Polizisten und Problemkinder spielen zusammen Fußball: "Yalla, Feedback!"
Im Kampf um die Straße standen sie sich lange unversöhnlich gegenüber. Heute spielen Jugendliche aus Weddinger Problemkiezen und Polizisten zusammen Fußball. Weil einer von ihnen freiwillig zur Wache ging. Die Geschichte einer Annäherung.
Die Blicke der Leute an der Ampel sagen schon alles. Erster Blick: Normalität. Zwei Wannen mit einem Dutzend dunkelhaariger Jugendlicher hinten drin auf ihrem Weg durch den Weddinger Feierabendverkehr. Okay, haben sie wohl gleich eine ganze Gang einkassiert. Dann der zweite Blick: klare Verwunderung. Warum, fragen sich die Leute, sitzen sie da auch auf der Vorderbank, die Basecaps schief auf dem Kopf, und plaudern friedlich mit den Polizisten am Steuer?
Sie fahren zum Fußball. Alle zusammen. Die Beamten in ihren blauen Uniformhemden und die Jungs in ihren Nike-Klamotten. Eher unbekannt hier. Ist nicht vorgesehen, wenn alles normal läuft. Normal heißt im Wedding: Die Kids machen Probleme. Die Cops laufen ihnen hinterher. Das tägliche Spiel. Wer fängt wen. Räuber und Gendarm. Geplaudert wird eher nicht.
Auch Yousef Ayoub hat immer nur von außen auf die Polizeiwagen geblickt, skeptisch, wie die meisten, mit denen er aufgewachsen ist, in der Soldiner Straße. Polizei, das bedeutete Stress, schier zwangsläufig. Ein Bild von früher hat Yousef Ayoub immer noch im Kopf: Wie eine Horde Polizisten in voller Montur aus dem Mannschaftswagen springt. „Springt“, wiederholt er, nicht steigt. Wie Krieger vor der Schlacht. „Immer wieder habe ich mich gefragt: Warum seid ihr so? Wie geht ihr mit Kindern um?“, sagt Ayoub. „Heute weiß ich, dass sie selbst Angst hatten.“
"Wir sind alle Menschen"
Das Verhältnis zwischen den beiden Seiten war eigentlich immer ein Nicht-Verhältnis. Bis vor vier Jahren. Da steht Yousef Ayoub schließlich selbst vor der Wache, ein Septembertag im Jahr 2009, er weiß es noch genau. Vor diesem hohen, abweisenden Neubau mit seiner harten Fassade, Pankstraße 29, Direktion 3, Abschnitt 36. Yousef Ayoub ist nervös, er kennt das Risiko, aber dann geht er doch die Stufen hinauf. „Der Beamte hinter der Glasscheibe hat mich mit großen Augen angeschaut“, sagt Ayoub. Dann schickt er ihn ins 4. OG.
Dort fragt ihn der Polizeihauptkommissar Carsten Prenzel als erstes: „Wie stellen Sie sich das vor?“ Und Ayoub fängt an zu erklären. Er weiß da noch nicht, dass er bei Prenzel offene Türen einrennt.
„Wir sind alle Menschen“, sagt Yousef Ayoub. „Wir brauchen alle Liebe und Geborgenheit, eigentlich, das glaube ich ganz fest.“ Die Wannen haben ihr Ziel erreicht, den Parkplatz vor dem alten, dunklen Gebäude in der Moabiter Kruppstraße, der Polizeisporthalle, in deren Foyer die Ehrentafeln hängen: „Errungene Polizei-Meisterschaften von den Angehörigen der II. Abteilung, 1963-1972“. Ayoub sitzt auf einer Holzbank in der Halle im ersten Stock und schaut den Jungs beim Aufwärmen zu. Mit Wucht schießen sie die ersten Bälle aufs Tor, laut klatschen sie an die Hallenwand oder an den Pfosten. Kaum einer ist schon 18, aber ein paar Oberkörper sind schon so definiert, wie es nur tägliches Krafttraining kann, andere dagegen sind so schmächtig, dass ihnen die Hemden um die Oberkörper schlackern. An der rot-weißen Torlatte liefern sich zwei die Idee eines Klimmzugwettbewerbs, schon nach zwei, drei Zügen lassen sie sich wieder auf die Füße fallen. Antäuschen, fintieren, auf keinen Fall zu viel von sich zeigen. Das Leben als Boxkampf.
„Ich war genauso wie sie“, sagt Ayoub. „Ich kann mich gut hineinversetzen in das, was in denen vorgeht.“ Wenn Yousef Ayoub spricht, ruhig und klar, sanfte Stimme, klingt er wie ein Diplomat. Ayoub ist 29, er trägt ein feines Bärtchen um den Mund, seine Haare sind an den Seiten kurz rasiert und schon ein bisschen grau. Er schaut einen durch seine schmale Brille an. Ein fester Blick, aber ohne Härte.
