Gute Idee einer Kreuzbergerin: Zehn Jahre Myfest: Anfang vom Ende der Mai-Randale
Wir haben Hoffnung organisiert, sagt Silke Fischer. Sie brachte in Kreuzberg alle an einen Tisch: Geschäftsleute, Nachbarn, Jugendliche und Polizei. Es war der Anfang vom Ende der Traditionsrandale am 1. Mai.
Wenn die Sonne so quer über den Platz scheint, die Lichttupfer im bewegten Schattenspiel der Blätter über das Pflaster hüpfen, bis die Gäste vorm Kuchen-Kaiser blinzeln, dann ist das Tränengas ganz fern. Das Café ist eine Institution seit 1866, als hier noch der Luisenstädtische Kanal existierte und das neue, bürgerliche Kreuzberg rund um den Oranienplatz sich repräsentatives Gepränge gab. Es hat große Zeiten erlebt als Kuchenlieferant für Berühmtheiten der Kaiserzeit und ebenso die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges erlitten.
Sehr viel später hat das Café wieder Krieg erlebt, jedes Jahr am 1. Mai. Dann wurden die Tische reingeräumt und die Scheiben verrammelt mit groben Holzplatten. An diesem 1. Mai werden die Menschen aber wieder vor Kuchen-Kaiser in der Sonne sitzen. Über den O-Platz wird die Musik der Bands schallen, die bis tief in der Nacht auf der Bühne stehen. Vielleicht sitzt dann auch Silke Fischer wieder hier, die vor genau zehn Jahren mit einer guten Idee den 1.Mai-Krawall besiegt hat.
„Stress braucht hier keiner“, sagt die resolute, blonde Kellnerin bei Kuchen-Kaiser, „wir wollen doch alle Spaß haben.“ Seit 15 Jahren arbeitet sie hier und kann sich noch erinnern, wie sich früher Verletzte und Verängstigte in das Café flüchteten, während draußen der Straßenkampf tobte. 1987 wurde jene unselige Tradition begründet, als der legendäre postalische Zustellbezirk „Südost 36“ erstmals eine Nacht der Gewalt erlebte, als Feuerwehrautos angesteckt wurden und der Supermarkt „Bolle“ am Görlitzer Bahnhof niederbrannte. Jetzt gibt es am 1. Mai im Café lediglich den Kampf um jeden freien Tisch.
„Nie wieder Krieg in Kreuzberg“, das hatte sich Silke Fischer vor über zehn Jahren vorgenommen. „Gegen Krieg“, sagt die schlanke Frau, „sind wir Hausbesetzer doch auf die Straße gegangen.“ Aber Jahr für Jahr hat sie miterleben müssen, wie der Kiez kaputtgeschlagen wurde und die Anwohner in „Geiselhaft“ genommen wurden im Namen eines angeblich antikapitalistischen Kampfes.
In Kreuzberg hat das ehemalige Heimkind Silke Fischer aus Rheinland-Pfalz ihre Heimat gefunden. Sie hat im „Kuckuck“ gelebt, dem „Kunst- und Kulturzentrum Kreuzberg“, einem in Besetzerzeiten Anfang der 80er Jahre auch über Berlin hinaus bekannten Künstlerprojekt. Später hat Fischer geholfen, etliche jener Institutionen aufzubauen, denen „36“ sein spezielles Flair von Toleranz und Kreativität verdankt. Jahrelang hat sie beim Punklokal „SO 36“ mitgemacht, dann bis zum Mauerfall die Galerie „Interglotz“ betrieben. In der Oranienstraße hat sie ihre beiden Söhne aufwachsen sehen, hier wohnt sie immer noch in einem ehemals besetzten Haus.
Der Anfang vom Ende der Gewalt kam mit dem „Myfest“, das es nun seit 2003 gibt. Silke Fischer, die das Straßenfest sieben Jahre lang organisierte, hat viel dazu beigetragen, dass diese bittere Tradition gebrochen wurde und heute nicht mehr Horden von autonomen Landsknechten mit Schraubenziehern das Kopfsteinpflaster aufreißen, um die Steine auf Polizisten und Passanten zu schleudern. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Polizei den Kiez tagelang in eine Hochsicherheitszone verwandelte, wo man nur mit Ausweiskontrolle über den „Kotti“ laufen konnte. Oder Kreuzberg am 1. Mai gleich ganz abgeriegelt wurde, wie es der CDU-Innensenator Wilhelm Kewenig probierte – und besonders heftige Gewaltausbrüche erntete.
Silke Fischer ist eine zurückhaltende Frau, sie scheut die großen Worte. Weil sie unter dem sinnlosen Ritual litt, das „Nachbarschaft und Demokratie zerstörte“, kam sie auf die Idee, dass die Anwohner mit einem „Myfest“ ihre Straßen wieder zurückerobern sollten: Wo nur Friedfertige feiern, ist kein Platz für Gewalt. „Reclaim the street“, der autonome Kampfspruch, wurde da einfach mal umgedreht. „Wir haben Hoffnung organisiert“, sagt sie rückblickend.
