten Winternächte hat sie in der Einrichtung "Evas Haltestelle" verbracht, wo Frauen ohne festen Wohnsitz einen Schlafplatz in einem Doppelstockbett oder auf einer Klappliege finden. Rund 70 Frauen nutzten in diesem Winter das Angebot. Allerdings gibt es nur sieben reguläre Übernachtungsplätze, meist werden aber noch Frauen zusätzlich in den engen Räumen der kleinen Einrichtung untergebracht. Zu 110 bis 120 Prozent war sie stets ausgelastet. In diesem Winter war zu beobachten, dass immer mehr Frauen unter den Obdachlosen sind.
Auch die meisten anderen der 30 Einrichtungen der Berliner Kältehilfe waren den Winter über ständig überfüllt: Berlinweit stehen 422 Plätze pro Nacht zur Verfügung, die mit je 15 Euro von Senat und Bezirken finanziert werden. Im Schnitt übernachteten aber 470 Obdachlose in den überfüllten Unterkünften. Vom 1. November bis 31. März zählte die Kältehilfe knapp 71 000 Übernachtungen. Für rund 64 000 Übernachtungen sind die Unterkünfte aber eigentlich nur ausgelegt. Vertreter der Kältehilfe forderten deshalb am Montag Senat und Bezirke auf, rund 80 zusätzliche Schlafplätzen für Obdachlose im kommenden Winter zu ermöglichen. Die Zustände seien teils katastrophal, heißt es etwa bei der Berliner Stadtmission. "Wir sind überhaupt nicht zufrieden mit den Zuständen, die Überbelegung ist eine Zumutung für Gäste und Mitarbeiter", sagt Karen Holziger von der Berliner Stadtmission, die an der Leerter Straße die größte Unterkunft der Stadt anbietet. Dort ist eigentlich nur Platz für 60 Menschen, in diesem Winter hätten dort jedoch dicht gedrängt bis zu 160 Obdachlose übernachtet, sagt Ortrud Wohlwend von der Stadtmission. Wegen des Wetters hat die Kältehilfe ihren Einsatz erstmals um zwei Wochen bis Mitte April verlängert. "Das muss man sich für unsere haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter so vorstellen, als wären sie schon einen Marathon gelaufen und müssten jetzt noch zehn Kilometer dranhängen", sagt Ortrud Wohlwend. Auch sie kritisiert die Zustände in den Notunterkünften: "Es geht ja eigentlich nicht nur darum, dass die Menschen nicht erfrieren, sondern auch darum ihnen Zuwendung zu geben. Das können wir aber bei diesen Zahlen nicht leisten."
Offiziell gab es in diesem Winter einen Kältetoten. Doch einige Experten sind sich nicht ganz sicher, ob man nicht noch andere Todesfälle hinzuzählen sollte: "Es gibt Menschen, die sterben erst Tage später an den Folgen der Kälte im Krankenhaus", sagt die Kältebusfahrerin Susanne Krüger. Sie habe so einige Menschen mit dem Bus eingesammelt, denen es sehr schlecht ging. Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission Zoo, berichtet von einem 48-Jährigen, der regelmäßig, aber nicht allzu oft in seine Einrichtung kam. "Erst hatte er eine schwere Erkältung, die wurde dann zur Lungenentzündung, weil er keinen Ort hatte, um sie auszukurieren und nach fünf Tagen im Krankenhaus starb er daran", erzählt Puhl. Für ihn ist dieser Mann auch eine Art Kältetoter. Viele würden trotz Kälte die Nacht lieber draußen als in den überfüllten Unterkünften verbringen, weil sie Krätze und Agressionen fürchten, sagt Dieter Puhl: "Wir haben jeden Abend im Winter rund 15 Schlafsäcke für die Nacht an Menschen verliehen, die trotz eisiger Temperaturen lieber draußen übernachten wollten." Wenn mehr Plätze zur Verfügung stünden, würden auch mehr Obdachlose sie in Anspruch nehmen, sagen viele Vertreter der Kältehilfe. Etwa 10 000 Wohnungslose gibt es in Berlin, Schätzungen zufolge leben mindestens 2000 davon tatsächlich auf der Straße, es gibt aber keine offizielle Statistik.
Ulrike Kostka, Diözesancaritasdirektorin, wertet es zwar als Erfolg für die Kältehilfe, dass niemand auf der Straße erfroren ist, weil er keine Notunterkunft gefunden hat. "Aber wir können die gesundheitlichen Folgen des besonders harten Winters für Menschen, die auf der Straße leben, noch nicht abschätzen. Die lange Kälteperiode hat sie auf jeden Fall belastet."
Dagmar Schröder hat zwar keine gesundheitlichen Schäden in diesem Winter davongetragen. Aber sie muss sich bald einen anderen Schlafplatz suchen. Ab Mitte April schließt "Evas Haltestelle" bis zum nächsten Winter. Zur wärmeren Jahreszeit bleibt nur eine Übernachtungseinrichtung speziell für Frauen geöffnet.
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