Auch Yousef Ayoub ist durchs Raster gefallen, als er in dem Alter war, in dem sich die Dinge das erste Mal entscheiden, mit 17, 18, er strandet in der Arbeitslosigkeit, ohne weiterführenden Abschluss, wie die allermeisten um ihn herum. Er, der Sohn palästinensischer Eltern, aufgewachsen zunächst in Kreuzberg, zehn Personen in zweieinhalb Zimmern, dann eben im Soldiner Kiez, kommt in der Schule nicht mit, liest, wenn er drankommt, Buchstabe für Buchstabe vor, ohne die Bedeutung der Wörter zu erfassen. Das System Bildung erklärt ihm nie einer. „Was ich lange nicht verstanden habe“, sagt Ayoub: „Um in dieser Gesellschaft etwas erreichen zu können, musst du eine Qualifikation erlangen. Ohne Abschluss bist du nichts.“
Verhärtete Fronten, viel hässliche Gewalt
Doch in Yousef Ayoub ist da immer auch ein anderes Gefühl, so etwas wie eine Idee, eine Richtung. Vage zunächst, aber dennoch nicht wegzukriegen. Er will helfen, dass sich was verbessert. Mit Kindern arbeiten. Mit Anfang 20 fängt er beim Kinder- und Stadtteiltreff der Jugendhilfe „casablanca“ an, erst als AB-Maßnahme, dann als Praktikant, dann als Honorarkraft. Langer Weg nach oben. Ayoub holt seinen Realschulabschluss nach, macht eine Ausbildung zum Sozialassistenten, erreicht schließlich an der IB-Hochschule den pädagogischen Status. „Die Lehrer dort“, sagt er, „waren die ersten, die mir gezeigt haben, dass es doch geht. Dass man auf die Kompetenzen eines Menschen eingehen kann.“
Der Weddinger Alltag ist ein anderer. „Die Fronten waren total verhärtet“, sagt Carsten Prenzel, Polizeihauptkommissar, Leiter der 4. Dienstgruppe im Abschnitt 36. Zuständigkeit: Soldiner Kiez, Nauener Platz. Prenzel ist ein Mann von wuchtiger Statur, der nicht um unangenehme Dinge herumredet. „Es gab viel hässliche Gewalt“, sagt er, Gewalt, die in der Silvesternacht vor fünf Jahren kulminiert. Da rücken 20 Beamte aus, in die Biesentaler Straße, weil dort Jugendliche mit Schreckschusswaffen und Raketen auf Autos schießen. Als die Polizei auftaucht, wird es nicht besser. „Wir hatten Beamte, die sind da massiv angegangen worden“, sagt Prenzel. 100 zu 20, das ist das Kräfteverhältnis zugunsten der Straße, deren ganzer Hass sich entlädt in dieser Nacht.
Ein Dreivierteljahr später dann sitzt Ayoub oben über der Pankstraße, in Prenzels Dienststube, und sagt, es könne sich was verändern. Man könne doch über alles reden. Müsste man sogar. Viel reden. Mit beiden Seiten. „Kiezbezogener Netzwerkaufbau“, so hat Ayoub seinen Verein genannt, aber eigentlich ist es Beziehungsarbeit. Wie bei einem Ehepaar, das sich total zerstritten hat. Oder zwei Nachbarn, deren Kleinkrieg sich hochgeschaukelt hat bis zur Eskalation.
In der Halle sind die Mannschaften gewählt, die eine hat sich blaue Leibchen übergezogen. Der anderen fehlt ein Torwart. „Na dann geh' ich rein“, sagt Prenzel, schnallt sich seinen Dienstgürtel ab, lässt ihn am Seitenrand in der Obhut seines Kollegen und stapft rüber ins Tor. Auf der Gegenseite steht schon ein anderer Beamter im Kasten. Manchmal machen sie auch nur Zirkeltraining, Schnellkraft, bis an die Grenze der Erschöpfung. Heute wird Fußball gespielt.
Wie bringt man die Geduld auf, das Unmögliche anzupacken? „Man darf niemals denken, etwas ist unmöglich“, antwortet Ayoub. „Das habe ich mir immer eingeprägt, das war einfach in mir drin. Ich bin ein Mensch, der nicht aufgibt.“ Als Vorbild dient ihm einzig der Vater, der als Kellner bis spät in die Nacht schuftet, um die Großfamilie irgendwie durchzubringen. „Andere Vorbilder“, sagt er, „gab es bei uns nicht. Leider.“ Vielleicht ist ja auch das sein Antrieb: Vorbild zu sein.