Wie es gelang die Randalierer zurückzudrängen
Ein fernes Echo sind die verblassenden Farbspritzer auf der Fassade des Hauses in der Oranienstraße. Darunter das alteingesessene Geschäft „Hong Kong“, das nicht nur wegen des weitgespannten Sortiments „Uhren – Parfümerie – Souvenirs“ irritiert, sondern weil es den Berlin-Hype auf eine merkwürdige Weise zu ironisieren scheint. Ist aber bierernst gemeint, wenn man das über die türkischstämmige Ladeninhaberin sagen darf, die am 1. Mai auf dem Hof hinterm Laden eine alkoholfreie Teeparty veranstalten wird. Ach was, sagt sie auf die Frage, ob die Scheiben verrammelt werden: Hier passiert nichts. Ihr Mann, der ebenfalls türkische Wurzeln hat, wird am CDU-Stand stehen, zusammen mit Kurt Wansner.
„Dass es friedlicher geworden ist, dabei hat das Myfest schon eine Rolle gespielt“, sagt der glatzköpfige CDU-Abgeordnete Wansner, der den Kiez schon bestens kannte, als die autonomen Gentrifizierungskritiker noch im elterlichen Wohnzimmer in westdeutschen Vororten hockten. Das Myfest „war keine falsche Idee“, urteilt Wansner, der im alternativ geprägten Kreuzberg der Bannerträger einer konservativen Minderheit ist. Der gezwirbelte Satz ist schon ein hohes Lob. Schließlich ist sein Verhältnis zur Myfest-Erfinderin Silke Fischer „sicherlich nicht das beste“, wie er zugibt. Da spürt man noch die tief verwurzelten Kreuzberger Kulturgrenzen zwischen dem strammen Konservativen und der ehemaligen Hausbesetzerin. „Die Präsenz der Menschen auf den Straßen ist entscheidend, dass es friedlicher geworden ist“, sagt Wansner.
Anfangs war es schwer, die Traditionsrandale zurückzudrängen. Im ersten Jahr waren es wenige Mitstreiter und ein paar Bühnen. Nur einige Kneipiers machten mit und eine Handvoll Mieter wagte es, ein Sofa auf den Bürgersteig zu stellen oder einen Getränkestand aufzubauen. Kein einziger Ladenbesitzer traute dem Frieden, alle verrammelten wie gewohnt die Schaufenster.
Lange her. An diesem 1. Mai werden viele Geschäfte offen haben, auf 17 Bühnen wird es Programm und Musik geben, die Oranienstraße verwandelt sich zwischen „Café Alibi“ und „Roter Harfe“, Modeläden und „Zentralrad“ wieder in eine Flaniermeile für zehntausende Feiernde. Und wenn alles gut geht, wird es noch ein wenig friedlicher zugehen als letztes Jahr.
Doch der Erfolg hat nicht nur eine Mutter, sondern auch Väter. Einer ist der frühere Innensenator Ehrhart Körting (SPD). Ein anderer der 2012 pensionierte Polizeipräsident Dieter Glietsch. Denn die Rückgewinnung der Straße durch die Friedfertigen hätte nicht geklappt, wenn Senator Körting dem Myfest und seiner Organisatorin nicht einen Vertrauensvorschuss gegeben hätte – obwohl er anfänglich sehr skeptisch war. Die Furcht von immer weiterer Eskalation sei letztlich entscheidend gewesen, im damaligen rot-roten Senat über das Projekt „Myfest“ zu sprechen und auch die Polizeiführung einzubinden. Schließlich bekam Silke Fischer grünes Licht und auch ein wenig Geld. „Für das Gelingen des Myfests ist entscheidend gewesen, die verschiedensten Akteure und Gruppen aus Kreuzberg an einen Tisch gebracht zu haben“, sagt Körting heute. „Das ist das Verdienst von Silke Fischer.“
Körting stärkte auch Polizeichef Glietsch den Rücken, das Wagnis einer neuen Strategie einzugehen. Es war ein Risiko, auf Deeskalation zu setzen, nur einzelne Beamte Streife laufen zu lassen, als möglichst zivil auftretende Ansprechpartner, und die Einsatzhundertschaften unsichtbar und weitab auf Hinterhöfen zu verstecken: Das Konzept der ausgestreckten Hand – die Polizei als Dialogpartner für die Friedfertigen und gezielte Festnahme von Gewalttätern – hat aber entscheidend dazu beigetragen, falschen Solidarisierungen mit Gewalttätern wegen ungerechtfertigter „Bullengewalt“ den Boden zu entziehen. Zuvor war SO 36 am 1. Mai jeweils Aufmarschgebiet einer martialisch aufgerüsteten wie provokant auftretenden Polizeitruppe, die bei Steinwürfen wahllos auf die Menge einschlug. Manche alternativ-bewegte Kreuzberger sagen, erst die neue Strategie der Polizei habe den autonomen Spruch – „ohne Bullen kein Krawall“ – als Lüge entlarvt. Erst dies habe eine persönliche Distanzierung gegenüber den Gewalttätern ermöglicht.
