Vogelflug in Berlin und Brandenburg: Wohin ziehen die Vögel?
In Berlin und Brandenburg hat die Vogelzug-Saison begonnen. Ornithologen wie Franco Ehlert beobachten das Verhalten der Tiere.
Das Schilfrohr raschelt im Wind, es ist so hoch gewachsen, dass Franco Ehlert komplett darin verschwindet. Der 62-Jährige tastet sich Schritt für Schritt zu einer kleinen Holzhütte vor, die im braun-grünem Herbstgras kaum auffällt. Im Häuschen setzt sich Ehlert leise auf einen Hocker. „Wenn man sich ruhig verhält, kommen die Vögel von ganz alleine“, flüstert er und wartet.
Franco Ehlert ist Nabu-Ornithologe aus Märkisch-Oderland. Als Vogelkundler hat er zurzeit viel zu tun: In Brandenburg hat die Vogelzug-Saison begonnen und damit auch die Hochsaison für Vogelbeobachter. Nach Angaben des Naturschutzbundes verlassen jedes Jahr etwa 50 Milliarden Zugvögel ihre Brutgebiete, 500 Millionen Vögel ziehen durch Deutschland. Eine nicht unerhebliche Anzahl der 352 nachgewiesenen Vogelarten in Brandenburg und Berlin sind Gastvögel aus anderen Ländern, 81 sind Durchzügler und Wintergäste und 87 als sogenannte Irrgäste nur ausnahmsweise in Berlin und Brandenburg.
Tausende Graugänse
In Ehlerts Revier, den Altfriedländer Teichen, sind momentan Tausende Graugänse zu beobachten. Einige sind erst kürzlich gelandet und nutzen das Gebiet im Herbst als Schlafgewässer, auch einige Saat- und Blässgänse hat er schon entdeckt. Ehlert trägt Turnschuhe und einen blauen Pulli, der mit weißen Kranichen bedruckt ist. Um seinen Hals baumelt eine Digitalkamera, unter den Arm hat er Fernglas und Stativ geklemmt.
Ehlert ist einer der wenigen „Schlüsselkinder“ der Altfriedländer Teiche, wie er das nennt. Das bedeutet, dass er uneingeschränkten Zugang zum Teichgebiet hat. Andere Vogelbeobachter können die Tiere an der Fischerei Altfriedland oder mit etwas Abstand von extra erbauten Aussichtstürmen beobachten.
Die Altfriedländer Teiche in Brandenburg sind ein Teil des Europäischen Vogelschutzgebietes Märkische Schweiz (SPA) und ein regelrechtes Vogelparadies. In der Märkischen Schweiz wurden 246 Vogelarten nachgewiesen. Im Herbst nutzen viele Zugvögel die Teichlandschaft als Rastplatz auf dem Flug zu ihren Überwinterungsgebieten.
Faszinierend und rätselhaft
Für die meisten Menschen sind Vogelzüge faszinierende und rätselhafte Schauspiele. Sehnsuchtsvoll fragen wir uns, aus welchen Ländern die Zugvögel stammen mögen, was sie auf ihren Reisen sehen und wo sie den Winter verbringen. Ornithologen wie Ehlert enträtseln das Zugverhalten von Vögel. Um nachzuvollziehen, welche Strecke die Vögel im Laufe ihres Lebens zurücklegen, dokumentieren sie die Aufenthaltsorte der Tiere.
In der Holzhütte positioniert Franco Ehlert routiniert sein Spektiv. Auf halber Höhe befindet sich in der Wand ein längliches Fenster, durch das er die Gänse unbemerkt beobachtet. Durch das Fernglas sucht er nach beringten Vögeln. In einer Gruppe von mehreren Hundert Graugänsen erspäht er eine Gans, die einen gelben Ring um den langen Hals trägt. „Das ist P009“ sagt Franco Ehlert und tippt die Nummer auf geese.org ein.
Daten geben Aufschluss auf Lebensweise der Vögel
Vogelbeobachter in ganz Europa tragen ihre Daten in die Plattformen ein und ermöglichen so erstaunlich genaue Lebensläufe von Zugvögel. Es wird nicht nur das Zugverhalten der Vögel beobachtet. Indem Paare und Jungtiere beringt werden, geben die Daten auch Aufschluss auf die Lebensweise von Vögeln. Auf einer Landkarte ploppen jetzt Dutzende Stecknadeln auf, sie zeigen an, wo P009 schon überall war.
Die Graugans wurde in Kiszkowa in Polen beringt und rastet auf ihrem Weg in die Niederlande bevorzugt in Brandenburg. „Nicht alle Zugvögel fliegen im Herbst von Nord nach Süd“, erklärt Ehlert die Ost-West-Route der Graugans P009. Durch die Ablesung von beringten Graugänsen aus Ungarn und Tschechien habe er im Herbst schon Teilzüge von Süden nach Norden entdeckt.
Um Zugvögel zu beobachten, muss man kein Ornithologe sein. In Altfriedland kann jeder, der Lust hat, auf einen Aussichtsturm klettern und Graugänse, nordische Saat- und Blässgänse und in der Abenddämmerung Kraniche erspähen. Wichtig sei, sich möglichst respektvoll und ruhig zu verhalten, um die Vögel nicht zu stören. Laien empfiehlt Ehlert Exkursionen der Naturwacht oder von Naturschutzverbänden, um auch kleineren Zugvögel wie Kiebitz, Kampfläufer und Bekassine zu erkennen.
Eine Leidenschaft
Für Ehlert sind die Vögel längst zur Leidenschaft geworden. Hauptberuflich ist er mit einer Agentur für Handel und Beratung selbstständig und arbeitet als freier Handelsvertreter für eine Fahrzeugfirma. Die übrige Zeit verbringt er draußen bei den Vögeln. Seit vielen Jahren ist er Mitglied im Nabu und im Verein Ornithologie und Vogelschutz Märkische Schweiz.
Er wünscht sich, dass sich in Zukunft mehr junge Leute für die Ornithologie begeistern. „Uns Ornithologen im Verein fehlt der Nachwuchs, sonst sterben wir langsam aus“, sagt Ehlert betrübt. Statt nur im Herbst ab und zu ein Fernglas in die Hand zu nehmen, brauche es mehr Menschen, die Aufgaben übernehmen, indem sie helfen, Schlafplätze für Kraniche und Gänse zu zählen, Kranichreviere in Brandenburg zu erfassen oder die Ablesung von beringten Vögeln zu melden.
In den Altfriedländer Teichen, mit dem Rauschen des Schilfs und dem Geschnatter der Graugänse im Ohr, fühlt man sich den umliegenden Dörfern und der Hektik der Großstadt ganz fern. „Ich kenne keinen Ort, wo ich so gut Ruhe tanken kann wie hier“, sagt Ehlert. Nicht nur für den Menschen, auch für die Zugvögel ist Altfriedland ein Ort der Erholung. Bis es die Vögel weiterzieht. Franco Ehlert bleibt in Brandenburg. Aber er wird mitverfolgen, wohin die Vögel fliegen.
Miriam Dahlinger