"Das kann man gar nicht in Worte fassen!"
„Gerade mit den hoffnungslosesten Fällen sollte man anfangen“, sagt Ayoub. Mit den Intensivtätern, die selbst in den Jugendclubs schon Hausverbot haben und auch in der Schule spätestens in der zweiten, dritten Stunde rausfliegen. Gebt uns einen kleinen Raum im Keller, sagt Ayoub den Clubs, und bekommt ihn schließlich. Dort fängt er an mit seiner Überzeugungsarbeit. Irgendwann hat er beide Seiten soweit. Die Polizei stellt einmal die Woche ihre Halle zur Verfügung, Ausnahmegenehmigung, und Ayoub organisiert die Spieler, zusammen mit den verschiedenen Jugendeinrichtungen im Kiez. Einmal im Jahr gibt es außerdem ein großes Turnier, 70 Teilnehmer gab es beim letzten Mal. Einem, der nach Jahren im Gefängnis alles, bloß keine Uniformen mehr sehen will, muss er mehrmals gut zureden, bevor er endlich zu einem der Trainings mitkommt. „Er hat keine Hantel angefasst“, sagt Ayoub, „er hat eine Stunde lang nur mit einem Polizisten geredet.“
Das Spiel ist in vollem Gange. Knallbunte Turnschuhe wirbeln übers Parkett. Gewagte Dribblings, Abspiele in letzter Sekunde. Hohe Qualität, viel Laufbereitschaft. Das Offensichtlichste aber fällt einem zunächst gar nicht auf. Es bleibt alles ruhig. Keine Schreierei, weniger harte Fouls als bei so manchem Feierabendkick unter Gutbürgerlichen. Yousef Ayoub nickt zufrieden. „Am Anfang mussten wir alle drei bis fünf Minuten das Spiel abbrechen, alle auf die Bank setzen und mit ihnen reden. Sie sind echt einen gewaltigen Schritt nach vorne gegangen“, sagt Ayoub. „Das kann man gar nicht in Worte fassen.“
Die Zeit ist um, das Spiel für heute vorbei, Ayoub versammelt die Jugendlichen auf der Bank. „Okay, Feedback-Runde.“ Ein paar tanzen aus der Reihe, setzen sich in die letzte Ecke oder laufen kreuz und quer. „Yalla, Feedback!“, ruft einer. Gelächter. Ayoub wartet geduldig. Dann geht er die Reihe durch, von ganz links bis ganz rechts, einer nach dem anderen muss sagen, wie es ihm gefallen hat.
Feedback-Runde, ein gewaltiger Akt
Es gibt vor allem zwei Gruppen: Die, die kaum den Mund aufbekommen, die so leise reden, dass man sie kaum hört. „Ich fand den Tag angenehm“, flüstert einer Richtung Hallenboden. Die anderen, das sind die Sprücheklopfer. „Es hat mich zutiefst berührt“, sagt einer sarkastisch. „Boah, ich bin heißer als Sauna“, ein anderer. Es scheinen zwei Symptome der gleichen Sache zu sein: Das hier sind alles Jungendliche, denen nie einer richtig zugehört hat. Mit denen keiner normal geredet hat. Deren ungestillter Durst nach Aufmerksamkeit sich also in zwei Extreme gewandelt hat: Brüllen. Flüstern. Dazwischen ist wenig. Ayoub aber hört allen zu. Beharrlich. Keinen lässt er aus. Zum Abschluss sagt Kommissar Prenzel: „Ich würde euch heute hier ohne Bedenken alleine spielen lassen – weil ihr eure Probleme ohne Pöbeleien lösen könnt.“ Die Jungs grinsen.
Als sie in der Kabine sind, sagt Ayoub: „Für sie ist die Feedback-Runde ein gewaltiger Akt, eine riesige Überwindung, über ihre Gefühle zu reden.“
Die Treppe vor der Sporthalle. Feuerzeuge klicken. Die Zigarette danach. Das abschließende Fazit zwischen zwei Zügen: „Klar ist es gut, sonst wären wir nicht hier. Ist doch viel besser als in der Zeit draußen zu sein und nichts zu machen. 80 Prozent von uns würden sonst in der Freizeit kein Fitness machen.“ Dann noch die schlimmste Sportreporterfrage: Wie fühlt ihr euch? „Man ist erleichtert. Erleichtert, weil man kaputt ist.“
Dann steigen alle ein. Die grün-weißen Wagen setzen sich wieder in Bewegung, es geht zurück in den Wedding, zurück ins so genannte Ghetto.
Dem Autor Johannes Ehrmann auf Twitter folgen: @johehr
Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.