"Kreuzberger Jugendliche träumen nicht mehr davon, Autos anzuzünden"
Aber erst mal wurde es noch schlimmer. Weil die Deeskalationstrategie 2003 krachend schiefging, erntete der Innensenator Rücktrittsforderungen von der Opposition und böse Kritik aus der Polizeigewerkschaft. Krawall-Kids posierten schon am frühen Abend vor brennenden Autos, und Chaoten zerlegten eine Stunde lang ein Autohaus, ohne dass die ortsunkundigen Beamten aus Rheinland-Pfalz eingriffen, weil sie Deeskalation als Untätigkeit missverstanden. Trotzdem hielten Körting und Glietsch an der Deeskalations-Strategie fest.
Auch wenn diesmal erneut 7000 Beamte im Einsatz sein werden – der 1. Mai hat seinen Schrecken verloren. „Trotz aller Rückschläge hat sich diese Strategie bezahlt gemacht“, sagt Körting. Er wundere sich heute jedenfalls, wer alles das Konzept erfunden haben will, spottet der heutige Anwalt. Auch anderes zeigte Wirkung. Gespräche des Innensenators mit Vertretern der arabischen und türkischen Community trugen dazu bei, dass Jugendliche weniger als Krawallkids unterwegs, dafür zunehmend beim Fest präsent waren, wo sie sich auf den Bühnen probieren konnten. Abschreckend wirkte auch, dass die Justiz Steinewerfer deutlich härter als vorher bestrafte. Den Umschwung unterstützte zudem, dass sich die Bevölkerungsstruktur im Kiez veränderte, immer mehr Familien, besser Verdienende und Akademiker hinzukamen.
Silke Fischer sagt, ihre Myfest-Idee sei 2003 offenbar zur rechten Zeit gekommen. Entscheidend war, dass sie die randalemüden Anwohner aktivieren konnte. Wie es nicht geht, hatte ein Jahr zuvor der FU-Professor Peter Grottian gezeigt. Er wollte gemeinsam mit der radikalen Linken und den Autonomen ein politisches Konzept für den 1. Mai entwickeln, um so Randale einzudämmen. Vergebens – am Ende zog Grottian sich zurück, nachdem Autonome ihn als Verräter gebrandmarkt und sein Auto angesteckt hatten. „Peter Grottian fährt wieder Straßenbahn“, skandierten Autonome auf Kiezversammlungen triumphierend.
„Das ist schon gut, dass heute ein festlich gestimmtes Volk dagegenhält, wenn Leute Randale machen wollen“, sagt Stefan Ulrich über die veränderten Zeiten. Er ist der Nachfolger von Silke Fischer und charakterisiert sich als „trockenen Organisator“. Zur Arbeit seiner Vorgängerin will er nichts sagen. Wenn er von der „optimierten“ Myfest-Organisation mit einer „großen Crew“ spricht, in der nicht einer entscheidet, sondern alle sich und ihre Meinung einbringen können, dann kann man das aber durchaus als leise Kritik an Fischers Stil verstehen.
Bereut hat es die Myfest-Gründerin nicht, dass sie nach dem Mai 2009 ausgestiegen ist. Sie hatte das „Myfest“ ohnehin viel länger organisiert als anfänglich gedacht. „Gewalt erzeugt Ohnmacht und Intoleranz“, so hat es Silke Fischer erfahren, die jahrelang Kreuzberger SPD-Kreisvorsitzende war und auch Leiterin des Büros für Integration und Migration bei der Polizei. Mit dem Wort „Befriedung“ hat sie keine Probleme – Befriedung sei schließlich eine Grundlage einer Demokratie, wo es um Ausgleich und Zuhören gehe. Heute ist ihr das Myfest eigentlich zu viel Party und Geschäft und zu wenig politisch. „Aber das Wichtigste ist, dass es das Fest gibt.“ Hat sich der jahrelange Einsatz für das Myfest gelohnt? „Die Kreuzberger Jugendlichen träumen nicht mehr davon, Autos anzuzünden, sondern davon, am 1. Mai selbst auf der Bühne zu stehen“, sagt sie, das sei doch ein Erfolg. Und auf ganz besondere Weise wird sie beim Fest doch ziemlich präsent sein: Um 18 Uhr soll von allen 17 Bühnen eine politische Erklärung verlesen werden, gegen die neue Gewalt, die von der Gentrifizierung, vom Antisemitismus und Rassismus ausgeht – aufgeschrieben hat sie Silke Fischer.
Gerd Nowakowski